Orthorexie: Ist das noch gesund?
Dass Jordan Younger ein Problem hatte, realisierte sie bei einem Frühstück mit ihren Freundinnen. Bevor sie die Saft- und Smoothiebar betrat, wusste sie bereits, was sie bestellen würde: einen grünen Smoothie, der nur mit ein wenig Apfelsaft gesüßt war. Alles andere würde zu viel Zucker enthalten. Aber diesen Saft gab es heute nicht. »Ich starrte die Säfte, Smoothies und Rohkost 15 Minuten lang an – in Panik, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich diesen Rückschlag bewältigen sollte«, schreibt sie auf ihrem Blog »The Balanced Blonde«.
Dort berichtet die Yogalehrerin aus New York offen von ihrer Essstörung, auf deren Höhepunkt sie sich vegan, glutenfrei, ölfrei, frei von raffiniertem Zucker, mehlfrei und dressingfrei ernährte – sie nahm eigentlich nur noch Smoothies aus grünem Gemüse und etwas Obst zu sich. An einen ähnlichen Punkt gelangte Steven Bratman. Der US-amerikanische Arzt prägte 1997 als Erster den Begriff »Orthorexia nervosa« für eine möglicherweise pathologische Fixierung auf gesundes Essen und die richtige Ernährung. Bratman berichtet, wie er selbst seine Ernährung immer weiter optimierte: »Ich wurde so ein Snob, dass ich nur noch Gemüse aus eigenem Anbau aß, das maximal 15 Minuten vor Verzehr geerntet worden war. Ich ernährte mich rein vegetarisch, kaute jeden Bissen 50-mal, aß immer an einem ruhigen Ort – also alleine.«
Bücher, Zeitschriften, Fernsehen und Internet bombadieren uns geradezu mit Ernährungsratschlägen und -regeln. »Informationen darüber, dass Essen krank machen kann, sind allgegenwärtig«, schreibt die niedergelassene Psychotherapeutin Anja Gottschalk, die sich seit 15 Jahren auf Zwangs- und Essstörungen spezialisiert hat, in einem Kapitel des Buchs »Gesundheitsängste«. Das Spektrum der Bedrohung reiche von Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder Arteriosklerose über Gefahren durch chemisch belastete Nahrungsmittel (zum Beispiel durch Pestizide oder Hormone) bis hin zu Krankheitserregern, die durch die Nahrung übertragen werden, etwa Ehec oder Salmonellen. In Anbetracht all dieser Informationen erstaunt es die Psychologin nicht, dass sich immer mehr Menschen Gedanken über eine gesunde Ernährung machen. Laut Forsa-Umfragen von 2015 und 2017 ist rund 90 Prozent der Deutschen eine gesunde Ernährung wichtig. 76 Prozent der Frauen und 62 Prozent der Männer gelingt es nach eigenen Angaben, sich meistens oder fast immer gesund und ausgewogen zu ernähren.
Simon Reitmeier, Soziologe am Kompetenzzentrum für Ernährung in Bayern, hat sich in seiner Promotion mit der Sozialisation der Ernährung befasst. Er beschreibt, dass unsere Gesellschaft, die auf Effizienz und Leistungsvermögen getrimmt ist, das Bemühen um Gesundheit für alle verbindlich gemacht hat: »Ein gesunder Lebensstil im Allgemeinen und eine gesunde Ernährung im Speziellen werden zur moralischen Pflicht des Individuums. Gesundheit und Krankheit gelten nicht als schicksalhafte Bestimmung, sondern als gestaltbare beziehungsweise vermeidbare Zustände, wenn sich das Individuum an die Erkenntnisse und Ratschläge der Wissenschaft hält.« Ebenso definieren sich viele Menschen heute darüber, was oder was sie nicht essen, und fühlen sich so einer bestimmten Gruppe zugehörig oder grenzen sich von anderen ab.
»Problematisch ist nicht die Tatsache, dass sich Menschen mit ihrer Ernährung bewusster auseinandersetzen«, sagt Friederike Barthels vom Institut für Experimentelle Psychologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Die Psychologin erforscht seit 2011 das Phänomen Orthorexie. Eine ständige gedankliche Beschäftigung mit der »richtigen« Ernährung könne aber Ausmaße annehmen, die mit einem normalen Alltag nicht mehr zu vereinen sind, beispielsweise wenn jemand deutlich mehr Zeit als üblich für die Planung, Vorbereitung und den Verzehr seiner Nahrung benötigt.
Was als ungesund gilt, fliegt vom Speiseplan
Statt auf die Quantität des Essens – wie etwa bei der Anorexia nervosa – konzentrieren sich Menschen mit einem orthorektischen Ernährungsverhalten auf die Qualität der Nahrung. Alle als ungesund erachteten Lebensmittel streichen sie vom Speiseplan, zum Beispiel Fette und Kohlenhydrate oder Erzeugnisse, die pestizidbelastet oder verunreinigt sein könnten. Die Kriterien für »gesund« und »ungesund« sind dabei subjektiv gewählt und orientieren sich nur manchmal an allgemeinen Ernährungsempfehlungen. Teilweise ist das Essverhalten so einseitig und eingeschränkt, dass es zu Mangelernährung und körperlichen Beeinträchtigungen kommt. Darüber hinaus riskieren die Betroffenen soziale Isolation, weil sie etwa kaum noch Einladungen zum Essen annehmen können.
