Paläoanthropologie: Schwere Geburt
Live fast, die young - so sollte einst das Motto des Neandertalers gelautet haben. Doch das Skelett eines Säuglings spricht eine andere Sprache: Demnach scheint sich unser Vetter aus dem Neandertal ebenso langsam wie wir entwickelt zu haben. Und sein großer Kopf dürfte es seiner Muter bei der Geburt auch nicht gerade leicht gemacht haben.
Bei der Erforschung der menschlichen Evolutionsgeschichte werfen die nur spärlich vorhandenen und fragmentarisch erhaltenen Fossilfunde oft mehr neue Fragen auf, als sie alte beantworten. Manchmal sind die Anthropologen aber in der glücklichen Situation, dass sich ein einzelner Fossilfund als Schlüsselobjekt erweist, dank dem es möglich ist, eine ganze Reihe von offenen Fragen mit einem Mal zu klären. Beim Neandertaler-Neugeborenen aus der Mezmaiskaya-Höhle im nordwestlichen Kaukasus scheint es sich um einen solchen Fund zu handeln.
Das Mezmaiskaya-Kind gilt bis heute als der einzige wirklich gut erhaltene Fund eines neugeborenen fossilen Menschenartigen – und damit zeigt sich auch bereits ein Teil seiner Schlüsselstellung. Denn die Forscher versuchen mit seiner Hilfe herauszufinden, wie sich im Lauf der Evolution die sehr spezielle Art der menschlichen Individualentwicklung herausgebildet hat. Schließlich markiert die Geburt einen entscheidenden Vorgang im Leben eines jeden menschlichen Wesens – sei es nun ein Homo sapiens oder ein Neandertaler. Sie dient gewissermaßen als Referenzpunkt, von dem aus sich unsere vor- und nachgeburtliche Entwicklung mit der fossiler Hominiden und der unserer nächsten lebenden Verwandten, der Schimpansen, vergleichen lässt.
Geburt am Limit
Nach der computerunterstützten Rekonstruktion des Mezmaiskaya-Skeletts aus 141 Einzelteilen stellten die Forscher um Marcia Ponce de León und Christoph Zollikofer von der Universität Zürich fest, dass das Gehirn des Babys mit etwa 400 Kubikzentimetern Volumen bei der Geburt genau so groß war wie das eines typischen menschlichen Neugeborenen. Das Skelett war aber bedeutend robuster ausgebildet als das eines modernen menschlichen Neugeborenen. Was hatte das für Konsequenzen für die Neandertaler-Geburt?
Es gibt nur ein einziges relativ vollständiges weibliches Neandertalerbecken. Es wurde bereits in den 1930er Jahren in der Tabun-Höhle im heutigen Israel gefunden, aber der Zufall wollte es, dass ausgerechnet die Teile wenig gut erhalten waren, die eine zuverlässige Rekonstruktion des Geburtskanals erlauben würden.
Somit scheint bei den Neandertalern die Geburt ein ähnlich schwieriger Prozess gewesen zu sein wie bei unserer eigenen Art. Die Forscher vermuten, dass es sich bei der Neugeborenen-Gehirngröße von 400 Kubikzentimetern um ein "evolutionäres Geburtslimit" handelt, das bereits beim letzten gemeinsamen Vorfahr von Mensch und Neandertaler erreicht worden war. Das würde bedeuten, dass wir bereits seit einer halben Million Jahre einen hohen evolutionären Preis in Form von Geburtsproblemen für unser großes Gehirn zahlen.
Auf neue Art
Die Wissenschaftler interessierten sich auch für die Entwicklung der Artunterschiede zwischen uns und den Neandertalern. Ein Vergleich der dreidimensionalen Schädelform zeigte, dass der Mezmaiskaya-Säugling bereits alle wesentlichen Neandertaler-Merkmale aufwies. Damit müssen also die Artunterschiede bereits während der embryonalen oder fötalen Entwicklung entstanden sein. Dieser Befund bestätigte eine Grundregel der evolutionären Entwicklungsbiologie: Neue Arten entstehen durch genetische Veränderungen im frühen Entwicklungsprogramm.
