Illegalen Emissionen auf der Spur: Die FCKW-Detektive
Die Jungfraujoch-Forschungsstation, hoch oben in den Schweizer Alpen, rund 3450 Meter über dem Meeresspiegel, scheint auf ihrem kleinen Felsvorsprung förmlich zu balancieren. Fünf Labore, eine Werkstatt, eine Bibliothek, eine winzige Küche plus zehn Schlafräume stehen der kleinen Besatzung zur Verfügung. Unablässig saugen Pumpen die dünne Bergluft ein, leiten sie durch ein Instrumentarium, das sie auftrennt, misst, analysiert. In der Abgeschiedenheit der Hochalpen fahnden die Forscher nach Abertausenden von unterschiedlichen Molekülen in der Luft. »Ein bisschen so, als würden wir die DNA der Atmosphäre entziffern«, sagt der Atmosphärenchemiker Martin Vollmer.
Sein Spezialgebiet ist es, in den Spurengasen der Atmosphäre nach neu auftretenden Stoffen zu suchen, darunter auch die berüchtigten FCKW, die Fluorchlorkohlenwasserstoffe, die als Kühlmittel und zum Aufschäumen von Kunststoffen zum Einsatz kommen. Die Erkenntnis, dass sie die schützende Ozonschicht der Erde zerstören, führte 1987 zur Verabschiedung eines Meilensteins des Umweltschutzes: Im so genannten Montreal-Protokoll wurde staatenübergreifend vereinbart, die Substanzen zu regulieren und schließlich gar nicht mehr zu verwenden. Später kamen Ersatzchemikalien, die sich als ebenso gefährlich für Ozonschicht, Klima oder beides erwiesen, ebenfalls auf die schwarze Liste.
Es ist an Forschern wie Vollmer, der als Teil seiner Atmosphärenforschung an der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) in Dübendorf auch den FCKW nachspürt, darüber zu wachen, ob die Staaten ihren Verpflichtungen aus dem Vertrag nachkommen. »Das ist Detektivarbeit«, sagt Stephen Montzka von der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) in Boulder, US-Bundesstaat Colorado. »Unser Job ist es festzustellen, ob sich die Dinge so entwickeln, wie sie sich entwickeln sollen.«
Viele Jahre lang hatten sie nur gute Nachrichten für die Welt. Die Konzentration der FCKW und anderer gefährlicher Stoffe nahm kontinuierlich ab. Nach Meinung vieler Forscher war es der größte Erfolg einer Umweltschutzmaßnahme, den die Welt je gesehen hat.
Im Mai 2018 aber veröffentlichte Montzka eine merkwürdige Auffälligkeit in seinen Messungen: Die Werte eines der gefährlichsten Ozonkiller, Trichlorfluormethan oder CFC-11, sanken langsamer als erwartet. Konnte es sein, dass Firmen das Verbot unterliefen und doch noch CFC-11 produzierten? »Es war das Überraschendste und Schockierendste, was ich in meiner gesamten Berufslaufbahn erlebt habe«, sagt Montzka.
Bergluft in Flaschen
Auch Jen Morse weiß: Ohne einen Gang an die frische Luft geht es nicht. Einmal pro Woche macht sich die wissenschaftliche Mitarbeiterin der University of Colorado zu einer kleinen grünen Hütte in den Bergen Colorados auf. Ihr Ziel ist die Niwot Ridge. Sie liegt in der so genannten Front Range der Rocky Mountains. Im Sommer kann Morse ein Stück des sechs Kilometer langen Wegs mit dem Auto fahren, nur die letzten 1000 Meter geht sie dann zu Fuß. Im Winter muss sie auf Skiern in eine Höhe von 3523 Metern klettern. Auf ihrem Rücken: vier große Gasflaschen.
