Direkt zum Inhalt

Abnehmspritzen: Gewichtsverlust mit Nebenwirkungen

Gewicht verlieren ohne zu Hungern – das ist inzwischen mit Abnehmspritzen wie Ozempic möglich. Doch es mehren sich Berichte über Nebenwirkungen. Grund zur Sorge oder Panikmache?
Aus der Perspektive einer nach unten schauenden Person, die mit beiden Füßen auf einer Waage steht und eine Abnehmspritze in der Hand hält.
Kleiner Piks, einfache Gewichtsabnahme – das versprechen Anbieter von Abnehmspritzen wie Wegovy (Symbolfoto).

Der Kampf gegen Fettleibigkeit hat in den letzten Jahren ein neues Werkzeug erhalten: die Abnehmspritze. Einmal wöchentlich verabreicht, zügelt sie den Appetit erheblich – und macht so einen Gewichtsverlust von bis zu 21 Prozent des Körpergewichts möglich. Spritzen mit dem Wirkstoff Semaglutid, besser bekannt unter den Namen Ozempic oder Wegovy, sind in Deutschland seit Sommer 2023 zur Behandlung von Adipositas zugelassen. Ende 2023 kam das Mittel Tirzepatid unter dem Handelsnamen Mounjaro hinzu. Der Hype um die Abnehmmedikamente, die ursprünglich entwickelt wurden, um Diabetes zu behandeln, ist groß. So groß sogar, dass es immer wieder zu Lieferengpässen kommt. Doch mittlerweile häufen sich Berichte über Nebenwirkungen, die vorher in der Öffentlichkeit kaum präsent waren. In den sozialen Medien kursieren etwa Erzählungen von »Ozempic-Babys«: Frauen machten das Präparat dafür verantwortlich, trotz Pille schwanger geworden zu sein. Zudem wird es mit einer seltenen Augenerkrankung in Verbindung gebracht. Und die Mittel mindern möglicherweise nicht nur die Lust aufs Essen, sondern auch auf Sex und Alkohol. Welche Nebenwirkungen und Risiken bringen Abnehmspritzen also mit sich?

Wie Abnehmspritzen wirken

Wer die erwünschten und unerwünschten Wirkungen der Abnehmpräparate verstehen will, muss zunächst wissen, wie der Körper auf Essen reagiert. »In der Schleimhaut des Dünndarms befinden sich hormonbildende Zellen, die im Speisebrei den Kohlenhydratanteil messen«, erklärt Matthias Laudes, Facharzt für innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel. »Je nach Menge setzen sie dann so genannte Inkretinhormone frei.« Erreichen diese die Bauchspeicheldrüse, signalisieren sie ihr: »Achtung, gleich kommt Glukose, wir benötigen soundsoviel Insulin.« Das Hormon, das den Blutzuckerspiegel senkt, und die Kohlenhydrate kommen so zeitgleich im Blut an. Bei Gesunden steigt deshalb der Blutzuckergehalt nach dem Essen kaum an.

»Bei Menschen mit Diabetes Typ II ist dieser Effekt allerdings abgeschwächt, so dass man auf die Idee kam, ihnen die Inkretinhormone per Spritze zuzuführen«, erläutert Laudes, der auch Vizepräsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) ist. So imitiert jene Spritze, die Semaglutid enthält, ein Hormon namens Glucagon-like Peptide 1, kurz GLP-1. Die Halbwertszeit von Semaglutid ist im Vergleich zum körpereigenen Hormon jedoch länger – der Körper baut es nicht so schnell ab und damit kann es lang anhaltender wirken. »Bei Diabetes funktioniert der Wirkstoff hervorragend«, sagt Laudes. »Er gehört nach Insulin zu den stärksten Antidiabetika.«