Eine Orthorexie fängt oft schleichend an und kann verschiedene Auslöser haben. Manchmal geht ihr ein Lebensmittelskandal voraus, eine Allergie, eine Unverträglichkeit oder der Versuch, ein chronisches Leiden durch gesunde Ernährung zu überwinden. Die Betroffenen verschärfen die sich selbst auferlegten Regeln aber im Lauf der Zeit immer mehr. Die Auswahl an akzeptierten Produkten wird immer kleiner, Verstöße gegen die Vorschrift lösen Anspannungen, Angst, Schuldgefühle oder Selbsthass aus. Das Krankheitsbild weist sowohl Ähnlichkeiten mit dem der Anorexie als auch mit dem von Zwangsstörungen auf. Zum Beispiel neigen Menschen mit orthorektischem Verhalten zu zwanghaften Ritualen: So schneiden und verarbeiten sie ihr Essen auf eine bestimmte Art und Weise oder wiegen die einzelnen Bestandteile akribisch ab.
Allerdings betont Friederike Barthels: »Diese Menschen haben keine Zwangsstörung. Sie beschäftigen sich zwar zwanghaft mit ihrem Essverhalten, jedoch ist die Orthorexie viel eher im Bereich der Essstörung einzuordnen. Entweder als eigene Essstörung oder als besondere Variante der Anorexie.« Eine eindeutige Klassifikation ist bislang nicht möglich. Auffällig ist auch die Parallele zur hypochondrischen Störung – die Betroffenen wollen schließlich die Gesundheit fördern oder Krankheiten vermeiden. »Menschen, die sehr krankheitsängstlich sind, versuchen eher, sich gesund zu ernähren«, bestätigt Barthels. Die Zusammenhänge seien hier jedoch noch weniger eindeutig als zwischen Orthorexie und Zwangsstörung.
Derzeit ist die Orthorexie weder im ICD-10 noch im DSM-5, den anerkannten Klassifikationssystemen für psychische Störungen, als eigenständige Diagnose aufgeführt. Die Forschung steht erst am Anfang. Zudem scheinen Betroffene auch nur selten unter ihrem besonderen Essverhalten zu leiden und sehen daher keinen Grund, etwas daran zu ändern. Stattdessen entwickeln viele von ihnen ein Überlegenheitsgefühl, da sie sich vermeintlich besser, gesünder, nachhaltiger oder sinnvoller ernähren als der Rest der Welt. Entsprechend haben einige der Betroffenen den Drang, ihre Mitmenschen zu bekehren. Bratman beschrieb dieses Phänomen bereits 1997: »Da ich mich verpflichtet fühlte, meine schwächeren Brüder zu erleuchten, unterrichtete ich fortwährend Freunde und Familie über das Übel raffinierter, verarbeiteter Lebensmittel und die Gefahren von Pestiziden und Dünger.«
Einheitliche Diagnosekriterien fehlen
Zur besseren Beschreibung der Orthorexie fehlt bisher, neben einheitlichen Diagnosekriterien, vor allem ein zuverlässiges Messinstrument. Die meisten Studien stützen sich entweder auf den »Orthorexia Self-Test« von Bratman aus dem Jahr 2000 oder auf zwei modifizierte Varianten: ORTO-15 und ORTO-11. Der ursprüngliche Test von Bratman besteht aus zehn Fragen – wer mindestens vier davon mit Ja beantwortet, gilt als Orthorektiker. Stimmt eine Person jeder Frage zu, liegt laut Bratman dringender Handlungsbedarf vor. Doch die auf diesem Fragebogen basierenden Erhebungen würden auf epidemische Ausmaße der Orthorexie hindeuten – zwischen 30 und 80 Prozent der Befragten erfüllen die Kriterien. Die bisherigen Fragebogen scheinen demnach eher eine allgemeine Tendenz zu einer gesundheitsbewussten Ernährung zu messen. Außerdem dürften manche der Fragen wie etwa »Essen Sie allein?« im ORTO-15 die Symptome der Orthorexie nicht spezifisch genug erfassen. Personen, die allein wohnen, würden hier schließlich ebenso mit Ja antworten. Barthels und ihr Team haben daher in einem mehrstufigen Verfahren mit Hilfe von Faktorenanalysen ein neues Messinstrument entwickelt: die »Düsseldorfer Orthorexie-Skala« (siehe »Beispiele aus dem Orthorexie-Fragebogen«). Der Fragebogen ist mittlerweile umfassend evaluiert.
In einer Stichprobe von 1340 Probanden zeigten drei Prozent der Befragten ein orthorektisches Essverhalten. Das Verfahren erfasst laut Barthels den möglicherweise pathologischen oberen Extrembereich einer gesundheitsbewussten Ernährung.
