Direkt zum Inhalt

»Ozempic-Babys«: Unerwartet schwanger durch Abnehmspritzen?

In sozialen Medien berichten Frauen von unerwarteten Schwangerschaften, nachdem sie Abnehmmedikamente wie Wegovy oder Ozempic nutzten. Wissenschaftlich ist das noch nicht belegt, aber plausibel.
ein Foto zeigt eine Schwangere in weißem Trägertop und schwarzer Hose, die auf dem Sofa sitzt und die Hände vor dem. Babybauch verschränkt hat. Das Gesicht ist nicht zu sehen.
Es gibt mehrere denkbare Erklärungen, wie Abnehmmedikamente die Wahrscheinlichkeit für eine Schwangerschaft erhöhen könnten.

Die Medikamente Ozempic und Wegovy, entwickelt zum Abnehmen und zur Behandlung von Diabetes und vor einigen Monaten auch in Deutschland zugelassen, sind mittlerweile in zahlreichen Haushalten zu finden. Doch seit einiger Zeit berichten Frauen in den sozialen Medien über ungeplante Schwangerschaften während der Behandlung mit den Abnehmspritzen – und sprechen in Anlehnung an die Medikamente von ihren »Ozempic-Babys«. Einige Frauen berichten, trotz Einnahme der Antibabypille schwanger geworden zu sein. Andere hatten zuvor die Diagnose erhalten, unfruchtbar zu sein, wurden aber nach der Einnahme des Medikaments schwanger.

Fachleute halten die Berichte für plausibel. Es gibt gleich mehrere Hypothesen, warum die Medikamente die Fruchtbarkeit steigern könnten. Noch liegen aber nicht genügend Daten vor, um den genauen Mechanismus zu entschlüsseln. Die als Abnehmspritzen bekannt gewordenen Medikamente gehören zur Gruppe der so genannten GLP-1-Rezeptor-Agonisten. »Wir verfügen kaum über Daten, die den Zusammenhang zwischen GLP-1 und Fruchtbarkeit sowie Schwangerschaft betreffen«, sagt Beverly Tchang, eine Endokrinologin an der Weill Cornell Medicine in New York.

Ozempic und Wegovy setzen im Körper eine synthetische Variante des natürlich vorkommenden Hormons Glucagon-like Peptide 1 (GLP-1) frei. Dieses vermittelt das Sättigungsgefühl nach dem Essen. Das Medikament bindet an denselben Rezeptor wie das Hormon, wird aber langsamer abgebaut, so dass der Appetit länger unterdrückt wird.

Als GLP-1-Rezeptor-Agonisten vor einigen Jahren in den USA zur Gewichtsregulierung zugelassen wurden, stieg die Nachfrage sprunghaft an. Der erste Wirkstoff, Semaglutid, wird von der Firma Novo Nordisk unter dem Handelsnamen Wegovy zur Gewichtsabnahme verkauft und war vorher bereits unter dem Markennamen Ozempic zur Behandlung von Diabetes Typ II auf dem Markt. Darauf folgte Tirzepatid, ein Medikament des Herstellers Eli Lilly, das ebenfalls auf den GLP-1-Rezeptor sowie eine weitere Rezeptorsorte abzielt.

Wie ein Sprecher von Novo Nordisk erklärte, wurde Semaglutid nicht an Schwangeren oder Personen, die schwanger werden wollen, getestet. Daher gibt es keine Daten aus klinischen Studien, wie der Stoff bei Schwangeren wirkt – und folglich auch nicht, wie er das ungeborene Kind beeinflusst. Das Unternehmen empfiehlt daher, das Medikament zwei Monate vor einer Schwangerschaft abzusetzen, um den Fötus nicht der Wirkung des Arzneistoffs auszusetzen: »Wegovy könnte Ihr ungeborenes Kind schädigen«, warnt die Firma vorsichtshalber.

Erklärung 1: Fruchtbar durch Gewichtsreduktion

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchen die Frage, ob der GLP-1-Rezeptor mit unerwarteten Schwangerschaften in Verbindung stehen könnte. Bei übergewichtigen Personen ist häufig der Menstruationszyklus gestört, ausgelöst durch ein hormonelles Ungleichgewicht oder Entzündungen. »Das weibliche Reproduktionssystem reagiert sehr empfindlich auf den Stoffwechsel, den Energiehaushalt und die Ernährung«, sagt Nicole Templeman, Zellbiologin an der University of Victoria in Kanada. Nehmen die Frauen infolge der Einnahme von GLP-1-Rezeptor-Agonisten ab, könnte sich dadurch bei einigen wieder ein regelmäßiger Eisprung einstellen.

Die Auswirkungen könnten aber über die Gewichtsreduktion hinausgehen, gibt Templeman zu bedenken. »GLP-1-Rezeptoren wirken auch selbst auf das Reproduktionssystem, und zwar offenbar unabhängig von einer Gewichtsabnahme«, sagt die Wissenschaftlerin.