Dieser Befund gab den Forschern zu denken. Denn viele ihrer Kollegen schließen aus dem schnellen Wachstum der Neandertaler, dass sie eine kürzere Lebensspanne und höhere Mortalität als wir hatten – frei nach dem Motto "live fast, die young". Das könnte jedoch ein Fehlschluss gewesen sein. Das Neandertaler-Gehirn wuchs zwar schneller als unseres, aber es musste im Schnitt ein größeres Erwachsenenvolumen erreichen. Somit erwies sich die Dauer des Hirnwachstums bei beiden Menschenarten gleich.
Energie für den Nachwuchs
Und nun kommt die Überraschung: Vergleichende Untersuchungen an Primaten zeigten, dass es letztlich die Neandertalermütter waren, die für die zusätzliche Energie und Nahrung sorgen mussten, damit ihre Kinder rasch ein großes Gehirn entwickeln konnten. Diese Extra-Energie war natürlich nicht gratis: Die Mütter selbst brauchten mehr Zeit, bis sie die nötige körperliche Konstitution entwickelt hatten, um diese Zusatzbelastung zu ertragen. Dadurch hatten sie etwas später ihr erstes Kind.
Die gesamte Lebensgeschichte eines durchschnittlichen Neandertalers verglichen mit der eines heutigen Menschen ergibt ein Bild, das erheblich von der Lehrmeinung abweicht: Die Entwicklung der Neandertaler verlief wohl ebenso langsam wie die des modernen Menschen, wenn nicht sogar etwas langsamer.
Trotz bedeutender körperlicher Unterschiede zwischen anatomisch modernen Menschen und Neandertaler seit der Geburt gehorchen nach Ansicht der Forscher letztlich beide Arten denselben Einschränkungen durch die Gesetze der Physiologie, Entwicklung und Evolution: Was Geburt, Hirnentwicklung und Lebensgeschichte angeht, sind wir einander erstaunlich ähnlich.
Allein schon die Tatsache, dass ein solch fragiles Fossil nach etwa 40 000 Jahren Ruhezeit in den eiszeitlichen Höhlensedimenten wohlbehalten geborgen werden konnte, ist erstaunlich. Dieses Neandertalerkind, das kurz nach der Geburt starb, war offensichtlich so sorgfältig begraben worden, dass es von Aasfressern unberührt blieb und ihm nicht einmal der Druck der meterhohen Sedimente viel anhaben konnte.
Das Mezmaiskaya-Kind gilt bis heute als der einzige wirklich gut erhaltene Fund eines neugeborenen fossilen Menschenartigen – und damit zeigt sich auch bereits ein Teil seiner Schlüsselstellung. Denn die Forscher versuchen mit seiner Hilfe herauszufinden, wie sich im Lauf der Evolution die sehr spezielle Art der menschlichen Individualentwicklung herausgebildet hat. Schließlich markiert die Geburt einen entscheidenden Vorgang im Leben eines jeden menschlichen Wesens – sei es nun ein Homo sapiens oder ein Neandertaler. Sie dient gewissermaßen als Referenzpunkt, von dem aus sich unsere vor- und nachgeburtliche Entwicklung mit der fossiler Hominiden und der unserer nächsten lebenden Verwandten, der Schimpansen, vergleichen lässt.
Geburt am Limit
Nach der computerunterstützten Rekonstruktion des Mezmaiskaya-Skeletts aus 141 Einzelteilen stellten die Forscher um Marcia Ponce de León und Christoph Zollikofer von der Universität Zürich fest, dass das Gehirn des Babys mit etwa 400 Kubikzentimetern Volumen bei der Geburt genau so groß war wie das eines typischen menschlichen Neugeborenen. Das Skelett war aber bedeutend robuster ausgebildet als das eines modernen menschlichen Neugeborenen. Was hatte das für Konsequenzen für die Neandertaler-Geburt?
Es gibt nur ein einziges relativ vollständiges weibliches Neandertalerbecken. Es wurde bereits in den 1930er Jahren in der Tabun-Höhle im heutigen Israel gefunden, aber der Zufall wollte es, dass ausgerechnet die Teile wenig gut erhalten waren, die eine zuverlässige Rekonstruktion des Geburtskanals erlauben würden.
