Ornithologie: Wie Vögel ihren Gesang wahrnehmen
Wenn wir einen Vogel singen hören, lässt uns das unwillkürlich an Musik oder Sprache denken. Im Flöten der Amsel erkennen wir regelrechte Melodien, wir nehmen satzähnliche Strukturen im »Zizibäh« der Kohlmeise wahr und machen ein fröhliches Pfeifen im Gesang des Gartenrotschwanzes aus, den dieser mit weit geöffnetem Schnabel darbietet.
Vogelgesang wird üblicherweise als lange, oft recht komplexe erlernte Lautäußerungen definiert, die Vögel beim Werben um Geschlechtspartner sowie zur Revierverteidigung einsetzen. In der heutigen Forschung grenzt man die Gesänge klar von den meist kürzeren, einfacher strukturierten Rufen ab, die den Tieren angeboren sind und vielfältigeren Zwecken dienen, etwa um auf Räuber oder Nahrung hinzuweisen. Diese Definitionen sind jedoch nicht immer ganz eindeutig, da die Gesänge mancher Arten viel unauffälliger als ihre Rufe erscheinen. Im Folgenden meine ich mit dem Begriff die längeren und komplizierteren Lautfolgen im Gegensatz zum kurzen Tschilpen oder Piepen.
Wenn wir Vogelgesang wissenschaftlich analysieren, teilen wir ihn in kleinere Einheiten ein, die wir als Töne oder Silben bezeichnen. Diese gruppieren wir in Sequenzen – Phrasen oder Motive genannt –, die sich durch charakteristische Rhythmen und Tempi auszeichnen. Damit können wir potenziell bedeutsame Aspekte eines Gesangs ermitteln, etwa die Anzahl der Silbentypen im Repertoire eines Vogels oder die Muster, in denen er Phrasen arrangiert. Die Beschreibungen entsprechen jenen, mit denen wir die Beziehungen zwischen Wörtern im Satzbau der menschlichen Sprache oder zwischen Noten in einem Musikstück wiedergeben.
Aber was denken die Vögel über all diese Merkmale? Wie klingt der Gesang in ihren Ohren? Neuere Untersuchungen meiner Kollegen und mir sowie zahlreiche Forschungsarbeiten einer weltweit wachsenden Zahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben enthüllt, dass sich Vogelstimmen für die Tiere anders anhören als für uns Menschen.
Ein klassisches Verfahren, um die akustische Wahrnehmung im Freiland zu untersuchen, sind so genannte Playback-Experimente: Dabei spielt man Vögeln Gesänge vor und dokumentiert die Verhaltensantwort. Auf einen typischen Gesang ihrer Artgenossen reagieren viele Vögel wie auf einen Eindringling in ihr Revier. Sie nähern sich dem Lautsprecher, aus dem der Gesang ertönt, umkreisen die Schallquelle, um den Störenfried ausfindig zu machen, und äußern sich durch ihre eigenen Drohrufe oder Lieder. Durch einen Vergleich der Reaktion auf natürliche und manipulierte Gesänge lässt sich herausfinden, welche Merkmale wichtig für die Wahrnehmung sind. Im vordigitalen Zeitalter nahmen Ornithologen Vogelgesang mit Tonbandgeräten auf und stückelten anschließend das Magnetband buchstäblich neu zusammen, um künstliche Gesänge mit anders arrangierten Silben oder kürzeren Pausen zwischen den Tönen zu erzeugen. Die heutigen digitalen Aufzeichnungsgeräte und Musikbearbeitungsprogramme haben derartige Manipulationen mittlerweile enorm vereinfacht.
In einem klassischen Playback-Experiment aus den 1970er Jahren untersuchte der Verhaltensforscher Stephen Emlen von der Cornell University die Gesangswahrnehmung bei nordamerikanischen Indigofinken (Passerina cyanea). Die leuchtend blauen Männchen der Spezies singen Lieder, deren Silben sie fast immer zweimal hintereinander vortragen. Auf dieses charakteristische Muster weisen ornithologische Bestimmungsbücher bei der Beschreibung des Indigofinkengesangs oft explizit hin. Auf einem Spektrogramm, das Tonhöhe und Lautstärke der akustischen Signale im Zeitverlauf visuell darstellt, sind die paarigen Silben ebenfalls deutlich zu erkennen (siehe »Paarige Silben«).
