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Ozeane: Wenn Algen zu Giftwaffen werden

Manche Meeresalgen produzieren hochwirksame Nervengifte, die sich in der Nahrungskette anreichern und auch für Menschen tödlich sein können. Erst allmählich verstehen Wissenschaftler, wie diese Einzeller ihre Waffen einsetzen - und wann sie besonders gefährlich werden.
Ente schwimmt durch Algenblüte

Mit vielen Risiken rechnet man wohl, wenn man sich auf eine abenteuerliche Expeditionsfahrt in unbekannte Gewässer begibt. Aber tödliche Muscheln? Diese Bedrohung dürfte der britische Seefahrer George Vancouver wohl kaum auf dem Schirm gehabt haben, als er 1793 die Küste von British Columbia erkundete. Und doch sollte eine scheinbar harmlose Meeresfrüchtemahlzeit ein Mitglied seiner Besatzung das Leben kosten. Offenbar hatte sich der Mann dabei eine tödliche Vergiftung zugezogen, die Mediziner heute als "paralytische Muschel- und Krabbenvergiftung" kennen. Ausgelöst wird sie von einer Gruppe hochwirksamer Nervengifte, den "paralytischen Muscheltoxinen" ("Paralytic Shellfish Toxins", PST). Das bekannteste davon ist das Saxitoxin, von dem schon weniger als ein Milligramm einen erwachsenen Menschen töten kann.

Vancouvers Berichten zufolge scheinen die kanadischen Ureinwohner diese Gefahr schon damals gekannt zu haben. Wenn nachts leuchtende Algenteppiche im Meer trieben, galten Muschelgerichte bei den Einheimischen als tabu. Und das war eine durchaus sinnvolle Vorsichtsmaßnahme. Denn bei diesen Teppichen kann es sich um Massenentwicklungen von Einzellern der Gattung Alexandrium handeln. Diese produzieren das Saxitoxin, das sich dann in der Nahrungskette anreichert.

Leuchtalgen | Manchen indigenen Völkern signalisieren Teppiche aus leuchtenden Algen, dass es gerade nicht gut wäre, Meeresfrüchte zu essen. Denn Algenblüten können Muscheln und Fische vergiften und damit auch Menschen schaden.

Muscheln zum Beispiel können während einer solchen Algenblüte in einer einzigen Stunde viele Millionen Einzeller mitsamt ihrer gefährlichen Fracht aus dem Wasser filtern. An den Giften sterben sie in der Regel nicht, sie deponieren sie aber oft in hohen Konzentrationen in ihrem Körper. Und dann wird es gefährlich für Meeresfrüchtefans. Weltweit handeln sich jedes Jahr fast 2000 Menschen beim Verzehr von belasteten Muscheln oder Fischen eine Vergiftung ein, rund 15 Prozent dieser Fälle enden tödlich – und die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Auch für Fische und Seevögel, Schildkröten und Meeressäuger kann so eine Mahlzeit fatale Folgen haben. Von den wirtschaftlichen Schäden für Fischerei und Aquakulturen gar nicht zu reden. Zu gern würden Wissenschaftler daher besser verstehen, wie solche für Mensch und Tier gefährlichen Massenentwicklungen zu Stande kommen. Doch die Biologie der Giftblüten steckt noch immer voller Rätsel.

Gifte gegen Vegetarier

Derzeit kennen Experten ungefähr 100 Algenarten, die toxische Verbindungen produzieren können. Damit sind die Giftmischer eine verschwindend kleine Minderheit unter den mehr als 10 000 bekannten Algenspezies der Weltmeere. Viele Mitglieder in diesem exklusiven Klub gehören wie die Gattung Alexandrium zur Gruppe der Dinoflagellaten oder "Panzergeißler". Doch auch einige Rot- und Kieselalgen haben gefährliche Substanzen im Programm. Die Gifte der verschiedenen Produzenten rufen dabei je nach Art und Dosis unterschiedliche Symptome hervor. Das Spektrum reicht von Verdauungsbeschwerden und Gedächtnisverlust bis zu Herzversagen und Atemstillstand.

