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Palliativmedizin: Kraft schöpfen bei schwerer Krankheit

Auf eine Palliativstation kommen Menschen zum Sterben, so denken die meisten. Doch die »Palli« macht noch viel mehr aus – und muss keineswegs eine Endstation sein.
Eine offenbar an Krebs erkrankte Frau trägt ein Kopftuch und schaut hoffnungsvoll eine andere Frau an, die gerade einen Infusionsbeutel reguliert.
Eine gut durchgeführte Palliativmedizin kann Schmerzen und andere Beschwerden lindern, seelischen Beistand leisten und eine gute Lebensqualität erhalten.

Wenngleich das Wort »Palliativmedizin« zunächst seltsam klingt: Der Begriff spiegelt sehr gut wider, was auf einer Palliativstation geschieht. Das lateinische Wort »pallium« bedeutet »Mantel« und wurde gewählt, weil Palliativmediziner sinngemäß schwer erkrankten Patienten und Patientinnen einen Mantel um die Schultern legen – schützend, wärmend, liebevoll. Sie stehen ihnen und ihren Angehörigen bei, wenn beispielsweise Krebs nicht mehr heilbar ist. Die Lebensqualität der Betroffenen steht im Fokus der Therapie. Man könnte auch sagen: Die Palliativmedizin gibt dem Leben vielleicht nicht mehr Tage. Aber den Tagen mehr Leben.

»Palliativmediziner haben einen anderen Blickwinkel auf die Situation der Patientinnen und Patienten«, sagt Claudia Bausewein, Fachärztin für Innere Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. »In der Akutmedizin steht die Behandlung von Krankheiten im Vordergrund, in der Palliativmedizin fokussieren wir uns auf die Symptome und die ganzheitliche Situation der Menschen. Wir denken sehr stark vom Patienten her, so dass dieser ganz im Mittelpunkt steht.«

Themenwoche »Krebs erkennen, Krebs überleben«

Wie gehe ich damit um, wenn ich oder ein Angehöriger wie etwa mein eigenes Kind an Krebs erkrankt? Welche Möglichkeiten gibt es, Krebs früh zu erkennen? Wie kann man Tumoren gezielt angreifen? Wie lebt es sich nach erfolgreicher Therapie? Und was, wenn der Krebs nicht heilbar ist? Anlässlich des Weltkrebstags am 4. Februar beleuchten wir das Thema Krebs von vielen verschiedenen Seiten in unserer Themenwoche.

  1. Moderne Krebstherapien: Gezielter Angriff!
  2. Krebsdiagnose: »Gefühle zu verdrängen, kann eine sinnvolle Strategie sein«
  3. Nach dem Krebs: Geheilt heißt nicht vorbei
  4. Krebsrisiko: Fluch und Segen von Gentests
  5. Palliativmedizin: Kraft schöpfen bei schwerer Krankheit
  6. Krebs bei Kindern: Kleine Kämpfer

Ursprung der Palliativmedizin

Die Krankenschwester Cicely Saunders gilt als Vorreiterin der Palliativbewegung: Sie gründete 1967 in London das erste Hospiz, in dem schwer Erkrankte ihre letzte Lebenszeit verbringen konnten, und verband die Tradition der christlichen Sterbebegleitung mit der modernen Medizin und Schmerztherapie. Der Begriff »palliative care«, also palliative Pflege, wurde zum ersten Mal vom Mediziner Balfour Mount genutzt. Der Gründer des Royal Victoria Hospital im kanadischen Montreal eröffnete hier 1975 die erste Palliativstation der Welt, die erste in Deutschland nahm ab 1983 in Köln Patientinnen und Patienten auf. Anders als ein Hospiz, in dem Menschen nicht bloß vorübergehend, sondern bis zu ihrem Tod gepflegt werden, ist eine Palliativstation keine Endstation. Sie ist Teil eines Krankenhauses, in dem schwer Erkrankte wieder zu Kräften kommen, mit dem Ziel, auch wieder entlassen zu werden. Mittlerweile haben mehr als 14 600 Ärztinnen und Ärzte in Deutschland die Zusatzausbildung Palliativmedizin absolviert. Gab es 1996 nur 28 Krankenhäuser mit einer Palliativstation, sind es heute 340. Eine wichtige Rolle in der Palliativversorgung spielen zudem die 269 Hospize und die 403 Teams der so genannten Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV), die schwerstkranke Menschen zu Hause betreuen.