»Hast du das gehört?«
Ungeachtet des für menschliche Ohren so auffälligen Musters reagierten Indigofinken auf einen modifizierten Gesang aus ungepaarten Silben ähnlich territorial wie beim Hören ihrer natürlichen, aus Doppelsilben bestehenden Lieder. Es sieht demnach so aus, als hätte das Muster der paarigen Laute für die Vögel in Bezug auf das Erkennen ihrer Artgenossen keinerlei Bedeutung. Müsste der Indigofink seinen Gesang in einem Vogelführer beschreiben, wichen seine Ausführungen mit Sicherheit beträchtlich von unserer Darstellung ab.
Wie Vögel in freier Natur auf Gesang reagieren, ist zwar eine wichtige Fragestellung, doch ihre Erforschung unterliegt gewissen Einschränkungen. So könnte sich ein Individuum auf Futtersuche außer Hörweite aufhalten, wenn man das Experiment starten möchte. Im Labor sind Wissenschaftler dagegen in der Lage, tierisches Verhalten viel präziser und unter kontrollierten Bedingungen zu studieren. Wenn Sie beim Arzt einen Hörtest machen, werden Sie gebeten, die Hand zu heben oder einen Knopf zu drücken, um kundzutun, dass Sie einen Ton gehört haben. Um die auditive Wahrnehmung bei Vögeln zu untersuchen, verwenden wir einen ganz ähnlichen Ansatz. Nun können wir die Tiere nicht fragen: »Hast du das gehört?« Stattdessen trainieren wir sie darauf, auf einen Knopf in ihrem Käfig zu picken, wenn sie einen Laut registrieren beziehungsweise wenn sich der von ihnen gehörte Laut in eine bestimmte Kategorie einordnen lässt oder sich von einem anderen unterscheidet.
Laboruntersuchungen haben zahlreiche Gemeinsamkeiten in der Empfindlichkeit des Hörsystems bei Singvögeln und Menschen nachgewiesen, darunter etwa die Schwellenwerte, bei denen Differenzen in der Tonhöhe oder Pausen zwischen Lauten noch erkannt werden. Zugleich haben sie aber auch verblüffende Unterschiede zwischen Vögeln und Menschen in Bezug auf das Wahrnehmungsvermögen von Lautfolgen und akustischen Details zum Vorschein gebracht.
Ein zentrales Ergebnis dieser Studien ist die Tatsache, dass Vögel erstaunlich schlecht darin abschneiden, eine Melodie wiederzuerkennen, die in ihrer Tonhöhe nach oben oder unten verschoben wurde. Wir Menschen besitzen hier eine natürliche Begabung – können wir doch zum Beispiel die Melodie von »Happy Birthday« unabhängig von der Tonlage identifizieren. Wie klassische Laborexperimente von Stewart Hulse (1931–2008) von der Johns Hopkins University aus den 1980er und 1990er Jahren demonstrierten, klingt eine nach oben oder unten verschobene Lautfolge für Vögel anders, obwohl sie nach wie vor dasselbe Muster aufweist. Die Melodien, die wir im Vogelgesang hören, weichen daher womöglich stark vom Wahrnehmungserlebnis der Tiere ab.
Nachfolgende Studien untermauerten diese Hypothese. 2016 berichtete ein Forscherteam um Timothy Genter von der University of California in San Diego, dass Stare (Sturnus vulgaris) verschobene Sequenzen nur dann erkennen können, wenn sämtliche feinen Details aus den Lauten entfernt werden. Die Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig subtile Elemente für die Tiere beim Lauschen ihrer Gesänge sind.
Die Wellenform eines Schallsignals lässt sich auf zwei Ebenen beschreiben: Einhüllende und Feinstruktur. Erstere setzt sich aus langsamen Schwankungen der Amplitude zusammen, während Letztere aus schnellen Fluktuationen von Frequenz und Amplitude innerhalb der Wellenform besteht (siehe »Feinstruktur«). Die Feinstruktur eines Schallsignals gibt Veränderungen im Millisekundenbereich wieder. Viele Ornithologen haben sie früher nicht beachtet, zum Teil auch deshalb, weil sie in Spektrogrammen nicht unmittelbar zu erkennen ist. Betrachtet man allerdings die Wellenform einer einzelnen Gesangssilbe in einer detaillierten Vergrößerung, wird deren akustische Feinstruktur in ihren Einzelheiten sichtbar.