Was aber treibt die Einzeller eigentlich dazu, sich ein derartiges Arsenal an gefährlichen Substanzen zuzulegen? Schon länger ist bekannt, dass bestimmte äußere Umstände die Giftigkeit fördern. Entscheidend ist zum Beispiel, welche Nährstoffe das Wasser enthält. Wenn sich Dinoflagellaten vermehren, bauen sie Stickstoff und Phosphor im Verhältnis 16 zu 1 in ihre Zellbestandteile ein. Da es vielerorts aber Stickstoff im Überfluss gibt, wird den Einzellern mit der Zeit der Phosphor knapp. Die Algen hören daraufhin auf, sich zu vermehren. Ihr Stoffwechsel arbeitet jedoch nach wie vor auf Hochtouren und wandelt den überschüssigen Stickstoff in verschiedene Verbindungen um – darunter auch Saxitoxin, das 30 Prozent Stickstoff, aber keinen Phosphor enthält. Bei Phosphormangel steigert zum Beispiel die Art Alexandrium tamarense ihre Giftproduktion um ein Vielfaches.

Lange konnte allerdings niemand so recht erklären, wozu diese Substanzen überhaupt gut sind. Sonderlich wirksame Abwehrwaffen scheinen sie auf den ersten Blick nicht zu sein, wenn Muscheln massenweise Giftalgen schadlos aus dem Wasser filtern können. Doch es gibt ja auch noch andere Feinde. Die winzigen Ruderfußkrebse zum Beispiel sind nicht nur eifrige Algenfresser, sondern gehören zu den häufigsten Organismen des marinen Zooplankton – sie sind also ernst zu nehmende Gegner, gegen die eine wirksame Abwehrstrategie gefragt ist. Zwar scheinen sich manche Arten dieser Minikrebse von Saxitoxin und Co kaum beeindrucken zu lassen. Bei anderen aber haben die Gifte in verschiedenen Studien durchaus Wirkung gezeigt. Die betroffenen Tiere litten zum Beispiel unter nachlassendem Appetit, einer geringeren Fruchtbarkeit oder Entwicklungsstörungen, manche starben sogar. Und etliche Arten der gefräßigen Vegetarier scheinen toxische Algen zu meiden, wenn sie ungiftige Alternativen haben. Also können sich die besser verteidigten Giftmischer auch besser vermehren, mitunter sogar massenhaft.

Verräterische Spuren im Wasser

Allerdings ist die Bedrohung durch hungrige Krustentiere nicht immer gleich groß. Schließlich entwickelt sich dieses Zooplankton in Zyklen und hält sich zudem im Verlauf des Tages oft in unterschiedlichen Wassertiefen auf. Daher lauern zu bestimmten Tages- und Jahreszeiten viel mehr Feinde auf schmackhafte Algen als zu anderen. Da wäre es gut, wenn die potenziellen Opfer auf die tatsächliche Gefahr reagieren könnten, statt ständig Energie für teure Abwehrwaffen zu verpulvern.

Tatsächlich bescheinigen Erik Selander von der Universität im schwedischen Göteborg und seine Kollegen den Giftmischern der Meere ein erstaunliches Maß an Flexibilität: Wenn Ruderfußkrebse anwesend sind, produzieren zum Beispiel die Dinoflagellaten der Art Alexandrium minutum bis zu zweieinhalb Mal mehr Gift als sonst. Und auch etliche andere toxische Algen können ihre Produktion bei Bedarf kräftig ankurbeln. Wie aber merken sie eigentlich, wann das nötig ist? Auch auf diese Frage haben die schwedischen Forscher in ihrer jüngsten Studie eine Antwort gefunden. Demnach sind Dinoflagellaten gerissene Spione, die ihre Gegner sehr effektiv ausspähen können. Da sie wie die meisten Planktonlebewesen keine hoch entwickelten Sehorgane besitzen, müssen sie sich dabei auf ihren chemischen Sinn verlassen. Und der reagiert offenbar auf Substanzen, die ihre Feinde ins Wasser abgeben.

Algenblüte in der Ostsee | Alle Jahre wieder im Sommer blüht die Ostsee auf: Zyanobakterien vermehren sich massenhaft und durchziehen das Meer mit grünem Schleim. Sterben sie massenweise ab, entstehen oft sauerstoffarme Todeszonen.