Als die Zulassungsstudien zur Diabetestherapie mit einem Vorgängermolekül von Semaglutid liefen, stellten die Forschungsgruppen fest, dass die Probandinnen und Probanden rasch Gewicht verloren. Dadurch entdeckte man zwei andere Wirkmechanismen: Zum einen gelangt der Wirkstoff ins Gehirn und aktiviert dort Rezeptoren in bestimmten Appetit- und Belohnungszentren. Zum anderen signalisiert das Mittel dem Magen, dass er sich langsamer entleeren soll. Beide Effekte führen dazu, dass das Sättigungsgefühl bei einer Mahlzeit schneller eintritt und länger anhält. Tirzeptaid wirkt ganz ähnlich – es ahmt jedoch neben GLP-1 auch noch ein weiteres Hormon namens GIP nach.

Abnehmwunder | Meilensteine der Medikamentenentwicklung zur Gewichtsreduktion

Die häufigste Nebenwirkung der Medikamente ist Übelkeit. »Sie ist eine ganz normale Reaktion auf die zugeführten Inkretinhormone und lässt nach einiger Zeit meist nach«, erklärt Laudes. Auch klagen Betroffene in den ersten Wochen oft über Erbrechen, Verstopfungen, Durchfall oder Schwindel (siehe »Welche Nebenwirkungen hat die Abnehmspritze?«) Diese unerwünschten Effekte sind allerdings bereits durch Langzeitdaten bekannt – schon das Vorgängermittel Liraglutid, das seit 2009 bei Diabetes Typ II verabreicht wird, listete sie auf. Um die Nebenwirkungen möglichst gering zu halten, erfolgt die Gabe der Wirkstoffe zunächst in einer niedrigeren Dosis, die langsam gesteigert wird. Trotzdem brechen nicht wenige Patienten die Therapie in den ersten Wochen wegen der Magen-Darm-Probleme ab.

Welche Nebenwirkungen haben die Abnehmspritzen?

  • Sehr häufig: Übelkeit, Durchfall, Unterzuckerung (bei gleichzeitiger Anwendung von Insulin oder Sulfonylharnstoff)
  • Häufig: Erbrechen, Bauchschmerzen, Verstopfung, Sodbrennen, Aufstoßen, Völlegefühl, Blähungen, Gallensteine, Unterzuckerung (bei gleichzeitiger Anwendung oraler Antidiabetika), verminderter Appetit, Schwindel, Komplikationen bei diabetischer Retinopathie, Erschöpfung, Müdigkeit, Unwohlsein, Überempfindlichkeit, Reaktionen an der Einstichstelle, erhöhte Herzfrequenz
  • Gelegentlich: Überempfindlichkeit, Geschmacksstörung, Bauchspeicheldrüsenentzündung
  • Selten: anaphylaktische Reaktion
  • Nicht bekannt: Darmverschluss, Angioödem
  • Quelle: Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA)

Ungewollt schwanger durch Ozempic?

Neben diesen bekannten unerwünschten Wirkungen tauchen allerdings auch immer mehr neue auf. So las man in den Medien vermehrt von »Ozempic-Babys« – ungeplanten Schwangerschaften, die die betroffenen Eltern auf die Einnahme von Semaglutid zurückführen. Einige Frauen berichteten, sogar trotz Antibabypille schwanger geworden zu sein, andere waren zuvor als unfruchtbar diagnostiziert worden. Erhöht das Präparat also die Fertilität? »Das ist so«, bestätigt Laudes. Dafür gebe es aber eine einfache Erklärung: Bei übergewichtigen Frauen sei die Fruchtbarkeit oft verringert. Verlören sie an Gewicht, steige die Fruchtbarkeit wieder auf ein normales Niveau, so Laudes. »Den Effekt kennen wir auch von anderen Maßnahmen zur Gewichtsreduktion, etwa einer Magenbypass-OP«, erklärt der Oberarzt. Er rät Patientinnen ohne Kinderwunsch, auf die Verhütung zu achten.

