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Paläontologie: Die Wahrheit hinter dem Schwaben-Lindwurm

Einige fossile Knochen, die in Tübingen eingelagert waren, stellen Paläontologen seit 1922 vor Rätsel. Nun, 100 Jahre später, haben sie ihren Platz im Stammbaum der Dinos gefunden.
Illustration des neuen Dinos aus Tübingen
So ähnlich könnte Tuebingosaurus maierfritzorum vor mehr als 200 Millionen Jahren ausgesehen haben. Ein Raubsaurier (rechts) versucht ihn zu erbeuten.

»Diese Hüfte passt nicht zu einem Plateosaurier, das haben wir sofort gesehen«, erinnert sich Ingmar Werneburg an die erste Untersuchung der fossilen Knochen, die seit 1922 in der Tübinger Paläontologischen Sammlung liegen. Der massige, sehr robuste Knochen deutet auf ein Tier hin, das normalerweise auf seinen vier Beinen unterwegs war. Die im Volksmund »Schwäbischer Lindwurm« genannten Plateosaurier standen dagegen auf ihren beiden Hinterbeinen und hatten daher eine grundlegend anders gebaute Hüfte. Als Omar Rafael Regalado Fernandez und Ingmar Werneburg vom Senckenberg-Zentrum für Humanevolution und Paläoökologie an der Universität Tübingen daraufhin diese und einige weitere vermeintliche Plateosaurier-Fossilien mit den paläontologischen Methoden des 21. Jahrhunderts analysierten, stellten sie fest, dass die Knochen zu einer bisher unbekannten Dinosauriergattung und -art gehören. Sie gaben der Art den Namen Tuebingosaurus maierfritzorum und beschreiben sie in der Zeitschrift »Vertebrate Zoology«.

Der Gattungsname Tuebingosaurus weist auf die Universitätsstadt Tübingen hin, in der die Gattung nun beschrieben wurde und in der die Fossilien seit 100 Jahren aufbewahrt werden. Der Artname ehrt den Tübinger Zoologen Wolfgang Maier und den Leiter des Museums für Tierkunde der Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden Uwe Fritz. Beide Naturwissenschaftler haben die Forschungslaufbahn von Ingmar Werneburg stark geprägt. So tritt der Biologe praktisch in die Fußspuren von Wolfgang Maier, der die Evolution der Säugetiere in einem ganzheitlichen Ansatz mit Blick auf deren Gestalt und Körperbau, ihre Embryonalentwicklung und andere Eigenschaften untersucht hat.

Da Maier am 4. August 2022 seinen 80. Geburtstag feierte, wurde die nächste Ausgabe von »Vertebrate Zoology« auf Bitte von Werneburg zu einer Festschrift, in der 20 von Experten streng begutachtete Fachbeiträge dem Jubilar gewidmet sind. Solche Festschriften waren früher gang und gäbe, sind aber heute bei den renommierten Fachzeitschriften fast in Vergessenheit geraten. Nur nicht beim Herausgeber Uwe Fritz, einem der besten Schildkrötenspezialisten unserer Zeit. Und da Ingmar Werneburg sich in seiner Forschung nicht bloß mit Dinosauriern, sondern auch mit diesen Panzerträgern beschäftigt, stand der zweite Teil des Artnamens T. maierfritzorum fest.

Zehenknochen des Dinos | In der Tübinger Paläontologischen Sammlung blieben auch die Zehenknochen von Tuebingosaurus maierfritzorum erhalten.

Verteilte Knochen

Auf diesen neuen Vertreter der Dinosaurier waren Werneburg und sein Kollege Omar Rafael Regalado Fernandez gestoßen, als sie die in der Tübinger Sammlung lagernden Dinosaurierfossilien gründlich neu untersuchten. »Schließlich wird heute oft aus einem ganz anderen Blickwinkel auf diese Knochen geschaut, und es kommen neue Methoden zum Einsatz«, erklärt der Kustos der Paläontologischen Sammlung die Hintergründe dieses Projekts.