Oben angekommen saugt sie Luft aus einem Auffangbehälter in die vier Flaschen. Mit der abgepackten Bergluft im Gepäck geht es dann wieder abwärts zur Global Monitoring Division der NOAA, die, nur 40 Kilometer entfernt, ebenfalls in Boulder angesiedelt ist. Dort leiten dann Montzka und seine Kollegen den Inhalt der Flaschen durch drei Gaschromatografen und ermitteln die Konzentration von 50 Spurengasen. Sie wollen herausfinden, was sich im »atmosphärischen Hintergrund« abspielt, wie es um die Luft bestellt ist, die um den Globus als Ganzes zirkuliert. Das erfährt man am besten dort, wo es keine lokalen Verschmutzungsquellen gibt – etwa in der Umgebung des kleinen grünen Schuppens auf der Niwot Range oder in der Jungfraujoch-Station. Die Abgeschiedenheit dieser Örtlichkeiten ist auch ihr größter Nachteil: Sie sind schwer zu erreichen und teuer in der Unterhaltung, meint Montzka.
Am Südpol gibt es welche, im grönländische Inlandeis und an der Südspitze Tasmaniens. Insgesamt empfängt Montzkas Labor Luftproben von 16 Entnahmestellen. Das Jungfraujoch hingegen ist Teil eines weiteren Messstellennetzwerks namens Advanced Global Atmospheric Gases Experiment (AGAGE), bei dem mit Förderung der NASA an 13 Orten Proben gesammelt werden.
An manchen davon werden seit den 1970er Jahren die Konzentrationen von FCKW und verwandten Verbindungen gemessen. Als man die Substanzen in den 1920er Jahren entwickelte, galten sie als unbedenklich. Erst im Lauf der 1970er Jahre kam man dahinter, dass sie auch in hohe Luftschichten aufsteigen und dort ihr zerstörerisches Werk anrichten. 1985 entdeckte man schließlich das Ozonloch.
NOAA- und AGAGE-Forscher treffen sich regelmäßig, um sich über ihre Ergebnisse auszutauschen und an die Unterzeichnerstaaten weiterzugeben. Von ihnen stammten auch die Hinweise, die zu den Ergänzungen des Protokolls führten, das inzwischen deutlich mehr Substanzen reguliert als noch zu Beginn. »Die Verabschiedung des Protokolls war keine einmalige Angelegenheit«, sagt David Fahey, Atmosphärenchemiker bei der NOAA und einer der vier Kovorsitzenden des wissenschaftlichen Beirats des Protokolls.
10 000-mal schädlicher als Kohlendioxid
Für die Überwachungsteams ist es wie beim Märchen von Hase und Igel: Kaum haben sie einen verdächtigen Stoff dingfest gemacht, erscheint schon wieder der nächste am Himmel. Bereits vor dem FCKW-Verbot haben Hersteller mit alternativen Kühlmitteln experimentiert, etwa mit teilhalogenierten Kohlenwasserstoffen. Doch auch deren ozonschädigende Wirkung wurde schnell offenbar. Eine 2007 verabschiedete Erweiterung des Protokolls verlangt nun, dass ihre Herstellung und Verwendung bis 2030 ausläuft. Die dritte Generation der Kühlmittel, die teilfluorierten Kohlenwasserstoffe, erwies sich dank eines Verzichts auf Chlor oder Brom endlich als ungefährlich für die Ozonschicht. Aber wie sich bald zeigen sollte, sind sie potente Treibhausgase, deren klimaschädliche Wirkung die von CO2 um mehr als das 10 000-Fache übersteigen kann.
Ohne Regulierung drohen die teilfluorierten Kohlenwasserstoffe die Erde bis 2100 um ein halbes Grad zu erwärmen. Darum verlangen nun die so genannten Kigali-Änderungen des Montrealer Protokolls, verabschiedet im Jahr 2016, Produktion und Einsatz dieser Stoffe bis Ende der 2040er Jahre um 80 bis 85 Prozent zu reduzieren.
Bei der Überwachung dieser Vereinbarungen stoßen Messstationen wie die auf dem Jungfraujoch immer wieder auf verdächtige Daten. So registrierten Wissenschaftler der Station, dass Norditalien von 2008 bis 2010 jährlich zwischen 26 und 56 Tonnen des äußerst klimaschädlichen Fluoroform (HFC-23) freisetzte. Laut offiziellen Angaben sollten es jedoch eigentlich kaum mehr als zweieinhalb Tonnen im ganzen Land sein.
Insgesamt aber sah es lange danach aus, als würden die Maßnahmen greifen. Auch die Ozonschicht schien aus der Gefahrenzone, da mehrten sich die Anzeichen, dass etwas nicht stimmte.
