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Schwertwale: Das gestohlene Mädchen

Tokitae war ein Orcaweibchen im Miami Seaquarium. Über 50 Jahre lebte sie in einem winzigen Becken. Nun endlich sollte sie zu ihrer Familie zurückkehren. Doch es kam anders.
Foto von 1970, das eingefangene Orcas zeigt.
Am 8. August 1970 dokumentierte Wallie Funk ein Zusammentreiben und Einfangen von Orcas in der Penn Cove von Whidbey Island. Bei diesem Ereignis wurden fünf Wale getötet und sieben Kälber aus der Population der Southern Resident Orcas L Pod entnommen. Sie wurden an Meeresparks verkauft.

Vielleicht tollte die Vierjährige mit Gleichaltrigen herum. Oder sie verbesserte ihre Jagdtechnik mit den Erwachsenen. Möglicherweise suchte sie die Nähe ihrer Mutter. Sicher ist: Wie jedes Jahr im Sommer trafen sich drei verwandte Orcagruppen im Puget Sound, einer Meeresregion vor dem US-Bundesstaat Washington im Nordwesten der USA. Das junge Orcaweibchen Tokitae war auch mit dabei, das letzte Mal. Hier, im Jahr 1970, beginnt die tragische Geschichte des gestohlenen Mädchens.

Orcas, auch bekannt als Schwert- oder Killerwale, sind die größten Mitglieder der Delfinfamilie. Sie leben in unterschiedlichen Meeresgebieten weltweit, von kalten Polarregionen bis zu warmen tropischen Gewässern. Beim Schwimmen ragt ihre sichelförmige Rückenflosse, die bei ausgewachsenen männlichen Tieren bis zu 1,8 Meter lang werden kann, in regelmäßigen Abständen aus dem Wasser, wie ein tanzendes Schwert. Beim Atmen stoßen die Wale verbrauchte Luft aus, eine Dunstfontäne spritzt in die Höhe. Viel zu auffällig, wenn Menschen es auf sie abgesehen haben.

Für die Männer im Flugzeug war es jedenfalls ein Leichtes, die Herde von Tokitae im Puget Sound aufzuspüren. Sie informierten ihre Kollegen in den Booten über den Standort der Wale. Diese verfolgten die Tiere und trieben mehr als 80 Individuen in die Penn Cove, eine enge Bucht im Puget Sound. Mit Bomben verwirrten sie die Orcas und trennten Jungtiere von der Gruppe. »Wir waren nur hinter den kleinen her«, erinnert sich ein Walfänger von damals im Interview. »Klein, aber du weißt schon, immer noch große Tiere.«

Orcas sind wahre Schwergewichte. Sie können eine Länge von fast zehn Metern erreichen bei einem Gewicht von bis zu zehn Tonnen. Vierjährige Jungtiere wie damals Tokitae sind drei bis vier Meter lang und wiegen ein bis drei Tonnen. Die Tiere leben in Gruppen, die als Schulen bezeichnet werden (im Englischen »pods«). Eine Schwertwalschule besteht in der Regel aus 5 bis 30 Walen, in Ausnahmefällen bis zu 100. Tokitae stammt von den Southern Resident Orcas, einer Population im nordöstlichen Pazifik an der Westküste der USA und Kanada. Zu ihr gehören 75 Individuen, die wiederum in drei Schulen aufgespalten sind. Traditionell treffen sich die drei »pods« in den Sommermonaten im Puget Sound – ein friedliches Familientreffen, das für die Tiere im August 1970 in einer Tragödie endete.

Mit Hilfe von Netzen fingen die Walfänger Tokitae und einige weitere junge Orcas. Fünf davon, darunter vier Kälber, ertranken, weil sie sich in den Fangnetzen verhedderten. Ihnen schlitzte man die Bäuche auf, füllte sie mit Steinen und beschwerte sie mit Ketten und Ankern, um den »Kollateralschaden« der Fangaktion zu vertuschen. Drei der Kadaver wurden am 18. November 1970 an der Küste von Whidbey Island, im Nordwesten Washingtons, angespült. Sieben junge Orcas überlebten die brutale Entführung, darunter Tokitae. Anwohner berichteten von den wochenlangen Schreien der verbliebenen Schwertwale, die verzweifelt nach ihren Verwandten suchten.