Zuerst suchten die Forscher nach den Fossilien, die zusammengehören: »Schließlich hatte jeder der Kustoden in der Vergangenheit seine eigenen Ideen, wie er die Funde in der Sammlung präsentieren wollte«, sagt Ingmar Werneburg. Im Lauf der Jahrzehnte wurden die Stücke daher immer wieder einmal umsortiert. Dabei wanderten gemeinsam gefundene Knochen häufig genug in unterschiedliche Teile der Sammlung. Daher durchforsteten die Forscher erst einmal Unterlagen des Universitätsarchivs aus den vergangenen Jahrzehnten, um wieder das zusammenzubringen, was gemeinsam gefunden worden war.

Einer dieser Funde enthielt offensichtlich ausschließlich Knochen aus dem hinteren Bereich des Körpers. »In diesem Skelett waren die Wirbel des Kreuzbeins mit der Hüfte verschmolzen«, beschreibt Werneburg eine der Auffälligkeiten der Fossilien. Der Forscher gilt als ausgewiesener Experte, der aus der Form von Knochen auf die Bewegungen schließt, zu denen ein Tier zu Lebzeiten fähig war. Ihm war daher sofort klar, dass diese massive und robuste Hüfte nicht zu einem Dinosaurier gehören konnte, der wie die Plateosaurier auf zwei Beinen in Sümpfen unterwegs war: Diese existierten vor 203 bis 211 Millionen Jahren in der Gegend, in der heute die Kleinstadt Trossingen auf einer Hochebene zwischen der Schwäbischen Alb und dem Schwarzwald liegt.

Einen wichtigen Hinweis auf die Fortbewegung gab zudem der mächtige Oberschenkelknochen des Tiers, der fast einen Meter lang ist. »Seine Form passt gut zu einem Vierbeiner«, sagt Ingmar Werneburg, der auch eine plausible Erklärung hat, weshalb der Fund ursprünglich für einen Plateosaurier gehalten wurde: »Damals landeten die Funde, die nicht eindeutig einer Art zugeordnet werden konnten, oft bei den Plateosauriern, die wir daher überspitzt manchmal Mülleimergruppe nennen.«

Laserscan eines fossilen Knochens | Mit einem Laserscanner erstellt Omar Rafael Regalado Fernandez 3-D-Bilder eines Fußknochens von Tuebingosaurus maierfritzorum.

Darüber hinaus zeigt ein weiteres, sehr wichtiges Indiz, dass Tuebingosaurus einen völlig anderen Lebenslauf als ein Plateosaurier hatte: In Bohrkernen aus den langen Beinknochen dieser Tiere tauchen unter dem Mikroskop Ringe auf, die ähnlich wie Baumringe Hinweise auf das Alter und Wachstum geben. Ein typischer Plateosaurierknochen legt nach solchen Analysen ähnlich wie ein Baum, der in der warmen Jahreszeit relativ rasch, im Winter aber kaum oder gar nicht wächst, in stetigen Wechseln mal schneller und dann wieder langsamer zu. Tuebingosaurus dagegen wuchs kontinuierlich heran und erreichte schließlich eine durchaus kräftige Körperform. Er passt auch in dieser Hinsicht kaum zur Mülleimergruppe.

3-D-Bilder von Fossilien

Solche schwer identifizierbaren Fossilien lassen sich heutzutage mit komplizierten und aufwändigen mathematischen Methoden oft recht gut bestimmen. Experte in dieser Disziplin ist Omar Rafael Regalado Fernandez. In einem ersten Schritt scannt er die Funde mit einem Laser, den er in der Hand hält und mit dem er langsam die einzelnen Partien des versteinerten Knochens abtastet. Aus diesen Daten erstellt ein Computerprogramm ein dreidimensionales Abbild des Fossils.