Pionierarbeit in der Erforschung der Feinstruktur des Vogelgesangs leistete Robert Dooling von der University of Maryland. Seit Jahrzehnten untersucht er gemeinsam mit seinen Kollegen das Vermögen von Vögeln, solche akustischen Details zu detektieren. In einer wegweisenden Studie von 2002 testeten die Forscher die Fähigkeiten von Vögeln und Menschen, zwischen Lauten zu differenzieren, die sich lediglich in ihrer Feinstruktur unterschieden. Dabei schnitten sämtliche Vogelarten – Zebrafinken, Kanarienvögel oder Wellensittiche – bedeutend besser ab: Die Tiere konnten zwei- bis dreimal geringere Unterschiede in der Feinstruktur ausmachen als menschliche Probanden. Der genaue physiologische Mechanismus dieser hohen Empfindlichkeit ist bis heute nicht bekannt. Man vermutet, dass er mit Merkmalen des Innenohrs der Vögel zusammenhängt, das im Gegensatz zum Menschen eine kürzere und nur leicht gebogene statt spiralförmig aufgerollte Cochlea besitzt.
Eine scheinbar simple Darbietung
Als ich 2015 im Rahmen meiner Doktorarbeit an der University of Maryland damit begann, Vogelgesang mit menschlicher Sprache zu vergleichen, maß ich jener Feinstruktur noch keine besondere Bedeutung bei. Stattdessen suchte ich nach sprachähnlichen grammatikalischen Kompetenzen von Vögeln. Doch während ich mich tiefer in die Fragestellung einarbeitete und zahlreiche Experimente durchführte, wurde mir zunehmend klar, dass der Schlüssel zum Verständnis des Vogelgesangs vielleicht eher in diesen feinen akustischen Details verborgen liegen könnte als in den Sequenzen, in denen sie auftraten.
Der Champion unter den Vögeln, die Dooling in seiner Studie 2002 getestet hatte, war der Zebrafink (Taeniopygia guttata). Jener lebhafte, in Australien heimische Singvogel hat sich als beliebteste Art in der experimentellen Vogelstimmenforschung etabliert – nicht zuletzt, weil er selbst in Gefangenschaft eifrig singt und sich erfolgreich fortpflanzt. Darüber hinaus erscheint seine ausschließlich von den Männchen vorgetragene Darbietung recht simpel: Sie besteht aus einem einzigen Motiv von drei bis acht Silben, das sich – üblicherweise in derselben Reihenfolge – permanent wiederholt. Wegen seiner übersichtlichen Struktur eignet sich der Zebrafinkengesang daher besser für wissenschaftliche Untersuchungen als andere Vogelstimmen. Weil die Männchen sowohl die Silben als auch die auftretenden Sequenzen von einem Lehrmeister – üblicherweise ihrem Vater – erlernen, liegt der Schluss nahe, dass beide Aspekte des Gesangs für die Wahrnehmung eine wichtige Rolle spielen.
Diese Hypothese überprüften wir 2018, indem wir untersuchten, wie gut Zebrafinken den Unterschied zwischen natürlichen und manipulierten Gesangsmotiven hören konnten, in denen manche Silben entweder rückwärts oder in vertauschter Reihenfolge auftraten (siehe »Unterscheidung von Lautfolgen«). Hierzu brachten wir den Vögeln bei, uns die von ihnen wahrgenommenen Lautunterschiede mitzuteilen: Zunächst bekamen sie wiederholte Laute vorgespielt. Wenn sie dann einen Knopf betätigten, startete ein Versuch, bei dem sich die Töne entweder veränderten oder gleich blieben. Pickte der Vogel bei veränderten Lauten mit seinem Schnabel auf einen bestimmten Knopf, zählte das als korrekter Treffer und das Versuchstier erhielt zur Belohnung Futter. Pickte es dagegen bei gleich bleibendem Lautmuster auf den Knopf, gingen zur Strafe die Lichter im Käfig aus und das Resultat wurde als Fehler gewertet. Mit Hilfe dieser Versuchsanordnung gelang es uns, das Unterscheidungsvermögen der Vögel zwischen dem sich wiederholenden natürlichen Gesangsmotiv und neuen Lauten (Motive mit verkehrten oder vertauschten Silben) zu ermitteln. Den Vögeln ging es bei dem Experiment lediglich darum, sich leckeres Futter zu verdienen.