Orcas sind äußerst soziale Tiere. Innerhalb der Schulen gibt es komplexe Hierarchien mit Weibchen an der Spitze. Zwischen den Mitgliedern herrschen starke emotionale Bindungen – vor allem zwischen dem Kalb und seiner Mutter. Deshalb zeigen sie bei Verlust ihres Kindes ein Verhalten, das man als Trauern bezeichnen könnte. 2018 wurde ein Fall bekannt, bei dem ein Muttertier sein totes Kalb 17 Tage lang über Wasser hielt. Erst dann konnte sie es »loslassen«. Geschlechtsreif werden die Weibchen etwa zwischen 10 und 14 Jahren, sie können bis zu 90 Jahre alt werden.

Gefangenschaft bedeutet meist den frühen Tod

Im Sommer 1970 schätzte man das Alter von Tokitae, kurz Toki, auf vier Jahre, vielleicht ein Jahr mehr oder weniger. Ihren Namen erhielt das Walmädchen von dem Tierarzt Jesse White, der es für das Miami Seaquarium für rund 20 000 Dollar kaufte. Der Name bedeutet in der Sprache der Chinook, Indigenen an der Nordwestküste der USA, »Schöner Tag, schöne Farben«. Ein charakteristisches Merkmal von Orcas ist ihre kontrastreiche Färbung: Der Rücken ist schwarz, während der Bauch und ein Fleck hinter jedem Auge weiß abgesetzt sind. Der Rücken direkt hinter der Rückenflosse, auch Sattel genannt, ist gräulich mit einem individuellen Muster. Das Aussehen des Sattels ist eine der Möglichkeiten, die Tiere zu unterscheiden und zu identifizieren.

Der Stamm der Lummi von der Nordwestküste der USA, die die Southern Resident Orcas als ihre »Verwandten unter Wasser« ansehen, tauften Tokitae auf den Namen »Sk'aliCh'elh-tenaut«, was so viel bedeutet wie »Orcaweibchen von einer Ahnenstätte im Penn-Cove-Gebiet der Salish Sea«. Die Salish Sea, zu Deutsch Salische See, ist die offizielle Bezeichnung für das Meeresgebiet zwischen Vancouver Island und dem US-Bundesstaat Washington, wo die Tiere gefangen wurden. Von den sechs anderen entführten Jungwalen brachte man zwei in Meeresparks in Japan und je einen in Parks in Texas, Großbritannien, Frankreich und Australien. Mit Ausnahme von Tokitae starben sie alle innerhalb von fünf Jahren. In Gefangenschaft überleben Orcas in der Regel nicht lange.

Whale-Bowl | Das Foto aus dem Jahr 2012 zeigt Tokitae im Miami Seaquarium, wie sie Kunststücke vor Publikum vollführt. Zu diesem Zeitpunkt lebt sie bereits 42 Jahre in dem Tank, davon 32 ohne Artgenossen.

Im Meer legen Schwertwale pro Tag zwischen 50 und 250 Kilometer zurück, durchschnittlich um die 100. Und dabei tauchen sie immer wieder 100 bis 150 Meter tief. »Das natürliche Verbreitungsgebiet eines Orcas ist Hunderttausende von Quadratkilometern groß«, erklärt Naomi Rose, Expertin für Meeressäuger beim Animal Welfare Institute in Washington D.C. Es ist damit rund eine Million Mal größer als die Whale-Bowl, Tokitaes Becken. Dieses misst an der längsten Stelle 24 Meter, an der tiefsten 6 und an der schmalsten 10,5: das kleinste Orcabecken der Welt.