»Wenn sie so weitermachen, verzögert sich der Prozess vielleicht um Jahre oder Jahrzehnte«
Matthew Rigby
Im Jahr 2013 sei es gewesen, erzählt Montzka, dass ihm eine merkwürdige Datenreihe auffiel. Die Konzentration von CFC-11 war über Jahre hinweg mit einer relativ konstanten Rate von 0,8 Prozent pro Jahr gesunken. Im Verlauf der letzten Monate hatte sich der Rückgang dann plötzlich abgeschwächt. »Ich war völlig verblüfft, ich konnte es nicht glauben«, sagt Montzka. Was war der Grund dafür? Die Produktion von CFC-11 war schon Jahre zuvor eingestellt worden. Montzka tat es als Messfehler ab, in der Hoffnung, dass mit den kommenden Messungen die Welt wieder in Ordnung sein würde.
Doch dem war nicht so. Zwischen 2002 und 2012 beliefen sich die jährlichen CFC-11-Emissionen auf rund 54 000 Tonnen – das Gas entwich alten Schaumstoffisolierungen und Geräten, die vor der Mitte der 1990er Jahre hergestellt wurden. Aber zwischen 2014 und 2016 schnellten die jährlichen Emissionsmengen plötzlich auf 67 000 Tonnen – ein Zuwachs um fast 25 Prozent.
Luftverschmutzung transportierte das CFC-11 ostwärts
Die Forscher bemerkten außerdem: Immer wenn das hawaiianische Mauna-Loa-Observatorium im Jahr 2013 eine der dort regelmäßig durchziehenden Schmutzwolken erfasst hatte, fanden sich unerwartet hohe CFC-11-Konzentrationen in den Proben. Eine genauere Inspektion legte Ostasien als Quelle der Substanzen nahe.
Ein Expertenteam nahm sich der Sache an. Es suchte in unabhängig erhobenen Daten, vor allem jenen, die die Kollegen von AGAGE auf den Inseln Jeju in Südkorea und Hateruma in Japan erhoben hatten, nach Hinweisen auf die Quelle. Auch hier zeigten sich von 2013 an immer stärkere Ausschläge der CFC-11-Konzentration, wenn eine Schmutzwolke durchzog.
Vier Forschergruppen arbeiteten parallel an Computersimulationen der Atmosphäre, die zeigen sollten, woher das FCKW stammte. Und alle erhielten sie die gleiche Antwort: Rund 7000 Tonnen kamen aus den chinesischen Provinzen Shandong und Hebei.
Emissionen in diesem Umfang würden die Erholung der Ozonschicht nicht merklich aufhalten, meint Matthew Rigby, Atmosphärenchemiker von der University of Bristol. »Aber wenn sie so weitermachen, verzögert sich der Prozess vielleicht um Jahre oder Jahrzehnte.«
Bei ihrer Antrittsrede vor der 31. Versammlung der Teilnehmerstaaten des Montreal-Protokolls am 4. November 2019 in Rom lobte die Exekutivsekretärin des Ozon-Sekretariats der Vereinten Nationen Tina Birmpili die Erfolge des Abkommens und insbesondere Chinas schnelles Vorgehen gegen die CFC-11-Emittenten im eigenen Land. Die Volksrepublik richtete beispielsweise ein landesweites Messstellennetzwerk ein und erhöhte die Strafen, die bei einem Verstoß gegen den Produktionsstopp fällig sind.
Setzten weitere Firmen heimlich FCKW frei?
Birmpili wies jedoch auch auf ein offenkundiges Problem hin. Wenn laut neuesten Schätzungen chinesische Firmen für 40 bis 60 Prozent des globalen CFC-11-Anstiegs verantwortlich sind, woher stammen dann die verbleibenden 4000 bis 10 000 Tonnen?