Interessanterweise erwiesen sich die Zebrafinken als nahezu perfekt darin, umgedrehte Silben als andersartig wahrzunehmen, die für das menschlich Gehör eher schwer auszumachen sind. Bei der Unterscheidung vertauschter Silbensequenzen, was Menschen wiederum leichter erkennen, schnitten die Vögel jedoch deutlich schlechter ab. Spielt man eine Silbe rückwärts ab, verändert sich vor allem deren Feinstruktur. Es überrascht daher keineswegs, dass die Vögel diese Aufgabe bravourös beherrschten. Ihre Probleme mit den vertauschten Silbensequenzen erscheinen allerdings unerwartet – nicht nur, weil wir Menschen solche Veränderungen mühelos registrieren, sondern auch, weil die Vogelmännchen beim Gesangserwerb lernen, Silben in einer bestimmten Reihenfolge vorzutragen. Die Schwierigkeiten der Zebrafinken, vertauschte Silben zu erfassen, bedeutet womöglich, dass die Sequenz zwar beim Erlernen des Gesangs eine Rolle spielt, aber für die innerartliche Kommunikation keine wesentlichen Informationen enthält.
Angesichts dieser Resultate fragten wir uns nun, inwieweit die Wahrnehmung der Feinstruktur für die natürliche Kommunikation der Vögel von Bedeutung ist. Rückwärtsgespielte Gesangssilben herauszuhören, stellt gewiss eine beeindruckende Fähigkeit dar, doch in Wirklichkeit produziert kein Vogel derartige Laute. Für uns galt daher herauszufinden: Wie gut erfassen die Tiere natürliche akustische Veränderungen in ihrem Gesang?
Verborgene Informationen
2018 hatten meine Kollegen bereits demonstriert, dass Zebrafinken in den Rufen ihrer Artgenossen, die Informationen über Geschlecht und Identität enthalten, subtile Unterschiede in der Feinstruktur ausmachen können. Um zu untersuchen, ob die Vögel akustische Feinheiten im Gesang ebenfalls erkennen, machten wir uns die Gegebenheit zu Nutze, dass Zebrafinken dabei ein einziges Motiv mit denselben Silben in gleicher Reihenfolge ständig wiederholen – zumindest klingt es für uns Wissenschaftler so. In Wirklichkeit existieren jedoch geringfügige Unterschiede in der Art und Weise, wie die einzelnen Silben des Motivs bei jeder neuen Wiedergabe gesungen werden. Wir überprüften deshalb, ob die Vögel zwischen den unterschiedlichen Interpretationen der Motivsilben unterscheiden können. In der Tat beherrschen sie das mühelos.
Aus diesem Ergebnis folgern wir, dass der auf uns wie eine ständige Wiederholung desselben Motivs wirkende Gesang des Zebrafinken in den Ohren der Vögel tatsächlich ganz anders klingt. Vermutlich gewinnen die Tiere aus der Feinstruktur ihrer Lieder eine Fülle an Informationen, etwa über Emotionen, Gesundheitszustand, Alter, individuelle Identität und vieles mehr, was jenseits unserer Hörfähigkeiten liegt. Andere Vögel, deren Gesänge sich für uns wie repetitive Sequenzen anhören, dürften ein ähnlich ausgeprägtes Wahrnehmungsvermögen wie die Zebrafinken besitzen.
Hier stellt sich die Frage, ob die kleinen akustischen Fluktuationen innerhalb des Vogelgesangs nicht einfach zufällig auftreten – so wie die Flugkurve eines Fußballs je nach Schuss des Spielers variiert. Tatsächlich dürfte aber der Schlüssel zur gesanglichen Feinstruktur im Stimmbildungsorgan der Vögel liegen. Wir Menschen erzeugen die Laute, die wir mit Mund und Zunge zu Sprache formen, im Kehlkopf am oberen Ende unseres Halses. Bei Vögeln erfolgt dagegen die Lautproduktion mit Hilfe einer speziellen, in zwei Äste gegabelten Struktur, die sich oberhalb der Lunge befindet: dem Stimmkopf (Syrinx). Jede Hälfte des Organs stellt eine eigene Schallquelle dar, die separat gesteuert werden kann. Zudem kontrahieren die Syrinxmuskeln der Singvögel schneller als jeder andere Wirbeltiermuskel und ermöglichen eine zeitliche Kontrolle im Millisekundenbereich. Vögel produzieren daher ihre feinen akustischen Variationen nicht durch versehentliche Schnabelbewegungen, sondern können sie sogar willkürlich steuern.
Zusammengefasst belegen diese Studien, dass Vögel ihre Gesänge ganz anders wahrnehmen, als wir bislang dachten. Wenn wir Musik oder Sprache hören, stellen Melodie und Satzstruktur unverzichtbare Bestandteile dar, die wir unbewusst auf den Vogelgesang projizieren. Unterschiede in der Silbenabfolge scheinen allerdings für Vögel keine große Rolle zu spielen. Für Menschen zerstören dagegen derartige Manipulationen in Sprache oder Musik die Textbotschaft beziehungsweise die Melodie eines Stücks komplett. Vögel achten offenbar stattdessen äußerst genau auf die akustischen Feinheiten individueller Gesangselemente – unabhängig von deren Reihenfolge. Darüber hinaus können sie winzige Details registrieren, die weit jenseits unseres Hörvermögens liegen.