Seine Dimensionen verstoßen teilweise gegen die offiziellen Vorschriften in den USA zur Haltung von Orcas. Konsequenzen hatte das jahrzehntelang lang nicht. Die ausgewachsene Tokitae war sechs Meter lang. Schwimmen oder tauchen? Schwierig bis unmöglich. »Diese Tiere brauchen eine Menge Platz, und in Gefangenschaft haben sie die nicht.« Im Grunde sei es nichts anderes als bei Menschen. »Bewegungsmangel schadet ihrer Gesundheit und ihre Lebenszeit verkürzt sich«, sagt Rose.

Während zu wenig Bewegung ihrem Körper zusetzt, macht die Eintönigkeit und die Langeweile in den Tanks die Psyche der Wale krank. »Das ist eine völlig reizarme Umgebung«, kritisiert Elke Burkhardt, Meeresbiologin und Expertin für Wale am Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung. »In diesen Becken ist überhaupt nichts vergleichbar mit dem, was die Orcas in der freien Natur erfahren.« Die gefangenen Tiere neigen in der trostlosen, engen Umgebung zu repetitiven, stumpfsinnigen Handlungen. Sie schwimmen fortwährend im Kreis, wippen permanent mit dem Kopf oder nutzen ihre Zähne durch Kauen an den Betonwänden ab. Burkhardt hält es für ein »Verbrechen«, solche weit wandernden und intelligenten Tiere einzusperren.

»Tokitaes Situation war schrecklich«Naomi Rose, Expertin für Meeressäuger beim Animal Welfare Institute in Washington D.C.

»Tokitaes Situation war schrecklich«, findet auch Naomi Rose. »Orcas sind mindestens genauso intelligent wie kleine Kinder. Sie können denken, planen und vorhersehen.« Das spiegelt sich auch in der Anatomie ihres Gehirns wider: Es hat eine hoch entwickelte, komplexe Struktur und ist im Verhältnis zum restlichen Körper recht groß. Ihr Wissen geben die Orcas an andere Familienmitglieder weiter. Daher weisen unterschiedliche Populationen kulturelle Variationen in Bezug auf ihre Verhaltensweisen, Jagdtechniken und Kommunikation auf. Jede Familie hat sozusagen ihren eigenen Dialekt.

Hugo, ein junger Orcabulle, sprach denselben wie Tokitae. Er war zwei Jahre zuvor ebenfalls im Puget Sound gefangen worden und fristete bereits ein einsames Dasein im Miami Seaquarium. Zunächst hielt man die beiden Schwertwale getrennt, weil man befürchtete, dass sie sich bekämpfen würden. Was man noch nicht wusste: Sie waren verwandt – und verstanden sich. Die zwei kommunizierten über ihre Gefängniszellen hinweg, sie riefen einander. Daher führte man sie schließlich zusammen. Und weil die Vermarktung der beiden Publikumsmagnete oberste Priorität hatte, wurde Tokitae in Lolita umbenannt – nach der Heldin im gleichnamigen Roman von Vladimir Nabokov, in dem ein älterer Mann eine noch kindliche Frau begehrt. Hugo hatte allerdings andere Sorgen als seine Begierde. Regelmäßig und absichtlich rammte er seinen Kopf gegen die Wände des Tanks. Ihm fehlten vermutlich die Bewegung, die soziale Interaktion und die Jagd.

Um Nahrung zu erbeuten, arbeiten Orcas üblicherweise im Team. Sie stimmen sich ab und umzingeln ihre Beute oder drängen sie in die Enge. So gelingt es zum Beispiel manchen Gruppen, Fische zu dichten Schwärmen zusammenzutreiben, so dass sie nur noch abwechselnd zuschnappen müssen. In der Antarktis wurde beobachtet, wie Orcas Wellen erzeugen, indem sie schnell und koordiniert schwimmen. Dadurch fallen die Robben von den Eisschollen ins Wasser, wo sie von den Räubern gefressen werden.