Die Forscher haben acht solcher chemischen Verräter entdeckt, die sie nach dem lateinischen Namen der Ruderfußkrebse auf den Namen "Copepodamide" getauft haben. Dabei handelt es sich um kleine Moleküle, die aus der organischen Säure Taurin und verschiedenen Fettsäuren bestehen. Ähnliche Verbindungen waren bisher nur aus einzelligen Tieren, Meeresschwämmen und Seeigeln bekannt. Wozu die Ruderfußkrebse sie brauchen, weiß noch niemand. Möglicherweise spielen sie eine Rolle bei der Verdauung.

Für Alexandrium minutum jedenfalls sind diese Substanzen ein Signal für tödliche Gefahr: Schon winzigste Mengen im Wasser quittierten die Einzeller in den Experimenten der schwedischen Forscher mit einer bis zu 20-fach erhöhten Giftproduktion. Da jede Krebsart einen etwas anderen Cocktail von Copepodamiden absondert, können sie ihre Gegner sogar voneinander unterscheiden. Während manche Arten in den Laborversuchen nur eine schwache Reaktion auslösten, trieben andere die kleinen Giftmischer zu Höchstleistungen an.

Doch kann sich das im Meer tatsächlich bemerkbar machen? Um das herauszufinden, haben die Wissenschaftler die Vorkommen von Krustentieren und ihren Ausscheidungen im Skagerrak untersucht. In diesem Teil der Nordsee schwimmen vor allem im Spätherbst riesige Mengen eines Ruderfußkrebses namens Calanus finmarchicus, der dann der häufigste Vertreter seiner Verwandtschaft ist. Allein diese Population sollte nach Einschätzung der Forscher genügend verräterische Botenstoffe absondern, um die Giftigkeit der Algen zu verdoppeln.

Waffen für jede Gelegenheit

Solche Effekte könnten also durchaus zu einem häufigeren Auftreten von für Mensch, Tier und Wirtschaft problematischen Algenblüten führen. Zumal Krebse offenbar nicht die einzigen Feinde sind, die einzellige Giftproduzenten auf Trab bringen. So hat ein Team um Hans Dam von der University of Connecticut in den USA kürzlich getestet, wie Alexandrium fundyense auf verschiedene Feinde reagiert. Dieser berüchtigte Dinoflagellat macht zum Beispiel vor der Nordostküste der USA immer wieder mit großflächigen Massenentwicklungen von sich reden und ist damit zum Albtraum der dortigen Muschelzüchter geworden. Im Labor haben die Forscher ihn nicht nur mit Ruderfußkrebsen konfrontiert, sondern auch mit verschiedenen Muscheln und den zu den Manteltieren gehörenden Seescheiden. Zudem waren Wimperntierchen und räuberisch lebende Dinoflagellaten als einzellige Gegner am Start.

Alle untersuchten Mehrzeller brachten die Algen in diesem Versuch dazu, die Produktion von paralytischen Muscheltoxinen anzukurbeln. Besonders stark war dieser Effekt, wenn es die Dinoflagellaten mit Seescheiden zu tun hatten. Auf die reagierten sie im Durchschnitt zweieinhalb Mal so stark wie auf alle anderen untersuchten Tiergruppen. Und das könnte gerade in den USA fatale Folgen haben, befürchten die Forscher. Vor Neuengland zum Beispiel gibt es zahlreiche Küstenlebensräume, in denen Seescheiden das Bodenleben dominieren. Und genau dort kommen auch immer wieder Massenentwicklungen von Dinoflagellaten vor, die auf diese Nachbarschaft besonders giftig reagieren könnten.

Weichtiere wie die im Versuch getesteten Mies- und Sandklaffmuscheln lösen zwar nicht ganz so heftige Reaktionen aus, haben aber immer noch einen deutlich messbaren Effekt. Auch sie können also die Toxinproduktion verstärken und dadurch immer größere Giftmengen in ihrem eigenen Körper anreichern. Möglicherweise werden sie dadurch nicht nur zur tödlichen Gefahr für ihre Konsumenten, sondern nehmen irgendwann auch selbst Schaden. Wenn sie dann immer weniger Algen aus dem Wasser filtern, kann die giftige Blüte noch größere Dimensionen annehmen – ein Teufelskreis.