Je nach Wirkstoff der Abnehmspritze ist hierbei die Pille allerdings womöglich nicht das beste Mittel, um eine Schwangerschaft zu verhindern: Bei dem US-Zulassungsverfahren von Tirzepatid stellte sich heraus, dass dadurch orale Verhütungsmittel anders aufgenommen werden und somit möglicherweise schlechter wirken. Wie Daten des Herstellers Eli Lilly zeigten, senkt eine Einzeldosis Tirzepatid die maximale Konzentration von manchen Verhütungsmitteln im Blut um bis zu 66 Prozent. Dieser Effekt könnte auf die verzögerte Magenentleerung zurückzuführen sein, die verhindert, dass die Pille wie gewohnt resorbiert wird. Es ist jedoch nicht geklärt, ob die Minderung so stark ist, dass tatsächlich vermehrt Frauen ungewollt schwanger werden. Bei Semaglutid wurde ein solcher Zusammenhang bislang noch nicht in Studien untersucht.

Und es gibt eine weitere Theorie zu den ungeplanten Schwangerschaften: So zeigte bereits im Jahr 2015 ein spanisches Forschungsteam, dass die Gabe von GLP-1 bei weiblichen Ratten die Produktion des luteinisierenden Hormons (LH) anregte. Bekanntermaßen löst ein Anstieg der LH-Konzentration im Blut den Eisprung aus, sowohl bei Nagern als auch bei Menschen. Ratten, denen man GLP-1 verabreichte, brachten anschließend mehr lebensfähige Nachkommen zur Welt als ihre unbehandelten Artgenossen.

Wegen der Vermutungen um eine Steigerung der Fertilität wird Ozempic in den USA mittlerweile immer häufiger als Off-Label-Medikament bei unfruchtbaren Frauen eingesetzt. Dabei raten die Hersteller bei einem Kinderwunsch sogar explizit davon ab, die Mittel zu nutzen: Frauen, die schwanger werden wollen, sollten das Mittel absetzen. Zwar gibt es bislang keine kontrollierten Studien, die untersuchen, wie sich GLP-1-Analoga in der Schwangerschaft beim Menschen auswirken. Doch in Tierstudien zeigte sich, dass GLP-1 bei Föten zu erheblichen Wachstumsstörungen führt.

Abgesehen von diesen Bedenken könnte sich das Schwangerwerden bei einigen Nutzerinnen und Nutzern aus einem anderen Grund schwieriger gestalten: So schreiben online vermehrt Männer, dass sie ihre Erektionsstörungen auf Ozempic zurückführen. Solche Beobachtungen decken sich mit einer Studie aus den USA, bei der Daten von rund 2000 Männern zwischen 18 und 50 Jahren, die Semaglutid zum Abnehmen einnahmen, analysiert wurden. Demnach hatten etwa 1,4 Prozent der Anwender Probleme, eine Erektion zu erlangen, während es in der Vergleichsgruppe nur 0,14 Prozent waren. Dies könne, so die Autoren, womöglich mit dem Testosteronspiegel zusammenhängen, der bei der ersten Gruppe deutlich niedriger war.

Sex könnte sich für manche Anwender ohnehin schwieriger gestalten: So scheint durch die Abnehmspritze neben dem Appetit ebenso die erotische Lust zu verschwinden. Das zeigen nicht nur Erzählungen in Onlineportalen, sondern auch eine Studie mit Mäusen, denen Semaglutid verabreicht wurde: Durch die Aktivierung von GLP-1-Rezeptoren in bestimmten Hirnregionen reduzierte sich ihr sexuelles Verhalten. Bei den Nagern nahmen sowohl die sozialen Interaktionen vor dem Geschlechtsverkehr als auch die Paarungen selbst ab. Ob das genauso für Menschen gilt, ist noch nicht wissenschaftlich belegt.

