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Festkörperphysik: Ohne Widerstand

Es klingt zu fantastisch, um wahr zu sein: Ein Stromversorgungsnetz ohne Leistungsverluste. Hochtemperatur-Supraleiter sollen diesen Traum erfüllen, doch ein Durchbruch hierzu blieb bislang verwehrt. Es fehlt eine theoretische Beschreibung der Hochtemperatur-Supraleitung, die der Suche eine Richtung geben könnte. Die Entdeckung einer neuen Supraleiter-Klasse könnte helfen.
Querschnitt durch ein YBCO-Stromkabel
"Kabel und Drähte, die Strom bei Raumtemperatur ohne Widerstand leiten, wird es eines Tages geben." Lambert Alff hegt hier keinen Zweifel. Wie viele seiner Kollegen sucht der Physiker von der Technischen Universität Darmstadt nach dem Rezept für einen Raumtemperatur-Supraleiter. Die Zutaten hierfür lassen sich bislang jedoch nur erraten.

Durch Ausprobieren haben Forscher immerhin schon supraleitende Keramiken hergestellt, die Strom bei etwa minus 150 Grad Celsius verlustfrei leiten – das ist etwa 100 Grad mehr, als die herkömmliche Theorie der Supraleitung erlaubt.
"Es wird eines Tages Kabel geben, die Strom bei Raumtemperatur ohne Widerstand leiten""
(Lambert Alff)
Deshalb verstehen die Wissenschaftler nicht, warum ihre Keramiken, so genannte Hochtemperatur-Supraleiter, keinen messbaren elektrischen Widerstand haben. Für die neue Klasse von Supraleitern muss eine neue Theorie her. "Aus einer theoretischen Erklärung der Hochtemperatur-Supraleitung könnten wir Baupläne für neue Materialien ableiten und müssten nicht mehr im Dunklen stochern", meint Alff. Dem Entwickler einer solchen Theorie sei der Nobelpreis sicher.

Ein unbekannter Mechanismus

Doch es ist wie verhext: Zwar sind theoretische Physiker nicht verlegen um Erklärungsversuche. Diese unterscheiden sich aber grundsätzlich voneinander, und die Experimentalphysiker können keine Entscheidung herbeiführen: "Es gibt für jede der favorisierten Theorien experimentelle Indizien, die für sie sprechen", erläutert Alff. Die Experten seien ratlos. "Wir haben es mit einem großen Mysterium zu tun“, betont auch Jan Zaanen, Festkörper-Theoretiker von der niederländischen Universität Leiden gegenüber dem Fachmagazin "Nature".

Im Wesentlichen gibt es zwei Lager: Die einen glauben, dass die herkömmliche Theorie der Supraleitung lediglich erweitert werden müsse, um die Hochtemperatur-Supraleitung mit einzuschließen. Die anderen hingegen vermuten, dass hinter der Hochtemperatur-Supraleitung ein gänzlich unbekannter Mechanismus steckt.

Paarweise widerstandslos

Im ersteren Fall könnten sich die Entwickler einer neuen Theorie auf die Arbeit dreier US-amerikanischer Physiker aus dem Jahr 1957 stützen, welche die Supraleitung in Metallen bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt erklärt: John Bardeen, Leon Cooper und John Schrieffer erklärten das Phänomen, dass der Widerstand einiger Metalle bei Unterschreiten einer bestimmten kritischen Temperatur schlagartig auf Null abfällt – 46 Jahre nach der ersten experimentellen Beobachtung.
"Wir haben es mit einem großen Mysterium zu tun""
(Jan Zaanen)
Zuvor hatten Physiker gerätselt, warum im supraleitenden Zustand die Elektronen nicht mehr mit den Unregelmäßigkeiten im Kristallgitter der Metalle zusammenstoßen und dabei an Energie verlieren. Die Theorie von Bardeen, Cooper und Schrieffer (BCS-Theorie) geht davon aus, dass die Elektronen sich unterhalb der Sprungtemperatur zu Paaren verbinden. Und diese so genannten Cooper-Paare können etwas, was einzelnen Elektronen versagt bleibt.

Ihre quantenmechanischen Eigenschaften erlaubt es ihnen, denselben Quantenzustand mit allen anderen Cooper-Paaren des Materials zu teilen. Dieser Zustand erstreckt sich über den gesamten Supraleiter. Einem einzelnen Elektron ist es dabei nicht möglich, aus dem Kollektiv auszubrechen – es verliert seine individuellen Freiheitsgrade. Deshalb lässt es sich nicht mehr an einem bestimmten Ort antreffen und kann somit auch nicht an einer bestimmten Stelle des Supraleiters mit einer Unregelmäßigkeit des Kristallgitters zusammenzustoßen – der Stromtransport erfolgt verlustfrei.

Die BCS-Theorie erklärt auch, wie die negativ geladenen Elektronen ihre gegenseitige Abstoßung überwinden und sich zu Cooper-Paaren verbinden: Die Elektronen tauschen Energie mit den Vibrationen des Kristallgitters aus, die sich wellenartig als so genannte Phononen durch das Metall bewegen. Die Wechselwirkung mit dem Kristallgitter vermittelt eine anziehende Kraft zwischen jeweils zwei Elektronen, welche die ihre Abstoßung überwiegt. Schon in den 1960er Jahren zeigten Experimente, dass die Phononen tatsächlich die Paarung der Elektronen vermitteln.