Für Hugo und Tokitae waren die einzigen »koordinierten« Bewegungen Luftsprünge aus dem Becken, um die Zuschauer zu unterhalten. Hugo gewöhnte sich nie an dieses trostlose Leben. Am 4. März 1980 starb er an einem Hirnaneurysma, das möglicherweise in Zusammenhang mit seinen sich selbst zugefügten Kopfverletzungen stand. Tokitae hingegen ging es gesundheitlich besser. Sie absolvierte täglich Shows und war eine der Hauptattraktionen des Miami Seaquarium – 52 Jahre lang, bis zum Frühjahr 2022.

Zu dieser Zeit kaufte The Dolphin Company das Miami Seaquarium. Um den Betrieb aufrechtzuerhalten, musste der neue Besitzer ein Genehmigungsverfahren durchlaufen, das vom United States Department of Agriculture (USDA), dem Landwirtschaftsministerium der USA, durchgeführt wurde. Das USDA bemängelte jedoch, dass Tokitaes Becken die gesetzlichen Platzanforderungen nicht erfüllte. Tatsächlich verstieß es schon immer gegen die Vorschriften, aber die Behörde hatte dieses Vergehen viele Jahre nicht geahndet.

»Wenn ein Zoo oder Aquarium die Standards nicht erfüllt, muss das Problem innerhalb eines bestimmten Zeitraums behoben werden«, erklärt Rose. »Doch in diesem Fall hätte das bedeutet, ein komplett neues Becken zu bauen.« Daher erklärte sich die USDA überraschenderweise bereit, dem Miami Seaquarium eine Ausstellungslizenz zu erteilen, falls die Firma das Wal-Aquarium für die Öffentlichkeit schließt. Und so kam es. Tokitae blieb weiterhin in ihrem zu kleinen Tank, war aber nicht mehr Teil der Shows.

Nach einer Reihe von Verhandlungen erklärte sich die Firma im März 2023 bereit, Tokitae der Non-Profit-Organisation »Friends of Toki« zu übergeben. Diese wollte den Orca in ein Meeresrefugium überführen. Aktivisten und Mitglieder des Lummi-Stamms, an dessen Küste Toki einst gefangen wurde, hatten diesen Schritt schon viele Jahre lang gefordert. Die vorherigen Besitzer hatten sich jedoch stets geweigert, Toki gehen zu lassen.

Philip Demers, früher Tiertrainer in einem Meerespark und jetzt Aktivist, hat auf seinem Twitter-Account Drohnenaufnahmen des Seaquarium aus dieser Zeit gepostet. Die Bilder stammen von Mai 2023 und zeigen Toki, gemeinsam mit ihrem einzigen Beckengenossen Li'i, einem 1988 gefangenen Pazifischen Weißseitendelfin:

Bei einem Meeresrefugium, im Englischen »seaside sanctuary«, handelt es sich um ein vom offenen Ozean mit Netzen abgegrenztes und von Menschen überwachtes Meeresgebiet. »Das ist die perfekte Zwischenlösung für ehemals in Gefangenschaft lebende Meeressäuger, die vom Menschen abhängig gemacht wurden und erst wieder lernen müssen, sich um sich selbst zu kümmern«, sagt die Meeresbiologin Tamara Narganes-Homfeldt. Sie arbeitet für die gemeinnützige Tierschutzorganisation Whale and Dolphin Conservation (WDC), die sich dem Schutz von Walen und Delfinen sowie deren Lebensraum verschrieben hat. Narganes-Homfeldt setzt sich insbesondere dafür ein, die Gefangenschaft der Tiere zu beenden.

»Die Priorität lag nicht darauf, Toki vollständig auszuwildern«, sagt sie. »Es ging vor allem darum, ihre Lebenssituation deutlich zu verbessern.«* In einem Meeresrefugium können sich Orcas langsam an eine Umgebung mit mehr Reizen gewöhnen: »An eine größere Wassertiefe, an Felsen und Pflanzen, an andere Tiere, an Wellen, an Ebbe und Flut und so weiter«, sagt Elke Burkhardt. Außerdem haben Trainer und Pfleger rund um die Uhr Zugriff auf die Tiere, können ihren Gesundheitszustand überwachen und nach Bedarf zufüttern. Auch können sie den Walen verschiedene Dinge beibringen, zum Beispiel das Jagen. »Solche Meeresrefugien sind wirklich eine gute Lösung für Tiere, die einen Großteil ihres Lebens in Gefangenschaft verbracht haben«, findet Burkhardt.