Schmerzfrei trotz schwerer Krankheit

Der Erfolg gibt dem Konzept recht. Einem Bericht zufolge, der in der Zeitschrift »Schmerzmedizin« erschien, hat ganzheitliche Palliativmedizin zahlreiche Vorteile: Mit ihr lassen sich die Symptome besser unter Kontrolle halten, die Pflegenden sind weniger belastet, die Pflege wird koordinierter und kontinuierlicher durchgeführt und es gibt nach der Entlassung seltener erneute Klinikeinweisungen und somit weniger Kosten. »Auch verstarben die Patienten häufiger dort, wo sie es wünschten«, heißt es in der Veröffentlichung.

Laut Claudia Bausewein haben die meisten Patientinnen und Patienten auf einer Palliativstation – rund 70 bis 80 Prozent – Krebs. Sie leiden unter Schmerzen, Atemnot, Erschöpfung, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung, Schluckbeschwerden, Wunden, aber auch unter seelischen Belastungen wie Angst, Unruhe und Depressionen. »Gegen Schmerzen nutzt die Palliativmedizin eine Vielzahl von Maßnahmen, nie nur eine«, sagt Internistin Claudia Bausewein. Mit Atemtherapieeinheiten, Massagen oder Opioiden begegnen Palliativmediziner der Pein, aber auch seelisch und sozial: »Schmerz geht immer mit einer psychischen Belastung einher, die wir mitbehandeln müssen. Hatte jemand jede Nacht Schmerzen und konnte nach langer Zeit endlich wieder gut schlafen, dann ist das unsere Definition von Erfolg.« Mehr als 90 Prozent aller Patienten mit tumorbedingten Schmerzen können laut der Deutschen Krebsgesellschaft palliativ so behandelt werden, dass sie weitgehend schmerzfrei sind.

Wie können Familie und Freunde gut für sich und den Sterbenden sorgen?

  • Sprechen Sie sich in praktischen Sachen ab, egal ob es um Einkäufe oder Mitfahrgelegenheiten geht, geplante oder spontane Abwesenheiten oder Besuche beim erkrankten Familienmitglied.
  • Gehen Sie offen miteinander um und haben Sie keine Geheimnisse voreinander.
  • Holen Sie sich Unterstützung und bitten Sie um Hilfe, wenn diese notwendig ist.
  • Achten Sie darauf, ob eventuell ein anderes Familienmitglied Hilfe benötigt.
  • Sprechen Sie über Gefühle.
  • Gehen Sie liebevoll miteinander um. Gerade in einer solchen Situation ist gegenseitige Zuneigung wichtig, um dem kranken Angehörigen Geborgenheit zu vermitteln.
  • Unterstützen Sie betreuende Angehörige oder Freunde, wenn Sie bemerken, dass sie über die eigenen Grenzen gegangen und überfordert sind.
  • Wenn Sie erleben, dass betreuende Angehörige oder Freunde über sich hinauswachsen, zollen Sie ihnen Respekt. Anerkennung tut immer gut.
  • Versuchen Sie nicht mit aller Kraft stark zu sein. Es ist auch eine große Stärke, Schwäche zuzulassen.
Quelle: 99 Fragen an den Tod, Droemer, 2020

Auch das Umfeld ist wichtig: Eine erfolgreiche Palliativversorgung bezieht immer nahestehende Menschen mit ein, erklärt Claudia Bausewein. »Wir sehen Angehörige und Patienten als Behandlungseinheit. Oft geht es zum Beispiel um die Weiterversorgung: Kommt jemand in ein Hospiz oder zurück nach Hause? Damit alle in dieselbe Richtung schauen, führen wir manchmal Familiengespräche.« Angehörige, die das möchten, können zudem üben, besser mit dem kranken Menschen umzugehen: indem sie lernen, wie sie den Betroffenen beim Waschen oder Zähneputzen helfen oder welche Massagen entspannend wirken. »Einfach bloß da zu sein, hat Qualität, doch wer nicht nur danebensitzen will, kann an vielen Stellen helfen«, so Claudia Bausewein. Sie rät Angehörigen von unheilbar Kranken, sich »lieber früher als später mit dem Tod zu beschäftigen« und sich dafür professionelle Hilfe zu holen.

»Häufig ist es so, dass die Leute nicht grundsätzlich sterben möchten, sondern das Leben, so wie es gerade ist, nicht mehr lebenswert finden. Und dagegen kann man oft etwas machen«Claudia Bausewein, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin

Letzte Wünsche und neue Kraft

Steht der Tod kurz bevor, haben manche Betroffenen besondere Wünsche, die Claudia Bauseweins Team zu erfüllen versucht. »Wir sind offen für alles, auch für verrückte Ideen. Neulich war es der sehnlichste Wunsch eines Patienten, vor seinem Tod zurück in seine Heimat zu fliegen. Wir leiteten seinen Sohn an, was er im Flugzeug alles tun musste. Einen Tag nach der Landung ist der alte Mann in Serbien gestorben.«

