Menschenaffen: Oskar bald allein zu Haus?
Ab dem 9. Mai streift der kleine Schimpanse Oskar durch die deutschen Kinos. Er ist der Star in Walt Disneys neuem Kinofilm "Schimpansen" und lebt mit seiner großen Affenfamilie im Taï-Nationalpark der westafrikanischen Elfenbeinküste. Die Filmaufnahmen wilder Schimpansen haben Forscher des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie ermöglicht. Christophe Boesch, Leiter der Abteilung Primatologie, hat mit seinem Team in jahrelanger Arbeit wilde Schimpansen an den Menschen gewöhnt. So wurde er zum Wegbereiter für die Hollywood-Karriere von Oskar, der als Dreijähriger seine Mutter verliert und später vom Alpha-Schimpansen Freddy adoptiert wird. "Schimpansen" ist kein Dokumentarfilm, aber Boesch und seine Kollegen halfen den Kameraleuten nicht nur, die Tiere im dichten Regenwald zu finden, sondern achteten auch darauf, dass die wissenschaftlichen Fakten im Film korrekt dargestellt werden.
Nicht allen Schimpansen wird so viel Aufmerksamkeit zuteil wie Filmstar Oskar. Seine einst große Menschenaffenfamilie wird jeden Tag kleiner. Die Gründe dafür sind vielfältig: Schimpansen landen im Kochtopf, sie werden als Haustier im Käfig oder an Ketten gehalten, ihr Lebensraum verkleinert sich von Jahr zu Jahr, und Krankheiten wie Ebola fordern einen hohen Tribut. "Wir erleben in Afrika einen Verlust von Artenvielfalt im Zeitraffer", sagt Hjalmar Kühl, Leiter der Natur- und Artenschutzgruppe am Leipziger Max-Planck-Institut. Er sammelt seit Jahren Daten über die Affenbestände und hat dazu selbst immer wieder mehrere Monate im afrikanischen Dschungel verbracht. Über die Lage der Schimpansen in Oskars Heimatland sagt er: "In der Elfenbeinküste sind seit 1990 über 90 Prozent der Schimpansen getötet worden. Wahrscheinlich gibt es dort außerhalb der Schutzgebiete keine überlebensfähigen Populationen mehr, und selbst im Taï-Nationalpark ist die Zahl der Tiere in den letzten fünf Jahren von über 500 auf unter 300 geschrumpft."
"In der Elfenbeinküste sind seit 1990 über 90 Prozent der Schimpansen getötet worden. Wahrscheinlich gibt es dort außerhalb der Schutzgebiete keine überlebensfähigen Populationen mehr, und selbst im Taï-Nationalpark ist die Zahl der Tiere in den letzten fünf Jahren von über 500 auf unter 300 geschrumpft."
Hjalmar Kühl
Für Afrikas Menschenaffen wird es eng. Das verdeutlicht auch eine im September letzten Jahres veröffentlichte Studie unter Federführung des Leipziger Max-Planck-Instituts [1]. Zahlreiche Wissenschaftler und Naturschützer haben dafür über 15 000 Aufenthaltsorte von Schimpansen, Gorillas und Bonobos in ganz Afrika unter die Lupe genommen. Die Daten zeigen, dass die Menschenaffen allein in den letzten 20 Jahren ein Drittel ihres ursprünglichen Lebensraums eingebüßt haben: gut 200 000 Quadratkilometer – die dreifache Fläche Bayerns. Sogar die riesigen, einst abgelegenen Waldgebiete Zentralafrikas sind inzwischen vielerorts von Forst- und Bergbaustraßen durchzogen. Über die Straßen dringen die Menschen immer tiefer in den Wald ein, meist mit desaströsen Folgen für die Wildtiere. Gabun etwa hat in den letzten 30 Jahren mehr als die Hälfte der Menschenaffen verloren, obwohl es als Musterland beim Schutz seiner ausgedehnten Regenwälder gilt.
Von den vier in Afrika lebenden Menschenaffenarten – Schimpansen, Bonobos, Westliche und Östliche Gorillas – sind die Schimpansen am anpassungsfähigsten. Die meisten der 150 000 verbliebenen Schimpansen sind im tropischen Regenwald zu Hause, sie kommen aber im Gegensatz zu Gorillas und Bonobos auch in den trockeneren Baumsavannen zurecht. Außerdem schützt sie ihr Sozialverhalten besser vor Wilderern, denn Schimpansen verteilen sich weit über ihr Territorium, meist sind nicht alle Tiere einer Gruppe am gleichen Ort. Wer hingegen einen der imposanten Silberrücken, das Oberhaupt einer Gorillafamilie, gefunden hat, der kann ohne Mühe auch den Rest der Gruppe töten, denn alle Tiere einer Familiengruppe halten sich nah beieinander auf. Hinzu kommt, dass die Demokratische Republik Kongo, die Heimat aller Bonobos und eines Großteils der Östlichen Gorillas, seit Jahren einer Anarchie gleicht. Schutzmaßnahmen können dort nur schwer oder überhaupt nicht durchgeführt werden. Die Bonobos wurden auf 15 000 Tiere dezimiert, vom Westlichen Gorilla leben noch etwa 80 000 und vom Östlichen Gorilla sind wohl nicht mehr als ein paar tausend Tiere übrig.