Keiko, der erste jemals ausgewilderte Orca und Titelheld in dem Film »Free Willy«, hat fünf Jahre lang in einem natürlichen Habitat gelebt, bevor er an einer Lungenentzündung starb. Allerdings hat er sich nie in eine Gruppe anderer Orcas integriert. »Es ist gut möglich, dass Keiko eine zu enge Bindung an Menschen hatte oder die Kommunikation mit Artgenossen einfach nicht richtig funktioniert hat«, vermutet Burkhardt. Vielleicht hat er auch die Dialekte nicht ausreichend verstanden. Seine Verwandten hat er wahrscheinlich nie gefunden, wie Gewebeproben zeigten, die von den wild lebenden Orcas genommen wurden, zu denen Keiko losen Kontakt hatte.

Wäre das bei Tokitae besser gelaufen? »Man weiß es nicht«, sagt Burkhardt. »Doch der Vorteil bei ihr war, dass man ganz genau wusste, aus welcher Schule sie stammte.« Außerdem war sie zum Zeitpunkt ihrer Gefangennahme rund zwei Jahre älter als Keiko. Das erhöhte die Chance, dass sie sich an ihre Familie und ihre Sprache erinnert hätte. Noch sind Familienmitglieder, die sie in ihrer Kindheit kennen lernte, am Leben.

In dieser Hinsicht war Tokitaes Fall »einzigartig«, meint Naomi Rose. »Bei den allermeisten Walen und Delfinen in Gefangenschaft wissen wir nicht, wer ihre Familie ist.« Solche Individuen sind wahrscheinlich keine geeigneten Kandidaten für eine Freilassung, denkt Rose. Und besonders bei denjenigen, die schon in Gefangenschaft geboren wurden, sieht sie derzeit keine Chance auf Auswilderung. »Wir wissen nicht, wie wir sie darauf vorbereiten können, eigenständig in freier Wildbahn zu überleben«, sagt sie. »Zumindest jetzt noch nicht.«

Selbst bei Toki wäre der erste sinnvolle Schritt gewesen, sie in eine bessere, größere Einrichtung zu transportieren. »Sie hätte sich zunächst gesundheitlich erholen sollen, bevor sie in ein Meeresrefugium gebracht worden wäre.« Auch Keiko wurde erst aus seinem kleinen Becken in Mexiko in ein viel größeres Aquarium in Oregon verfrachtet, wo sich sein schlechter Gesundheitszustand deutlich verbesserte.

Der Freiheit so nah

Hoch im Kurs für ein mögliches Meeresrefugium stand ein Gebiet in der Salischen See nahe Seattle. Hier hätte das Orcaweibchen prinzipiell die Möglichkeit gehabt, auf Familienangehörige zu treffen. Finanzieren wollte das Vorhaben der milliardenschwere Philanthrop und NFL-Sportfunktionär Jim Irsay. Der Plan sah vor, Toki mit Schlingen aus ihrem Becken in einen passenden Transportcontainer zu hieven. Dieser sollte per Lastwagen zum Flughafen von Miami gefahren und in ein großes Frachtflugzeug verladen werden.

Das Walweibchen wäre dann mit ihren Pflegerinnern und Pflegern nach Seattle geflogen, von wo aus man sie per Truck in die Salische See bringen wollte. Man hatte bereits begonnen, Tokitae an die Gurtvorrichtung zu gewöhnen. Laut Medienberichten hoffte Irsay, das Tier bis Weihnachten in seinem Heimatgewässer zu sehen – koste es, was es wolle: »50 years ago today, Lolita was captured. It's time for her to go home, and I will do whatever it takes to get her there«, twitterte Irsay am 8. August 2023. 20 Millionen Dollar hatte er bereits für die Mission fest zugesagt.