Mit Hilfe von computergestützten Rekonstruktionsmethoden und unter Verwendung der Mezmaiskaya-Daten konnten die Zürcher Wissenschaftler jetzt präzisere Aussagen über das Becken dieser Neandertalerfrau machen: Ihr Geburtskanal erwies sich zwar als weiter als der einer Homo-sapiens-Mutter, aber der Kopf des Neandertaler-Neugeborenen war wegen seines relativ robusten Gesichts etwas länger als der eines menschlichen Neugeborenen.
Somit scheint bei den Neandertalern die Geburt ein ähnlich schwieriger Prozess gewesen zu sein wie bei unserer eigenen Art. Die Forscher vermuten, dass es sich bei der Neugeborenen-Gehirngröße von 400 Kubikzentimetern um ein "evolutionäres Geburtslimit" handelt, das bereits beim letzten gemeinsamen Vorfahr von Mensch und Neandertaler erreicht worden war. Das würde bedeuten, dass wir bereits seit einer halben Million Jahre einen hohen evolutionären Preis in Form von Geburtsproblemen für unser großes Gehirn zahlen.
Auf neue Art
Die Wissenschaftler interessierten sich auch für die Entwicklung der Artunterschiede zwischen uns und den Neandertalern. Ein Vergleich der dreidimensionalen Schädelform zeigte, dass der Mezmaiskaya-Säugling bereits alle wesentlichen Neandertaler-Merkmale aufwies. Damit müssen also die Artunterschiede bereits während der embryonalen oder fötalen Entwicklung entstanden sein. Dieser Befund bestätigte eine Grundregel der evolutionären Entwicklungsbiologie: Neue Arten entstehen durch genetische Veränderungen im frühen Entwicklungsprogramm.
Wie sah es mit der nachgeburtlichen Entwicklung aus? Zusätzlich zum Mezmaiskaya-Neugeborenen untersuchten die Forscher weitere Neandertaler bis zu einem Alter von etwa vier Jahren, wenn das Gehirnwachstum praktisch abgeschlossen ist. Als besonders wichtig erwiesen sich zwei Kinder aus der Dederiyeh-Höhle in Syrien, die im Alter von 19 beziehunsgweise 24 Monaten starben und ebenso sorgfältig begraben wurden wie das Mezmaiskaya-Baby. Sie erzählten eine erstaunliche Geschichte: Das Neandertaler-Gehirn wuchs noch schneller als das des Homo sapiens.
Dieser Befund gab den Forschern zu denken. Denn viele ihrer Kollegen schließen aus dem schnellen Wachstum der Neandertaler, dass sie eine kürzere Lebensspanne und höhere Mortalität als wir hatten – frei nach dem Motto "live fast, die young". Das könnte jedoch ein Fehlschluss gewesen sein. Das Neandertaler-Gehirn wuchs zwar schneller als unseres, aber es musste im Schnitt ein größeres Erwachsenenvolumen erreichen. Somit erwies sich die Dauer des Hirnwachstums bei beiden Menschenarten gleich.
Energie für den Nachwuchs
Und nun kommt die Überraschung: Vergleichende Untersuchungen an Primaten zeigten, dass es letztlich die Neandertalermütter waren, die für die zusätzliche Energie und Nahrung sorgen mussten, damit ihre Kinder rasch ein großes Gehirn entwickeln konnten. Diese Extra-Energie war natürlich nicht gratis: Die Mütter selbst brauchten mehr Zeit, bis sie die nötige körperliche Konstitution entwickelt hatten, um diese Zusatzbelastung zu ertragen. Dadurch hatten sie etwas später ihr erstes Kind.
Die gesamte Lebensgeschichte eines durchschnittlichen Neandertalers verglichen mit der eines heutigen Menschen ergibt ein Bild, das erheblich von der Lehrmeinung abweicht: Die Entwicklung der Neandertaler verlief wohl ebenso langsam wie die des modernen Menschen, wenn nicht sogar etwas langsamer.
Trotz bedeutender körperlicher Unterschiede zwischen anatomisch modernen Menschen und Neandertaler seit der Geburt gehorchen nach Ansicht der Forscher letztlich beide Arten denselben Einschränkungen durch die Gesetze der Physiologie, Entwicklung und Evolution: Was Geburt, Hirnentwicklung und Lebensgeschichte angeht, sind wir einander erstaunlich ähnlich.
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