Einfluss auf unser Belohnungssystem

Grundsätzlich dämpfen die Abnehmspritzen das menschliche Belohnungssystem: Viele Anwender beschreiben, dass Semaglutid ihr ständiges Gedankenkarussell, das sich um die nächste Mahlzeit, den nächsten Snack dreht, verlangsamt – und wie befreiend es sei, nicht immerzu an Essen zu denken und darin Belohnung suchen. Der Wirkstoff aktiviert die GLP-1-Rezeptoren im Gehirn und reduziert die Dopaminausschüttung. Dadurch wird aber nicht nur das Verlangen nach Essen weniger, sondern auch nach anderen belohnenden Lastern: Menschen, die Semaglutid einnehmen, berichten etwa, dass ihnen die Lust nach bestimmten Genussmitteln vergeht. Das ist ebenfalls kein gänzlich unerwarteter Effekt. So zeigte schon früher eine Studie mit Exenatid – einem weiteren semaglutidähnlichen Wirkstoff – dass bei Teilnehmern nicht nur deutlich der Drang nach Zigaretten abnahm, sondern auch die Entzugssymptome weniger stark waren. Jene Personen, die das Präparat erhielten, hatten eine höhere Abstinenzrate und nahmen zudem nach dem Rauchstopp nicht so viel Gewicht zu wie diejenigen in der Placebogruppe.

In Tierversuchen wiederum reduzierte Semaglutid bingeartiges Trinken bei Mäusen wie bei Ratten. Weitere Studien mit Exenatid zeigten, dass bei übergewichtigen, alkoholabhängigen Patienten das Mittel sowohl die Anzahl der Tage mit starkem Alkoholkonsum als auch die Gesamtmenge des konsumierten Alkohols verringerte. Diesen Effekt konnte eine groß angelegte Studie aus Oktober 2024 bestätigen, an der mehr als 800 000 Personen mit einer Vorgeschichte von Alkoholabhängigkeit beteiligt waren. Bei rund 5600 Teilnehmern, die Ozempic oder ein vergleichbares Mittel einnahmen, war die Rate an Alkoholintoxikationenen 50 Prozent niedriger als bei der Vergleichsgruppe. Ähnliches zeigte sich in der gleichen Studie bei Menschen mit Opioidkonsumstörungen. Von den rund 500 000 untersuchten Personen nahmen 8100 Ozempic oder ein ähnliches Präparat ein. Bei letzteren war die Quote der Opioidüberdosierungen um 40 Prozent geringer als bei den anderen Teilnehmern. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Medikamente neben ihrem Hauptzweck, Diabetes oder Adipoitas zu behandeln, auch das Potenzial haben, Suchtstörungen zu lindern. Manche Nebenwirkungen der Abnehmspritzen sind also durchaus positiv.

Andere negative Effekte sind mittlerweile wiederum widerlegt. So wurde Semaglutid nachgesagt, dass es ein erhöhtes Risiko für Schilddrüsenkrebs mit sich bringt. Diese Spekulation entstand ebenfalls durch frühere Untersuchungen: »Als Liraglutid noch an Mäusen getestet wurde, kam der Verdacht auf, dass es eine bestimmte Krebsform fördert«, berichtet Laudes. Das spiele bei Menschen aber keine Rolle: »Ihren Zellen fehlt der entsprechende Rezeptor.«

Abnehmspritzen und Augenerkrankungen

Es gibt jedoch mögliche Nebenwirkungen, die weiterhin viele Nutzerinnen und Nutzer verunsichern und das Augenlicht betreffen: das möglicherweise erhöhte Risiko für die so genannte NAION-Krankheit (nicht arteriitische anteriore ischämische Optikusneuropathie), bei der der Blutfluss zum Sehnerv gestört ist. Schlimmstenfalls kann dies zur Erblindung führen. NAION ist bei gesunden Menschen sehr selten. Bei Diabetes-Typ-II-Patienten liegt hingegen generell ein höheres Risiko für verschiedene Augenerkrankungen wie diabetische Retinopathie oder auch NAION vor.