Der Kleber

Doch bei den Hochtemperatur-Supraleitern versagt dieser Mechanismus: Wissenschaftler um Rolf Heid vom Forschungszentrum Karlsruhe [1] und Steven Louie von der University of Calofornia in Berkely [2] berechneten, dass die durch die Phononen hervorgerufene Anziehung viel zu schwach ist, um die Abstoßung der Elektronen zu überwinden.

Der Befund bedeutet allerdings noch nicht das Aus für die BCS-Theorie zur Erklärung der Hochtemperatur-Supraleitung. Denn in Festkörpern wimmelt es noch von anderen, den Phononen ähnlichen Anregungen, wie etwa magnetischen Wellen. "Es gibt außer den Phononen gewissermaßen noch weitere Arten von Kleber im Festkörper, die die Cooper-Paare zusammenhalten könnten", erläutert Alff. Die BCS-Theorie schreibe keinen bestimmten Kleber vor. Doch weil der Festkörper alle Arten von Anregungen gleichzeitig enthalte, bleibe es sehr schwierig, durch Experimente einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer bestimmten Anregung und der Elektronenpaarung zu beobachten.

Anziehung durch Abstoßung

Andere Wissenschaftler hingegen halten einen solchen Kleber gar nicht für nötig. Zwar kommen auch ihre Denkmodelle nicht ohne eine Elektronenpaarung aus. Aber sie vermuten, dass diese paradoxerweise durch eine besonders starke gegenseitige Abstoßung der Elektronen über der Sprungtemperatur hervorgerufen wird. Die extreme Abneigung der Elektronen untereinander könnte dann deren Beweglichkeit einschränken, wodurch wiederum ihre kinetische Energie ansteigt. Unterhalb der Sprungtemperatur gehen die Elementarteilchen dieser energetisch ungünstigen Situation gewissermaßen aus dem Weg, indem sie sich zu Cooper-Paaren verbinden.

Zwar schlossen Physiker um Alexander Boris vom Stuttgarter Max-Planck-Institut für Festkörperforschung vor vier Jahren experimentell aus, dass dieser Mechanismus in einer bestimmten Keramik wirksam ist [3].
"Die widersprüchlichen Ergebnisse lassen sich nur durch eine neue Theorie vereinbaren""
(Lambert Alff)
Doch jüngst meldeten Forscher um Ali Yazdani von der Princeton University, sie hätten in einer anderen Keramik Hinweise darauf gefunden, dass die starke Abstoßung der Elektronen tatsächlich zu ihrer Paarung führe: Mit einem Rastertunnelmikroskop gelang es ihnen, die Elektronen in der Umgebung einzelner Atome beim Übergang vom normal- in den supraleitenden Zustand zu beobachten. Dabei bildeten die Elektronen, die sich über der Sprungtemperatur am stärksten abstießen, nach Unterschreiten derselben die am festesten gebundenen Cooper-Paare [4].

Eine neue Familie

"Die scheinbar widersprüchlichen Ergebnisse unterschiedlicher Experimente lassen sich wahrscheinlich nur durch eine gänzlich neue Theorie vereinbaren", meint Alff. Neue Hoffnung auf ein besseres Verständnis der Elektronenpaarung nährt nun die Entdeckung einer neuen Klasse von Hochtemperatur-Supraleitern durch japanische Forscher. Bislang wurde das Phänomen nur in kupferoxidhaltigen Keramiken, den so genannten Kupraten, gefunden. "Es war eine große Überraschung, dass die Kuprate nicht einzigartig sind", kommentiert Alff. Die neue Stoffklasse biete viele neue Forschungsmöglichkeiten.

Die Physiker von der Nihon-Universität in Tokio synthetisierten eine supraleitende Keramik, die eine ähnliche Sandwich-Struktur aufweist wie die Kuprate. Doch statt dünner Kupferoxid-Schichten enthält sie Lagen aus einer Eisen-Arsen-Verbindung [5].
"Das neue Material bietet die Chance, endgültig herauszufinden, wie Hochtemperatur-Supraleiter funktionieren""
(Eric Hand)
Die Sprungtemperatur liegt mit minus 230 Grad zwar vergleichsweise niedrig, Forscher in aller Welt stürzen sich dennoch begeistert auf die neuentdeckte Keramik und berichten auf dem Internet-Archiv "Arxiv" beinahe täglich über neue Experimente mit dem Supraleiter.

"Diese neue Familie von Hochtemperatur-Supraleitern könnte neue Möglichkeiten bieten, Supraleiter herzustellen, die bei praktikablen Temperaturen operieren", schwärmt Eric Hand. Der "Nature"-Redakteur zeigt sich sehr optimistisch: "Das neue Material bietet auch die Chance, endgültig herauszufinden, wie Hochtemperatur-Supraleiter funktionieren."

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