Noch sei man nicht in der Lage, zu entscheiden, ob es auf der Welt weitere Quellen für die Ozonkiller gibt oder ob die verbleibenden Schwankungen auf Unsicherheiten im Modell zurückgehen, erläutert der Bristoler Forscher Rigby. Erst in naher Zukunft sollte das möglich werden. Laut Montzka hat die Wissenschaft diesmal einfach Glück gehabt: Die Trendumkehr in den Messdaten wurde früh bemerkt, zudem lagen viele Daten aus genau der Region vor, aus der das CFC-11 stammte. Wäre es in Indien, Russland oder Südamerika produziert worden, hätten die existierenden Netzwerke seine Quelle vermutlich nicht ausfindig machen können, einfach weil es keine Messstellen in der Nähe gibt.
Bei seinem eigenen Vortrag auf der Teilnehmerversammlung in Rom präsentierte Montzka neueste Daten aus der weltweiten Überwachung. Demnach scheinen die illegalen Emissionen im Jahr 2018 zurückgegangen zu sein. So beschleunigte sich der Rückgang des Gases in der Atmosphäre wieder, und in den Schmutzwolken, die von den Stationen auf Jeju und Hawaii erfasst wurden, lag der CFC-11-Anteil deutlich unter den auffälligen Werten der Jahre zuvor. Auch wenn die Resultate noch bestätigt werden müssen, sind die Experten zuversichtlich. »Es sieht so aus, als habe sich das Montreal-Protokoll wieder einmal bewährt, diesmal unter unvorhergesehenen Umständen«, sagt Fahey.
Sollten die CFC-11-Konzentrationen weiter zurückgehen, wäre es ein bedeutender Erfolg für die Wissenschaftler und ihre Messstellennetzwerke, deren Existenzberechtigung gern einmal in Frage gestellt werde, wie Stefan Reimann, ebenfalls von der Empa, erklärt. »Die Geschichte zeigt jedoch: Wir werden noch gebraucht.«
Der Vorfall offenbare allerdings auch Schwächen eines Systems, das eigentlich dazu gedacht war, eine sich wandelnde Atmosphäre zu beobachten, und nicht, um illegalen Emissionen nachzuspüren, erklärt der Geochemiker Ray Weiss von der University of California in San Diego. »Mit einem Verstoß gegen das Protokoll hat niemand gerechnet. Das sollte uns eine Lehre sein.«
Neue Stoffe, neue Fragen
Inzwischen hat die NOAA eine weitere Probensammelstelle an der koreanischen Westküste eingerichtet, die genauere Daten aus Ostasien liefern soll. Laut Birmpili wollen die Staaten weiter an Strategien arbeiten, mit denen ähnlichen Verstößen in Zukunft vorgebeugt werden kann.
Für die Wissenschaftler heißt das zunächst: weiter sammeln, messen und studieren. Auf dem Jungfraujoch nimmt Vollmer die jüngste Generation der Kühlmittel ins Visier, die Hydrofluorolefine (HFO). In der Atmosphäre können einige von ihnen, wie etwa der Stoff HFO-1234yf, zu Trifluoressigsäure zerfallen, die auf manche Pflanzen und Bodenorganismen giftig wirkt. Die Umweltbehörden Deutschlands und Norwegens fordern darum bereits mehr Forschung zu HFO, zumal die Messungen am Jungfraujoch auf einen vermehrten Einsatz dieser Verbindungen hindeuten. Im Jahr 2011 tauchte HFO-1234yf noch in keiner einzigen Probe auf, im Jahr 2018 lag die Quote bei 71 Prozent.
Derzeit produziert die Industrie nur geringe Mengen von HFO, weil die Auslaufphase der teilfluorierten Kohlenwasserstoffe gerade erst begonnen hat. »Wenn man das aber mal grob überschlägt und sämtliche Verbindungen, die wir in der Vergangenheit genutzt haben, durch HFO ersetzt, sieht man, dass gewaltige Mengen dieses Gases auftreten würden«, sagt Vollmer.
Für ihn bedeutet dies, weiterhin jeden Monat den Gebirgssattel in den Schweizer Alpen zu erklimmen, wo tagein, tagaus die Instrumente der Jungfraujoch-Station brummen. »Wir dürfen nicht aufhören zu beobachten«, betont er.
Update vom 27.01.20: In ihrer ursprünglichen Fassung war die y-Achse der Abbildung »Rückgang mit Unterbrechung« falsch beschriftet. Es handelt sich um Gigagramm, nicht Gigatonnen CFC-11.
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