Paläontologie: Muss die Evolutionsgeschichte der Vögel umgeschrieben werden?
Vor 66,7 Millionen Jahren bedeckte ein flaches Meer Teile des heutigen Belgiens, das Klima ähnelte tropischen Stränden wie auf den Bahamas. Dort lebte Janavis finalidens, ein sehr großer Meeresvogel mit langen Flügeln und Zähnen im Kiefer, der im Wasser nach Fischen oder Tintenfischen jagte. Fossile Überreste von einem dieser Zahnvögel werfen nun wohl gängige Vorstellungen zur Evolution der modernen Vögel über den Haufen. Das legt eine Studie in »Nature« nahe, die eine Arbeitsgruppe um Daniel Field von der University of Cambridge vorgelegt hat.
Das Team hat mit Hilfe von CT-Aufnahmen versteinerte Bruchstücke eines Schädels des Zahnvogels untersucht und stieß dabei auf Merkmale, die man bei dieser Vogellinie eigentlich nicht erwartet hatte. Demnach hat sich der bewegliche Schnabel – das Hauptmerkmal des Schädels von 99 Prozent der modernen Vogelarten – bereits vor dem Massenaussterben am Ende der Kreidezeit entwickelt. Damals, vor 66 Millionen Jahren, verschwanden neben den Dinosauriern noch viele andere Tier- und Pflanzenfamilien. Seit mehr als 100 Jahren waren Biologen davon ausgegangen, dass sich diese Besonderheit erst nach jener Katastrophe ausgebildet hat.
Nur die kleine Gruppe flugunfähiger Laufvögel wie Strauß, Emu oder Nandu können ihre obere Schnabelhälfte nicht bewegen, weshalb sie als urtümlich gelten. Sie gehören zu den Palaeognathae oder Urkiefervögeln, während die große Masse aller anderen Vogelspezies zu den Neukiefervögeln oder Neognathae zählen, die einen beweglichen Gaumen aufweisen. Die beiden Gruppen wurden ursprünglich von Thomas Huxley klassifiziert, der Charles Darwins Evolutionstheorie besonders lautstark unterstützte. Im Jahr 1867 teilte er alle lebenden Vögel entweder in die »alten« oder die »modernen« Kiefergruppen ein. Der Brite ging davon aus, dass die »alte« Kieferform der ursprüngliche Zustand der modernen Vögel war und sich der »moderne« Kiefer erst später entwickelte.
Die genauere Analyse des alten Schädelknochens widerlegt dies. Gefunden wurde er bereits in den 1990er Jahren und erstmals untersucht 2002. Damals konnten sich die Wissenschaftler nur auf das stützen, was sie von außen sehen konnten. Sie beschrieben die Knochenstücke, die aus dem Felsen ragten, als Fragmente von Schädel- und Schulterknochen und brachten das sonst unscheinbar aussehende Fossil zurück in den Fundus. Knapp 20 Jahre später gelangte es schließlich nach Cambridge zu Juan Benito, der den Fund im Rahmen seiner Doktorarbeit schließlich mit einem Computertomografen durchleuchtete und den wahren Wert erkannte.
Das gelang allerdings erst auf den zweiten Blick. »Die früheren Beschreibungen des Fossils ergaben einfach keinen Sinn. Es gab einen Knochen, der mir wirklich Rätsel aufgab. Ich konnte nicht verstehen, wie das, was zuerst als Schulterknochen beschrieben wurde, tatsächlich ein Schulterknochen sein konnte«, sagt der Paläontologe. Zusammen mit Field erkannte er schließlich, worum es sich tatsächlich handelte: »Dann stellten wir fest, dass wir einen ähnlichen Knochen schon einmal gesehen hatte – in einem Truthahnschädel.« Ein Vergleich beider Knochen zeigte schließlich, dass beide quasi identisch waren.
Daraus folgern die Forscher, dass sich der moderne Kiefer, wie ihn Truthähne und viele andere aufweisen, vor dem »alten«, starren Kiefer der Strauße und ihrer Verwandten entwickelt haben könnte. Aus einem noch unbekannten Grund müssen sich die verschmolzenen Gaumenknochen der Laufvögel zu einem Zeitpunkt ausgebildet haben, als die modernen Vögel bereits etabliert waren – oder ihre Vorfahren aus der Dinozeit wurden noch nicht gefunden. Nichtvogelartige Dinosaurier wie die Tyrannosaurier besaßen ebenfalls einen verschmolzenen Gaumen.
Janavis finalidens verdeutlicht dagegen den Übergang von den Dinosauriervorfahren der Vögel: Er besaß zwar noch Zähne und ist damit ein vormoderner Vogel, aber seine Kieferstruktur entsprach bereits der seiner modernen Verwandten. Diese Erkenntnis bedeute nicht, dass man den gesamten Vogelstammbaum umschreiben müsse, so die Arbeitsgruppe. Sie definiere jedoch unser Verständnis eines wichtigen evolutionären Merkmals der modernen Vögel neu.
Wie die großen Dinosaurier und andere Zahnvögel überlebte Janavis den Chicxulub-Impakt am Ende der Kreide nicht, womöglich weil er relativ groß war. Der Vogel wog etwa 1,5 Kilogramm und hatte die Dimensionen eines heutigen Geiers. Mit diesen Ausmaßen waren viele Tierarten im Nachteil, während kleinere Spezies eher überlebten, darunter womöglich das 2020 beschriebene »Wunderhuhn«, das aus demselben Gebiet stammt und neben Janavis existierte. Das Wunderhuhn gilt als das bislang älteste bekannte Exemplar eines modernen Vogels.
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