Eine retrospektive Untersuchung legt nahe, dass Semaglutid das Erkrankungsrisiko nochmals erhöht: Die Studie analysierte Daten von mehr als 16 000 Patientinnen und Patienten, deren Sehkraft zwischen Dezember 2017 und November 2023 untersucht wurde. Darunter waren 710 Personen mit Diabetes Typ II sowie 979 Personen mit Übergewicht beziehungsweise Adipositas, die entweder mit Semaglutid oder einem anderen Medikament behandelt wurden. Bei insgesamt 629 von ihnen wurde in dieser Zeitspanne NAION diagnostiziert. Das Risiko für die Erkrankung bei Semaglutideinnahme lag für Menschen mit Adipositas bei 6,7 Prozent, für jene mit Diabetes Typ  I bei 8,9 Prozent. Ein Vergleich mit den Medikamenten, die nicht GLP-1 nachahmen, zeigte: In der Semaglutid-Gruppe war das Risiko für die Augenerkrankung bei fettleibigen Menschen achtmal, bei jenen mit Diabetes fünfmal so hoch.

»Die Menschen sind häufig unfruchtbar, haben hohen Blutdruck und ein großes Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen«Matthias Laudes, Endokrinologe und Diabetologe

»In den Fachverbänden wird dazu viel diskutiert und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass man diese Hinweise ernst nehmen sollte, so Laudes. »Ein kausaler Zusammenhang ist bisher aber noch nicht bewiesen.« Denn die Beurteilung, ob Semaglutid das Risiko für NAION tatsächlich erhöht, ist komplex: Möglicherweise ruft Semaglutid kleine Blutdruckveränderungen hervor, die bei empfindlichen Personen Durchblutungsstörungen im Sehnerv verursachen, so die Autoren der Studie. Auch die schnelle Normalisierung des Blutzuckerspiegels könnte hier eine Rolle spielen. Gleichzeitig gibt es allerdings Hinweise darauf, dass Semaglutid Entzündungen reduzieren kann und somit den Verlauf von Augenerkrankungen sogar abmildern könnte. Panik sei nicht angebracht, beruhigt der Oberarzt: »Wir sollten die Daten nicht ignorieren, doch sie sind kein Grund, Patienten das Mittel vorzuenthalten.«

Warum vermehrt negative Effekte bekannt werden

Was man nicht vergessen darf: Fettleibigkeit hat ebenfalls Nebenwirkungen. »Die Menschen sind häufig unfruchtbar, haben hohen Blutdruck und ein großes Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen«, so Laudes. »Auf der anderen Seite haben wir ein Medikament, das wir seit 20 Jahren kennen und das viele dieser Probleme behebt.« Es sei ganz normal, dass jetzt – seit Semaglutid häufiger verordnet wird – auch die seltenen Begleiterscheinungen zunehmend aufträten. »Das bedeute nicht, dass das Mittel schlecht ist. Im Gegenteil: »Wir sollten froh sein, dass jetzt sogar die seltensten Nebenwirkungen identifiziert werden. Das macht das Medikament noch sicherer.«

Dass mehr negative Effekte auftreten, könnte auch an der Dosis liegen: Während bei Diabetes maximal 1 Milligramm Semaglutid pro Woche injiziert wird, spritzen Menschen mit Adipositas bis zu 2,7 Milligramm. Laudes sagt, er kenne Fachleute, die die Abnehmspritzen verteufeln und vor den Nebenwirkungen warnen, während Befürworter sie verharmlosen. »Am Ende ist wohl der Mittelweg das Beste«, so der Kieler Arzt, nämlich: »Ein kritischer Umgang wie mit jedem anderen Medikament.«

»Die Mittel sind eine große Chance, Adipositas und all seine Folgen zu kontrollieren«Matthias Laudes, Endokrinologe und Diabetologe