Die gestohlenen Kinder

Zurzeit befinden sich mehr als 3600 Delfine, Belugas und Orcas in Gefangenschaft. Viele wurden als Jungtiere entführt, manche in Gefangenschaft geboren. Besonders in China boomt die Unterhaltungsindustrie mit Walen und Delfinen. 5000 solche Meeressäuger sind bereits in Gefangenschaft gestorben. Von den etwa 45 Orcajungen, die in den 1960er und 1970er Jahren aus dem Puget Sound entnommen wurden, war Tokitae die letzte Überlebende.

Viel Geld für einen einzelnen Orca. Wäre der Art nicht mehr geholfen, wenn man diese Summe in Meeresschutzgebiete steckte, um viel mehr frei lebende Exemplare zu schützen? Naomi Rose hat diese Frage schon oft gestellt bekommen: »Immer, wenn Leute hören, wie viel es kostet, sagen sie, das Geld solle man besser für etwas anderes ausgeben.« Zwei Dinge entgegnet sie dann. Erstens: »Sea World hat zehn Millionen Dollar ausgegeben, um die Tribüne für die Orcashows zu renovieren, die eigentlich in einem perfekten Zustand war.« Niemand fragte hier: »Sollte man das Geld nicht besser für etwas anderes ausgeben?« Zweitens: »Man hätte das Geld, das Menschen für Tokitae gespendet haben, nicht einfach für andere Zwecke verwenden können.« Aus Jim Irsays Perspektive wäre das eingesetzte Geld keine Verschwendung gewesen – auch nicht aus Tokis. »Hätte man Irsay sagen sollen, man wolle sein Geld nicht? Das wäre wirklich dumm gewesen.« Es gehe hier nicht um öffentliche Mittel. Bei Steuergeldern sähe die Sache völlig anders aus, merkt sie an.

»Solange derartige Freilassungsprojekte mit Spenden finanziert und sorgfältig vorbereitet werden, würde ich sie immer unterstützen«Elke Burkhardt, Meeresbiologin am Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

Narganes-Homfeldt ist der gleichen Meinung und fügt hinzu: »Natürlich wollen wir mehr Meeresschutzgebiete. Bei der Umsetzung scheitert es aber in erster Linie am politischen Willen und verschiedenen Interessen, nicht vorrangig am Geld.« Diese Erfahrung hat auch Burkhardt gemacht: »Die Wissenschaft ist sich in der Regel einig, dass diesbezüglich mehr passieren muss. Doch die politischen Gremien gehen Kompromisse ein. Oft sind sich die Leute in den betroffenen Regionen nicht einig, weshalb die Entscheidungen am Ende meist halbherzig ausfallen«, sagt sie. »Solange derartige Freilassungsprojekte mit Spenden finanziert und sorgfältig vorbereitet werden, würde ich sie immer unterstützen«, sagt Burkhardt.

Manche mögen nun einwenden, dass man die Menschen aufklären könnte, wo ihr Geld vielleicht besser aufgehoben ist. Zum Beispiel in Naturschutzprojekten in Gegenden, wo auch Orcas leben. Rose hat jedoch wieder ein Gegenargument parat: »Wenn Menschen anfangen, sich für individuelle Schicksale wie das von Toki zu interessieren, ist das für viele wie eine Einstiegsdroge.« Sie würden anschließend nämlich beginnen, sich um die Familienmitglieder der Tiere zu sorgen. Dann um andere Populationen, um die ganze Art, um andere Arten und deren Lebensraum.