Einen Hoffnungsschimmer scheinen auf den ersten Blick allerdings die einzelligen Algenfresser zu bieten. Diese lösten in den Versuchen keine verstärkte Giftantwort aus – vermutlich, weil sie kein Nervensystem besitzen, an dem die Toxine angreifen könnten. Räuberische Dinoflagellaten und Wimperntierchen könnten die Giftblüten also eher eindämmen, als sie noch gefährlicher zu machen, schließen die Forscher. Allerdings scheinen die tückischen Algen auch gegen diese Gegner eine Waffe gefunden zu haben. Mehrfach haben Wissenschaftler beobachtet, dass Einzeller sterben, wenn sie Alexandrium-Arten fressen – egal, ob diese nun paralytische Muscheltoxine produzieren oder nicht. Was dahintersteckt, haben Hans Dam und seine Kollegen ebenfalls untersucht. Demnach produziert Alexandrium tamarense neben seinen bekannten Nervengiften auch noch so genannte reaktive Sauerstoffspezies. Diese aggressiven Substanzen zerstören die Zellwände der einzelligen Räuber und verurteilen sie damit zum Tod.

Algen auf dem Vormarsch

So schaffen sich die kleinen Giftmischer beste Voraussetzungen, um sich massenhaft zu vermehren. Und es könnte durchaus sein, dass der Mensch ihnen das Leben in letzter Zeit noch leichter gemacht hat. Zwar sind toxische Algenblüten nichts Neues. Nicht nur George Vancouvers Männer haben damit leidvolle Erfahrungen gemacht, auch in Europa sind solche Phänomene seit mehr als 100 Jahren bekannt. Doch es gibt Indizien dafür, dass sie etliche Meeresregionen rund um die Welt mittlerweile immer häufiger heimsuchen.

Für die chinesischen Küstengewässer zum Beispiel verzeichnen Meeresforscher um Douding Lu vom Labor für Marine Ökosysteme und Biogeochemie in Hangzhou seit den 1970er Jahren eine massive Zunahme dieser Ereignisse. Rund 60 Giftblüten registrieren die Behörden dort mittlerweile pro Jahr, darunter auch sehr großflächige, die sich über mehr als 1000 Quadratkilometer erstrecken. Und gerade in den letzten beiden Jahrzehnten haben Meeresbiologen in China auch mehr giftige Algenarten gefunden als je zuvor. Nach Einschätzung der Forscher stecken hinter dieser Entwicklung gleich mehrere Faktoren. Einer davon ist die zunehmende Nährstoffbelastung der Küstengewässer durch Landwirtschaft und Abwässer. An der Mündung des Jangtsekiang hat sich die Nitratkonzentration innerhalb von 40 Jahren verdreifacht. Und es gibt eine ganze Reihe von giftigen Algenarten, die von einem solchen Düngerschub profitieren können. Zudem sind im Ballastwasser von Schiffen eine ganze Reihe neuer Giftmischer in Chinas Gewässer eingereist.

Ähnliche Effekte werden für viele andere Meeresregionen diskutiert. Zwar kann es durchaus sein, dass Fortschritte in der Messtechnik und die Zunahme von giftanfälligen Aquakulturen einfach mehr Aufmerksamkeit auf die toxischen Algenblüten gelenkt haben. Nach Ansicht der meisten Experten ist es aber sehr wahrscheinlich, dass der Mensch diese Ereignisse tatsächlich fördert. Neben der Überdüngung der Meere könnte dabei auch der Klimawandel eine Rolle spielen. Im Nordatlantik sowie in der Nord- und Ostsee gibt es Hinweise darauf, dass steigende Wassertemperaturen zu einer Zunahme der Dinoflagellaten geführt haben und dass diese Organismen früher im Jahr dort auftauchen.

Bislang fehlt es allerdings an Langzeitbeobachtungen, um solche möglichen Trends und ihre Folgen besser einschätzen zu können. Und ein Blick in die Zukunft ist noch schwieriger. Zumal nicht nur steigende Temperaturen, sondern ebenso zahlreiche indirekte Effekte des Klimawandels zu mehr Algenwachstum führen könnten, etwa Veränderungen der Schichtungs- und Strömungsverhältnisse im Wasser. Oder kräftigere Niederschläge, durch die in einigen Regionen die Flüsse anschwellen und so mehr Nährstoffe ins Meer schwemmen könnten. Es lohnt sich jedenfalls, die Giftmischer der Ozeane im Auge zu behalten – gerade jetzt: mehr als 200 Jahre nach dem ersten dokumentierten Opfer einer tödlichen Muschelvergiftung.

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