Auch Martin Merkel hält Ozempic und Wegovy für gute und sichere Medikamente. Der Endokrinologe und Diabetologe vom Endokrinologikum Hamburg verschreibt die Präparate regelmäßig und ist davon überzeugt, dass bei der Mehrzahl der Patienten der Nutzen den Schaden deutlich überwiegt: »Es gibt ganz hervorragende Studien, die zeigen, dass die Menschen länger leben sowie weniger Herzinfarkte und seltener eine Nierenschwäche haben. Die Mittel sind eine große Chance, Adipositas und all seine Folgen zu kontrollieren.«

Aber, und das ist dem Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) wichtig: »Keine Studie, auch wenn sie noch so groß ist, wird alle Nebenwirkungen finden, die jemals auftreten könnten. Je seltener sie sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sie in Studien nicht sieht.« Zumal die Probanden nicht immer die Bandbreite der Anwenderinnen und Anwender widerspiegelten: »Menschen, die besonders krank sind, kommen oft gar nicht erst in Studien, könnten aber andere Nebenwirkungen entwickeln als der Durchschnitt.« Hinzu komme, dass Studien zeitlich begrenzt seien, das Medikament »im echten Leben aber länger zum Einsatz kommt«. Das könne den Blick auf die Nebenwirkungen ebenso verzerren wie das so genannte Over-Reporting: »Alle schauen nun vermehrt auf vermeintliche Nebenwirkungen und melden sie. Es kann aber sein, dass die Patienten sie auch ohne das Medikament entwickelt hätten, was dann aber nie gemeldet worden wäre.«

Merkel erklärt allen, denen er Semaglutid erstmals verschreibt, dass es sich um ein neues Medikament handelt und möglicherweise noch nicht sämtliche Effekte bekannt sind. »Das ist wie mit einem neuen Automodell – da kann es mal zu einem Rückruf kommen«, so der Arzt und erinnert an die Zeit, als Statine als Cholesterinsenker auf den Markt kamen: »Dass sie das Risiko für Diabetes erhöhen, kam erst Jahre später in großen Metaanalysen heraus. Es ist dennoch kein Grund, den Menschen keine Statine mehr zu verschreiben.« Merkel verordnet die Abnehmspritze zunächst für vier Wochen und bittet die Patienten dann um Rückmeldung: »Ich hole ihr Feedback ein und dann überlegen wir, wie es mit welcher Dosis weitergeht.«

Ärztliche Betreuung und nachhaltiges Abnehmen

Diese vorsichtige Herangehensweise ist wichtig, da neue Medikamente oft unerwartete Nebenwirkungen haben können. So geriet Semaglutid kurz nach der Zulassung gegen Fettleibigkeit in Verdacht, Suizidgedanken hervorzurufen. 150 Berichte sollen der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) dazu vorgelegen haben. Ein Ausschuss prüfte die Fälle und gab im Frühjahr 2024 Entwarnung: Der Zusammenhang ließe sich nicht beweisen. »Das heißt aber trotzdem, dass man das ernst nehmen muss«, sagt der Hamburger Endokrinologe Merkel. »Wir können derzeit nicht garantieren, ob so etwas nicht doch irgendwann zu einer nachgewiesenen Nebenwirkung wird.«

Daher ist es besonders wichtig, dass Patienten regelmäßig Kontakt zu Ihrem Arzt halten, um mögliche Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen und zu besprechen. Wer abnehmen will, kann Ozempic oder Wegovy nicht einfach in der Apotheke kaufen. Ein Arzt oder eine Ärztin muss das Mittel verschreiben. Jedoch gibt es im Internet relativ niedrigschwellige Angebote, an die Medikamente heranzukommen (siehe: Vorsicht vor Internetangeboten und Fälschungen). Fachleute raten allerdings dringend dazu, solche Angebote zu meiden und sich stattdessen persönlich an medizinisches Fachpersonal zu wenden, um eine sichere und wirksame Behandlung zu erhalten. Es kann individuell die effektivste Dosis bestimmen, über Nebenwirkungen aufklären und die Therapie beratend begleiten, rät Experte Laudes. Doch es gehört noch mehr dazu, um wirklich nachhaltig das Gewicht zu reduzieren und zu halten: »Unter Semaglutid ist es für die Patienten viel einfacher, Ernährungsempfehlungen umzusetzen, weil ihr Gehirn nicht mehr die ganze Zeit nach Essen verlangt. Es ist wichtig, das zu nutzen, um den Lebensstil umzustellen, mehr Sport zu machen und vielleicht eine Verhaltenstherapie.« Sonst lernten die Betroffenen nichts und nähmen nach der Therapie wieder zu.

