Direkt zum Inhalt

News: Ohne Sackgasse kein Erfolg

Es sind nicht die großen, direkten Autobahnen, die in der Evolution zum Erfolg führen, sondern die kleinen, verschlungenen Sträßchen, unter denen auch so manche Sackgasse ist. Schritt für Schritt erwerben sich Organismen so zunehmend komplexere Merkmale - zumindest im Computer.
Die Facettenaugen einer Fliege, das Lochkameraauge eines Nautilus oder das Linsenauge des Menschen, sie alle dienen demselben Zweck: Einen visuellen Eindruck von der Umgebung zu bekommen. Wie aber entstanden solche hochkomplexen Organe im Laufe der Evolution – als Schnellstart, der dann auf die Überholspur führte? Oder langsam, Schritt für Schritt, mit Pausen, Umwegen oder sogar Sackgassen?

Eine Frage, die seit Charles Darwin schon viele Biologen bewegte. Da die Suche nach einer Antwort in der freien Natur äußerst langwierig verlaufen würde, greifen sie zunehmend auf "digitale Organismen" zurück: Computerprogramme, die sich wie im richtigen Leben vermehren, untereinander um Ressourcen konkurrieren, mutieren und so einer Art Selektion unterworfen sind. Und – anders als bei Mutter Natur, in der so manche Fossilienlücke die Interpretation erschwert – hier lassen sich alle Schritte ohne Unterbrechung nachvollziehen.

Richard Lenski und seine Kollegen von der Michigan State University nutzten das Programmpaket Avida, um die Evolution ihrer digitalen Organismen nachzuzeichnen. In dieser virtuellen Petrischale können sich die Beteiligten durch die richtige Lösung mathematischer Gleichungen mehr Rechenzeit ergattern, in der sie sich durch simples Kopieren vermehren. Zufällig eingestreute Fehler im Programmskript sorgen für natürliche Auslese und Weiterentwicklung.

Die Forscher verfolgten, wie viele Schritte beziehungsweise Mutationen im Programmskript der verschiedenen Abstammungslinien auftreten mussten, um die Fähigkeit zu erlangen, eine bestimmte komplexe mathematische Funktion zu lösen. Laut Berechnungen sollten 16 solcher Veränderungen ausreichen – zusammen mit drei bereits vorhandenen Instruktionen. Eine Gruppe schaffte es interessanterweise schon nach 17 Mutationen, die meisten jedoch benötigten etliche hundert.

Dabei zeigte sich, dass jeder einzelne Schritt bis zum Erfolg entscheidend war – auch wenn sie für sich gar nicht so bedeutend wirkten. Denn kehrten die Forscher die Abfolge um und entfernten einzelne Mutationen, erreichten die digitalen Organismen ihre mathematischen Fähigkeiten nicht mehr. Außerdem erwiesen sich einige der aufgetretenen Veränderungen auf den ersten Blick als ganz und gar nicht vorteilhaft, im Gegenteil: Sie reduzierten die Fitness der resultierenden Organismen teilweise um über 50 Prozent. Und doch – gerade die Träger jener Mutationen gingen letztendlich als Sieger hervor, denn sie entwickelten gleich im nächsten Schritt jene Veränderung, die sie schließlich zu den ersten Mathespezialisten werden ließ.

Der Weg zum evolutionären Erfolg verläuft also bei weitem nicht auf direkten Bahnen, sondern ist gespickt mit zahlreichen Pausen, Umwegen und sogar Sackgassen, die sich alle, so klein und geringfügig sie auch erscheinen mögen, als unersetzlich erweisen. Vergleicht man nun die Kompetenz, ein bestimmtes mathematisches Problem zu lösen, mit der Fähigkeit, seine Umgebung visuell wahrzunehmen und die Informationen auch zu verarbeiten, dann wundert es nicht, dass die Milliarden von Einzelschritten ihre Zeit gebraucht haben. Und schließlich hat die Evolution weit mehr vorhergebracht als Augen.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.