Diese 3-D-Bilder analysiert der Forscher dann weiter: Welche Form hat der Knochen? Wie groß ist er? An welchen Stellen haben Muskeln angesetzt, die bestimmte Bewegungen ermöglichten? Solche Daten können am Computer meist viel besser und genauer als in einer reellen Sammlung mit den gleichen Knochen bereits bekannter Arten verglichen werden. Als Regalado Fernandez diese Vergleiche mit unterschiedlichen Algorithmen durchführte, erhielt er immer das gleiche Ergebnis: Tuebingosaurus maierfritzorum passt einfach nicht zu den auf den beiden Hinterbeinen laufenden Plateosauriern.

Viel größere Ähnlichkeiten gab es dagegen mit den Sauropoden, die zu den bekanntesten aller Dinosaurier gehören. Diese Tiere hatten einen massigen, fast tonnenförmigen Körper, standen auf vier stämmigen, säulenförmigen Beinen und hatten einen relativ langen Hals, auf dem ein recht kleiner Kopf saß. Ein langer und kräftiger Schwanz balancierte diesen langen Hals aus. Tuebingosaurus maierfritzorum scheint also zwischen den Sauropoden und den Plateosauriern zu stehen. Und zeigt damit eindrucksvoll, wie sich aus der Form von Fossilien mit den Algorithmen der Mathematik ein Stammbaum ermitteln lässt.

Die Sauropoden waren meist recht große Tiere, einige Arten entwickelten sich zu wahren Giganten. Eine ihrer bekanntesten Gattungen ist Argentinosaurus. Mit einer Länge von etwa 30 Metern und einem Gewicht von vielleicht 70 Tonnen gehören diese Tiere wohl zu den größten bekannten Landtieren. Allerdings wurden bisher nur wenige Fossilien von Argentinosaurus gefunden, was solche Schätzungen sehr unsicher macht. »Das Gleiche gilt für Tuebingosaurus maierfritzorum«, sagt Ingmar Werneburg. Vielleicht war dieser Dinosaurier also sechs, sieben oder acht Meter lang, sein Gewicht könnte irgendwo im Bereich zwischen heutigen Rindern und Elefanten gelegen haben.

Die Forscher mit einem wichtigen Teilfund | Ingmar Werneburg (links) und Omar Rafael Regalado Fernandez zeigen den Oberschenkelknochen, der einen wichtigen Hinweis darauf lieferte, dass Tuebingosaurus maierfritzorum auf vier Beinen unterwegs war.

Herdentier im Sumpf

Auch für andere Überlegungen wählt der Tübinger Biologe und Paläontologe am liebsten eher vage Formulierungen, weil nur wenige Fakten zweifelsfrei bekannt sind. So war Tuebingosaurus maierfritzorum wahrscheinlich ein Pflanzenfresser. Solche Aussagen werden in der Paläontologie am besten mit Merkmalen des Schädels und vor allem der Zähne untermauert. Nur sind vom Kopf dieser Art keine Funde bekannt. Die bisher entdeckten Plateosaurier und Sauropoden waren jedoch allesamt Pflanzenfresser. Weshalb also sollte das Tübinger Tier aus dieser Reihe ausscheren?

Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass diese Tiere und wohl auch die jetzt neu entdeckte Art und Gattung ein Leben in der Gruppe dem Singledasein vorgezogen haben. Und weil relativ große Pflanzenfresser auch heute noch gerne in Herden leben und oft wie die Gnus und Zebras in der Serengeti oder die Bisons in den Prärien Nordamerikas weit umherstreifen, um zu jeder Jahreszeit genug Grünzeug zu finden, könnte Tuebingosaurus maierfritzorum natürlich ebenfalls ein solches Vagabundenleben geführt haben. Mehr dazu wird man vielleicht dann erfahren, wenn Ingmar Werneburg und sein Team weitere Schätze aus der Tübinger Sammlung präsentieren – oder neue Funde im Schwabenland machen, die nicht zu einem »Lindwurm« gehören.

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