»Der Jo-Jo-Effekt ist extrem, wenn die Menschen während der Therapie nicht gelernt haben, Lebensstil und Ernährung dauerhaft zu ändern«Martin Merkel, Endokrinologe und Diabetologe

Sein Hamburger Kollege Merkel bestätigt: »Der Jo-Jo-Effekt ist extrem, wenn die Menschen während der Therapie nicht gelernt haben, Lebensstil und Ernährung dauerhaft zu ändern.« Eine ärztliche Anbindung unter Semaglutid sei daher wichtig und obendrein eine Frage der Sicherheit: »Dass das Mittel rezeptpflichtig ist, muss unbedingt so bleiben, denn das Missbrauchspotenzial ist hoch«, so der Diabetologe. »Zu mir kamen schon junge Frauen mit einem Body-Mass-Index von 22, die mit Hilfe von Semaglutid auf 17 kommen wollten. Denen verschreibe ich die Spritzen natürlich nicht.«

Die DAG, berichtet Vizepräsident Laudes, setze sich für ein Disease-Management-Programm bei Adipositas ein. Es soll Praxen ermöglichen, die Betreuung und Schulung von adipösen Menschen in Zukunft mit den Krankenkassen abzurechnen. »Als Fachgesellschaft wünschen wir uns, dass man nicht allein die Medikamente sieht, sondern sie in einen multimodalen Ansatz der Adipositas-Therapie einbettet.« Abnehmspritzen sollten nur einen Teil der Behandlung ausmachen, neben anderen Maßnahmen. »Das ist das Gegenteil von dem, was in den sozialen Medien kursiert«, so Laudes. »Die vermitteln den Eindruck, man müsse zum Abnehmen nichts weiter tun, als sich diese Spritze zu setzen.«

Wer Semaglutid korrekt verwendet, lässt nicht nur Pfunde verschwinden, sondern viele andere Probleme, die Übergewicht mit sich bringt. Dazu laufen gerade weitere Studien, berichtet Diabetologe Laudes: »Es gibt etwa Untersuchungen mit Herz- und Nierenpatienten. Außerdem wird geprüft, ob die Mittel gegen Leberverfettung helfen. Das könnte der nächste große Hype werden.«

Vorsicht vor Internetangeboten und Fälschungen

Fachleute raten dringend davon ab, sich Semaglutid auf illegalem Weg ohne Rezept etwa aus dem Internet zu kaufen. Nicht nur, weil dann kein Aufklärungsgespräch über Dosierung und Nebenwirkungen stattfinden kann, sondern auch, weil Fälschungen kursieren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt davor, solche Produkte zu verwenden. Sie können Dosen oder Substanzen enthalten, die zu gesundheitlichen Komplikationen wie unkontrollierten Blutzuckerwerten führen könnten. Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte warnte im Februar 2024 vor Ozempic-Fälschungen.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

  • Quellen

Skelley, J. et al.: The impact of tirzepatide and glucagon-like peptide 1 receptor agonists on oral hormonal contraception. Journal of the American Pharmacists Association, 2024

Hathaway, J. T. et al.: Risk of nonarteritic anterior ischemic optic neuropathy in patients prescribed semaglutide. JAMA Ophthalmology, 2024

Klausen, M. K. et al.: Exenatide once weekly for alcohol use disorder investigated in a randomized, placebo-controlled clinical trial. JCI Insight, 2022

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.