Erklärung 2: Die Pille wirkt nicht mehr richtig

So berichten Frauen, während der Behandlung mit GLP-1-Rezeptor-Agonisten trotz der Einnahme oraler Verhütungsmittel schwanger geworden zu sein. Wer oral verhüte, sollte nach Beginn der Behandlung mit Tirzepatid oder bei einer Erhöhung der Dosis eine zusätzliche Verhütungsmethode anwenden, rät der Tirzepatid-Hersteller Eli Lilly.

Durch GLP-1-Medikamente gelangen Nahrung und Medikamente langsamer vom Magen in den Darm

Wie ein Sprecher des Pharmakonzerns erklärte, hat das Unternehmen im Rahmen des Zulassungsverfahrens der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) diverse Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass Tirzepatid die Aufnahme oraler Verhütungsmittel verändert und dadurch möglicherweise ihre Wirkung mindert.

Bei Anwendung der Abnehmspritzen gelangen Nahrung und Medikamente langsamer vom Magen in den Darm – den Ort, an dem die oralen Kontrazeptiva in den Blutkreislauf übergehen. Wie die Daten von Eli Lilly zu Tirzepatid zeigten, senken die Medikamente die maximale Konzentration des Verhütungsmittels im Blut nach einer Einzeldosis um bis zu 66 Prozent.

»Mehr als die Hälfte des Wirkstoffs fehlt also, das ist ein großes Problem«, sagt Jessica Skelley, Pharmakologin an der Samford University in Birmingham, Alabama. Denn orale Verhütungsmittel wirken nur in ausreichend hoher Konzentration: »Wenn nicht genug von ihnen im Körper vorhanden ist, können sie keine wirksame empfängnisverhütende Wirkung entfalten«, fügt Skelley hinzu.

Semaglutid schien die Konzentration von hormonellen Verhütungsmitteln weniger stark zu beeinflussen als Tirzepatid. Trotzdem könne ein Problem bestehen, sagt Skelley, denn die beiden Medikamente wirken auf ähnliche Weise.

Erklärung 3: Erhöhung des luteinisierenden Hormons LH

GLP-1 beeinflusst aber auch weitere physiologische Systeme jenseits der Verdauung. Im Jahr 2015 zeigte ein Team um Federico Mallo, Endokrinologe an der Universität Vigo in Italien, dass die Gabe von GLP-1 an weibliche Ratten die Produktion des luteinisierenden Hormons (LH) anregte. Bekanntermaßen löst ein Anstieg der LH-Konzentration im Blut den Eisprung aus, sowohl bei Ratten als auch bei Menschen. Ratten, denen man GLP-1 verabreichte, brachten anschließend mehr lebensfähige Nachkommen zur Welt als ihre unbehandelten Artgenossen.

»Wir sind ziemlich sicher, dass GLP-1-Rezeptor-Analoga die Fruchtbarkeit fördern, weil sie den LH-Wert vor der Ovulation erhöhen können«, sagt Mallo. Ratten seien zwar keine kleinen Menschen, räumt er ein, dennoch hätten sie Menstruationszyklen mit ähnlichen Phasen wie Menschen. Wie andere Forscher war auch Mallo nicht überrascht, als er von den Schwangerschaften nach der Gabe von GLP-1-Rezeptor-Agonisten hörte.

»Wir sind ziemlich sicher, dass GLP-1-Rezeptor-Analoga die Fruchtbarkeit fördern, weil sie den LH-Wert vor der Ovulation erhöhen können«Federico Mallo, Endokrinologe

Erklärung 4: Wirkung auf Darmbakterien

Mittlerweile hat ein Forschungsteam aus China eine Gruppe von Darmbakterien identifiziert, welche die natürliche GLP-1-Produktion bei Mäusen regulieren. Ihre Studie haben die Fachleute am 20. Mai 2024 in der Fachzeitschrift »Nature Metabolism« veröffentlicht. Die Bakterien der Spezies Bacteroides vulgatus unterdrückten die Produktion des GLP-1-Hormons, wodurch die Eierstöcke der Mäuse nicht mehr richtig arbeiteten. Als die Forscher die Mäuse mit einem GLP-1-Medikament behandelten, setzte der normale Ovulationszyklus wieder ein.

Die Auswirkungen von GLP-1-Rezeptor-Agonisten auf die Fruchtbarkeit seien ein brandaktuelles Thema, sagt Alyse Goldberg, Endokrinologin an der University of Toronto in Kanada. Daten aus der Fachzeitschrift »JAMA« legen nahe, dass immer mehr junge Menschen diese Medikamente einnehmen. Von den 162 439 Personen zwischen 18 und 25 Jahren, die im Jahr 2023 in den USA ein entsprechendes Rezept erhielten, waren mehr als 75 Prozent weiblich.

»Wenn Menschen abnehmen und wieder einen Eisprung haben, bestehe ein Risiko für eine Schwangerschaft, wenn sie nicht richtig beraten werden«, sagt sie. Neue Ergebnisse zu den Auswirkungen erwarte die Fachwelt mit großer Spannung.

WEITERLESEN MIT SPEKTRUM - DIE WOCHE

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen »spektrum.de« Artikeln sowie wöchentlich »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Genießen Sie uneingeschränkten Zugang und wählen Sie aus unseren Angeboten.

Zum Angebot

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.