»Wenn man es schafft, dass Menschen Mitgefühl mit einzelnen Lebewesen entwickeln, lässt sich darauf aufbauen«, sagt sie. Im Idealfall schaffe man am Ende ein Bewusstsein für den gesamten Planeten. In den 30 Jahren, in denen sie nun in diesem Bereich arbeitet, hat Rose diese Entwicklung immer wieder erlebt. »Menschen, die sich in ihrer Kindheit um Keiko gesorgt haben, spenden nun als Erwachsene für Umweltschutzprogramme, und sie geben diese Einstellung an ihre eigenen Kinder weiter«, so Rose. »Das ist nicht der einzige Weg, Menschen zu Naturschützern zu machen. Aber es ist einer.«

Elke Burkhardt treibt unterdessen die Frage nach Alternativen um: »Was soll man denn mit Individuen wie Toki machen, wenn sie nicht mehr auftreten dürfen?« Mit ihnen lässt sich kein Geld mehr verdienen, das bedeutet: »Sie bekommen vielleicht nicht mehr die notwendige Pflege und anständiges Futter.« Man sollte dringend etwas dafür tun, die Lebensumstände dieser gefangenen Tiere zu verbessern, finden alle drei Expertinnen. »Die Parks haben mit den Tieren sehr viel Geld verdient, und der Mensch ist nun mal dafür verantwortlich, dass sie in Gefangenschaft leben«, sagt Narganes-Homfeldt. Für sie ist klar, dass wir in der Verantwortung stehen, diese Situation wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Bislang werden private Aquarien aber von wirtschaftlichen Interessen geleitet. Das Wohlergehen der Tiere zu maximieren, spiele da kaum eine Rolle, sagt Rose.

»Wenn Menschen anfangen, sich für individuelle Schicksale wie das von Toki zu interessieren, ist das für viele wie eine Einstiegsdroge«Naomi Rose, Expertin für Meeressäuger beim Animal Welfare Institute in Washington D.C.

Als Tokitae nicht mehr als Showattraktion arbeiten durfte, wurde sie für den Park aus finanzieller Sicht eine Belastung. »Ich glaube, dass man das Land für andere Zwecke nutzen wollte«, spekuliert Naomi Rose. Für Toki änderte das alles, erstmals bestand Hoffnung auf eine deutliche Verbesserung ihrer Situation. Selbstverständlich hätten zunächst noch die Hürden des Genehmigungsprozesses für eine Freilassung genommen werden müssen. Rose glaubt aber, dass sich die verantwortlichen Behörden nicht quergestellt hätten.

Wie schon Keiko hätte man auch Toki vor dem Transport ausführlich medizinisch begleitet und überwacht, um keinen Krankheitserreger in die frei lebende Population einzubringen. Eine Katastrophe wäre das gewesen, sagt Burkhardt, weil die Southern Resident Orcas vom Aussterben bedroht sind. Rose schätzte die Gefahr einer Kontamination mit Viren oder Bakterien jedoch als sehr gering ein. »Es bleibt immer ein winziges Restrisiko.« Aber man teste die Tiere selbstverständlich auf alles Mögliche, bevor man sie in natürliche Habitate versetzt.

»Das erste Mal in ihrem Leben in Gefangenschaft besteht Hoffnung für Toki«, sagte Rose im Gespräch am 17. August 2023. Gleichwohl bremste sie die Euphorie: »Es ist immer noch völlig unklar, was mit ihr geschieht.« Einen Tag später starb das Orcaweibchen – laut dem Miami Seaquarium vermutlich an einem Nierenleiden.

Am 22. August schreibt Rose in einer E-Mail: »Überraschend ist nicht, dass Toki jetzt gestorben ist, sondern dass sie so lange gelebt hat. Es ist nur eine traurige Ironie, dass sie ausgerechnet jetzt starb, wo erstmals die Hoffnung bestand, nach Hause zurückzukehren.«

Sk'aliCh'elh-tenaut hat ihren eigenen Weg gewählt – direkt zu ihren Ahnen in die Salische See. Lebe wohl gestohlenes Mädchen!

* Die meisten Interviews wurden Anfang bis Mitte August 2023 geführt, also vor Tokis Tod. Wir haben deshalb die Zeiten in den Zitaten angepasst.

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