Evidenzbasierter Naturschutz
Viele Primatenforscher wollen nicht länger tatenlos zusehen, wie ihre Forschungsobjekte von der Erdkugel verschwinden. Ein viel versprechender neuer Ansatz ist in den Augen von Kühl der so genannte evidenzbasierte Naturschutz. Analog zur evidenzbasierten Medizin, bei der Behandlungsmethoden und Arzneimittel in klinischen Studien empirisch auf ihre Wirksamkeit getestet werden, sollen nun auch Naturschutzmaßnahmen verstärkt auf den wissenschaftlichen Prüfstand gestellt werden.
Die Idee wurde Anfang des Jahrtausends von britischen Wissenschaftlern entwickelt, die in ihren Studien festgestellt hatten, dass sich Naturschutzmanager bei ihren Entscheidungen überwiegend auf "gesunden Menschenverstand", "eigene Erfahrungen" oder "Erfahrungen von Kollegen" stützten [2]. Ziel des evidenzbasierten Naturschutzes ist es aber nicht, Praxiserfahrungen auszuschließen; vielmehr sollen alle verfügbaren Informationen routinemäßig erfasst und in einer Datenbank zugänglich gemacht werden: eine systematische Evaluierung, die dann wiederum Naturschützern und Politikern als Entscheidungsgrundlage dienen kann. Hjalmar Kühl ist überzeugt: "Wenn wir mit den begrenzten Ressourcen einen möglichst effektiven Artenschutz erreichen wollen, müssen wir die Schutzkonzepte ständig kritisch überprüfen. Wir müssen wissenschaftlich fundiert beantworten können, was funktioniert und was nicht."
Die Max-Planck-Forscher untersuchten in einer 2011 veröffentlichten Studie die Wirksamkeit von Managementmethoden in über 100 Schutzgebieten mit Menschenaffenvorkommen [3]. Die Daten aus 16 afrikanischen Ländern wurden über einen Zeitraum von 20 Jahren erhoben und statistisch ausgewertet: Am besten ergeht es den Menschenaffen dort, wo bewaffnete Wildhüter patrouillieren, Forscher die Tiere beobachten (wie auch in einer weiteren Studie bestätigt, siehe [4]), Touristen durch den Dschungel pirschen und Nichtregierungsorganisationen vor Ort aktiv sind. Die Studie belegt, dass jede dieser Aktivitäten Menschenaffen rettet, sofern sie langfristig durchgeführt wird. Als noch effektiver erwies sich die Kombination der verschiedenen Akteure. Eine weitere Studie prüfte die Wirksamkeit so genannter "extremer Schutzmaßnahmen" am Beispiel der Virunga-Berggorillas im Dreiländereck Ruanda, Uganda und DR Kongo [5]. Dort wird ein großer Teil der Gorillagruppen tagsüber ständig von bewaffnetem Sicherheitspersonal bewacht und wenn nötig auch tierärztlich behandelt. Derart geschützt, haben sich die Gorillas seit 1981 von 250 auf fast 400 Tiere vermehrt. Der hohe Personalaufwand wird hauptsächlich durch den Naturtourismus finanziert. In Ruanda besuchten im Jahr 2008 knapp 20 000 Touristen die Virunga-Gorillas und spülten dem Land allein mit den Nationalparkgebühren über sechs Millionen Euro in die Kassen.
Die meisten Menschenaffen in Afrika können aber nicht auf solche aufwändigen Schutzmaßnahmen zählen. Viele sind Wilderern und dem Lebensraumverlust völlig schutzlos ausgeliefert. Denn effektive Schutzmaßnahmen kosten Geld, und das ist im Naturschutz notorisch knapp. Neben finanzieller Hilfe könnten in Europa aber noch andere Hebel betätigt werden, ist Christophe Boesch überzeugt: "Die politisch Verantwortlichen in Deutschland und der EU müssen Umwelt- und Artenschutz wirklich ernst nehmen. Sie sollten zum Beispiel nachhaltige Regenwaldprodukte fördern, wie etwa durch das FSC-Siegel zertifizierte Produkte. Bislang wird zwar gegen den illegalen Holzhandel vorgegangen, aber das trägt noch nichts zur Nachhaltigkeit bei", sagt Boesch und kritisiert: "Nicht nachhaltig geführte Plantagen für Palmöl, Kautschuk, Kakao und Kaffee, teilweise unterstützt durch die Deutsche Regierung, haben direkt dazu beigetragen, den Rückgang des Regenwalds in den letzten fünf bis zehn Jahren noch zu beschleunigen."
"Nicht nachhaltig geführte Plantagen für Palmöl, Kautschuk, Kakao und Kaffee, teilweise unterstützt durch die Deutsche Regierung, haben direkt dazu beigetragen, den Rückgang des Regenwalds in den letzten fünf bis zehn Jahren noch zu beschleunigen."
Christophe Boesch
Boesch, der 1976 mit der Schimpansenforschung in der Elfenbeinküste begann, ist Zeuge der dramatischen Entwicklungen: "Als ich zum ersten Mal in Taï ankam, musste ich 100 Kilometer durch tropischen Regenwald fahren, um die Grenzen des Nationalparks zu erreichen. Unterwegs begegnete ich oft Elefanten und Schimpansen. Heute muss ich bis zur Parkgrenze fahren, um überhaupt Regenwald zu sehen."
Die Menschenaffenforscher in Leipzig hoffen, dass der Disney-Film die Kinobesucher aufrütteln wird, auch wenn er keines der drängenden Probleme seiner Filmstars thematisiert. Disney selbst geht mit gutem Beispiel voran und spendet einen Teil der Filmeinnahmen für Schutzprojekte. Damit der Schimpansenjunge Oskar eine Zukunft in der Wildnis Afrikas hat.
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