Wie klingt also der Vogelgesang für Vögel? Vielleicht sollten wir statt Sprache oder Musik eher den Tanz als Analogie heranziehen. Hierbei muss die Reihenfolge der Schritte stimmen, um die Bewegungen korrekt auszuführen. Ein verpatzter Übergang kann dazu führen, dass eine bestimmte Figur total danebengeht. Schaut man jedoch anderen beim Tanzen zu, misst man der Reihenfolge der Schritte keine besondere Bedeutung bei. Das Publikum konzentriert sich stattdessen eher auf den Rhythmus sowie die Vielfalt und Kunstfertigkeit der Bewegungen. Ähnliches trifft möglicherweise auf den Vogelgesang zu: Während für den singenden Vogel die korrekte Abfolge unerlässlich ist, könnten dagegen für den zuhörenden Artgenossen die »Bewegungen« an sich am allerwichtigsten erscheinen.
Eine seltene Gabe
Das soll aber nicht heißen, es gäbe überhaupt keine signifikanten Parallelen zwischen Vogelgesang und menschlicher Sprache oder Musik. Die Fähigkeit, gehörte Laute zu reproduzieren – stimmliches Lernen genannt –, tritt im Tierreich eher selten auf. Unsere engsten Verwandten, die Schimpansen, scheinen das wie auch alle anderen Primaten nicht zu beherrschen. Selbst jene Säugetiere, die eine gewisse Begabung hierfür aufweisen, wie Fledermäuse, Wale, Elefanten, Robben oder Seelöwen, erreichen nicht dasselbe Niveau wie Menschen oder manche Vögel (darunter Singvögel, Papageien und Kolibris, während andere Gruppen wie Tauben, Hühner und Eulen nicht dazu zählen). Noch erstaunlicher sind die Befunde von Wissenschaftlern wie Eric Jarvis von der Rockefeller University, die nachweisen konnten, dass stimmliches Lernen und stimmliche Lautproduktion bei Singvögeln und Menschen über gleichartige Nervenbahnen und ähnliche molekulare Mechanismen gesteuert werden – ein Ergebnis konvergenter Evolution. Das Studium der Vögel liefert uns daher wichtige Erkenntnisse über die stimmliche Kommunikation des Menschen, wenngleich der Gesang in den Ohren der Tiere nicht wie Musik oder Sprache in unserem Sinn klingt.
Vieles bleibt bei der Frage, wie Vögel Vogelgesang wahrnehmen, nach wie vor unbeantwortet. Einige Studien haben gezeigt, dass Vogelrufe bestimmte Informationen etwa über Nahrung oder Fressfeinde beinhalten, aber wir wissen derzeit nicht, ob sich Ähnliches im Vogelgesang verbirgt, etwa in dessen Feinstruktur. Des Weiteren besteht immer noch Unklarheit darüber, wie Vögel die gesangliche Feinstruktur in ihrer natürlichen Umgebung erfassen, wo der Schall von Bäumen oder Gebäuden reflektiert wird und mit einer Kakofonie an Umweltgeräuschen konkurriert.
Ferner haben Forschungsarbeiten ergeben, dass – im Gegensatz zur gängigen Ansicht – häufig auch weibliche Vögel singen. Diese Erkenntnis wirft die Frage auf, ob Männchen und Weibchen ihren Gesängen womöglich auf unterschiedliche Weise lauschen. Bei etlichen tropischen Arten singen zudem beide Geschlechtspartner kompliziert ineinander verwobene Duette, die für uns Menschen zuweilen wie die kontinuierliche Darbietung eines einzigen Vogels klingen. Wie schaffen es diese Tiere, ihren Einsatz korrekt abzupassen und zugleich die richtigen Töne zu treffen?
Wenn Sie das nächste Mal Vogelgesang hören, versuchen Sie doch, ihn weniger als eine eingängige Melodie oder einen gesprochenen Satz wahrzunehmen. Stellen Sie sich ihn stattdessen als einen schnellen, präzise koordinierten Tanz des Stimmkopfs vor, der ebenso emotionsreich und tiefsinnig wie menschliche Musik oder Sprache ist, dies aber auf eine ganz andere Weise zum Ausdruck bringt.
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