Der starke Anstieg an »Healthy-Lifestyle-Propaganda«, insbesondere in den sozialen Medien, könnte dazu führen, dass die Zahl der Orthorektiker noch zunimmt. So leiden Menschen, die viel Zeit in sozialen Netzwerken verbringen, auch häufiger unter Depressionen, Ängsten, Ess- und Schlafstörungen, sie haben ein geringeres Selbstwertgefühl, mehr Probleme mit ihrem Körperbild und neigen verstärkt dazu, sich mit anderen zu vergleichen. 2017 veröffentlichten Pixie Turner und Carmen Lefevre vom University College London eine erste Studie, die darauf hinweist, dass Menschen, die oft die Foto- und Videoplattform Instagram nutzen, häufiger Symptome einer Orthorexie aufweisen.
Die beiden Autorinnen erklären, der so genannte Echokammer-Effekt der sozialen Medien greife nicht nur bei politischen Themen, sondern auch im Bereich Gesundheit. Dabei nehmen Nutzer ihre Werte und Ansichten als sehr viel verbreiteter wahr, als diese tatsächlich sind, da sie sich nur mit Gleichgesinnten austauschen. So bestärken sie sich gegenseitig und spornen sich zu immer strengeren Essensregeln an, ohne die Restriktionen kritisch zu hinterfragen, die häufig jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren. Vor allem halten Turner und Lefevre es für problematisch, dass selbst ernannte Ernährungsgurus ohne entsprechende Ausbildung über soziale Medien wie Instagram als »Influencer« hunderttausende Nutzer erreichen und ihnen vorleben, wie die einzig gesunde Ernährung auszusehen habe. Die »Follower« würden durch sie ermutigt, verschiedene Lebensmittelgruppen kategorisch abzulehnen, was zu einem unausgewogenen Essverhalten führen könne. Auch in Deutschland ist die Bezeichnung »Ernährungsberater« nicht geschützt. Die Psychologin Friederike Barthels sieht solche Entwicklungen kritisch, allerdings schränkt sie ein: »Niemand bildet nur auf Grund eines Ernährungsratgebers oder nur durch Facebook oder Instagram eine Essstörung aus – und das ist bei Orthorexie ganz genauso.«
Die Suche nach möglichen Ursachen der Orthorexie steht noch am Anfang. Wichtiger ist es laut Friederike Barthels jedoch zuerst, Diagnosekriterien zu entwickeln und das Gefahrenpotenzial gründlich abzuschätzen: »Schließlich wissen wir nicht, ob Orthorexie tatsächlich eine Krankheit ist oder nur ein besonderes Essverhalten.« Es sei ja zunächst einmal vollkommen in Ordnung, wenn sich Menschen anders ernähren als der Durchschnitt.
Genau daran sollten sich Freunde und Angehörige erinnern, wenn der Verdacht entsteht, eine Person aus dem näheren Umfeld könnte eine Orthorexie entwickelt haben. Prinzipiell ist ein bewusstes oder ausgefallenes Essverhalten nicht schädlich. »Erst wenn die Person abgemagert oder anhaltend erschöpft und ungesund aussieht, sollte man darüber nachdenken, sie auf ihre Ernährung anzusprechen«, so Barthels. Zu beachten sei dabei immer, dass eine schlechtere körperliche Verfassung nicht allein dem Essverhalten geschuldet sein muss. Leiden die Betroffenen unter ihren strengen Ernährungsregeln, kann ihnen neben einer kognitiven Verhaltenstherapie auch eine Ernährungsberatung dabei helfen, falsche Überzeugungen abzubauen. Zusätzlich, glaubt Barthels, sei es wichtig, der Ernährung keinen alles überragenden Stellenwert für unsere Gesundheit einzuräumen: »Um gesund zu sein, kommt es nicht nur auf die richtige Ernährung an. Es ist genauso wichtig, dass wir Freunde haben, ein funktionierendes soziales Umfeld, einen erfüllenden Beruf und Hobbys, die uns Spaß machen.«
Beispiele aus dem Orthorexie-Fragebogen
Die von Friederike Barthels und Kollegen entwickelte »Düsseldorfer Orthorexie-Skala« enthält zehn Aussagen. Anhand einer vierstufigen Antwortskala schätzen die Befragten ein, wie gut diese ihr Ernährungsverhalten der letzten Woche beschreiben. Die folgenden drei Beispiele ermöglichen ebenso wie der gesamte Fragebogen keine Selbstdiagnose. Die Ergebnisse sollten bei Bedarf mit einem Psychologen oder Arzt besprochen werden.
1. Es fällt mir schwer, gegen meine Ernährungsregeln zu verstoßen.
2. Dass ich gesunde Nahrungsmittel zu mir nehme, ist mir wichtiger als Genuss.
3. Meine Gedanken kreisen ständig um gesunde Ernährung, und ich richte meinen Tagesablauf danach aus.
Z. Kl. Psych. Psychoth. 44, S. 97–105, 2015
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