Regelmäßig hört die Ärztin von Patienten, dass diese nicht mehr leben wollen. Sie nimmt sich dann Zeit für ein Gespräch und fragt nach, welche Not dahintersteckt. »Häufig ist es so, dass die Leute nicht grundsätzlich sterben möchten, sondern das Leben, so wie es gerade ist, nicht mehr lebenswert finden. Und dagegen kann man oft etwas machen.« Das sieht auch ihr Kollege Stefan Lorenzl so. Der Facharzt für Neurologie und Palliativmedizin ist Chefarzt im Krankenhaus Agatharied am bayrischen Schliersee. »Möchte jemand sterben, müssen wir diesen Wunsch ernst nehmen, dürfen ihn nicht bagatellisieren oder uns aus der Verantwortung ziehen, darüber zu reden. Im Gegenteil, wir müssen nachfragen«, sagt er. Doch es gehe in der Palliativmedizin nicht nur ums Sterben. »Wir sind keine Endstation, auch nicht bei fortgeschrittenen Erkrankungen.« Vielmehr sieht er seine »Palli« als Schaltstation, in der Profis die verbleibenden Möglichkeiten ausloten: Kann ein Patient zurück nach Hause? Wäre ein Pflegeheim für eine Patientin besser oder ein Hospiz? Wie viel Kraft haben die Angehörigen, um den Kranken zu begleiten? »Wir bringen Ordnung und Ruhe ins Leben und gleichen die Wünsche der Patienten mit den Möglichkeiten der Familie ab«, so Stefan Lorenzl. Nach einer Chemotherapie oder währenddessen sei eine Palliativstation genau das Richtige für Krebspatienten. »Aber nicht mit dem Ziel, die Therapie abzubrechen, sondern für ein kurzes Innehalten. Etwa, um zwischen zwei Chemozyklen Kraft zu schöpfen.«

»Wir sind keine Endstation, auch nicht bei fortgeschrittenen Erkrankungen«Stefan Lorenzl, Facharzt für Neurologie und Palliativmedizin

Palliative Versorgung in gewohnter Umgebung

Wie die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin fordert auch Stefan Lorenzl, dass die Palliativmedizin schon in der Frühphase einer Tumorerkrankung ins Spiel kommen sollte, »nicht erst, wenn jemand als austherapiert gilt«. Denn bereits die Diagnose Krebs sei eine Krisensituation, in der Patienten und Angehörige Unterstützung bräuchten. »Early integration« heißt das in der Fachsprache. Belgische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Gaëlle Vanbutsele von der End-of-life Care Research Group in Gent bestätigen nach einer Studie mit 185 Patienten: »Eine frühzeitige integrierte Palliativversorgung in der Onkologie ist ein wertvoller Ansatz, da sie die Lebensqualität auch gegen Ende des Lebens und nicht nur kurz nach Beginn der palliativen Versorgung erhöht.«

Wenngleich Palliativmedizin oft früher zum Einsatz kommen müsste, hat sie in den vergangenen Jahren Aufschwung erfahren, berichtet Stefan Lorenzl: »An den Universitäten werden die Grundlagen gelehrt und die Wichtigkeit des Fachs wird immer mehr wahrgenommen.« Zudem sei der Ausbau der SAPV-Teams, die Patienten zu Hause versorgen, vorangetrieben worden.

Zusammen mit seiner Kollegin, der Oberärztin Christiane Weck, hat Stefan Lorenzl das Projekt »TANNE« ins Leben gerufen, ein Förderprojekt des Gemeinsamen Bundesausschusses. Ziel des Projekts ist es, die palliative Versorgung von Patienten in ihrem Zuhause zu verbessern, indem die SAPV-Teams bei Fragen telemedizinisch Kontakt zu den Fachärztinnen und Fachärzten im Krankenhaus aufnehmen können. Die Studie läuft mit 36 Teams in Bayern, und Stefan Lorenzl ist mit dem bisherigen Verlauf zufrieden: »Die SAPV-Teams haben immer mehr Knowhow, was wir daran merken, dass die Anzahl der Anfragen sinkt. Bei einfachen Fragen brauchen sie uns gar nicht mehr – das ist eine gute Entwicklung. Ich schätze, dass in Zukunft eine oder zwei Kliniken als Anlaufstellen für ganz Deutschland reichen«, sagt er.

Es könne mehr Forschung geben zur Palliativmedizin und in der Lehre stecke noch Potenzial, sagt Stefan Lorenzl. Doch das Wissen über das, was er und seine Kolleginnen und Kollegen tagtäglich tun, habe zugenommen. Das liegt auch daran, dass die Palliativmedizin so erfolgreich ist. Ein Team um die US-amerikanische Wissenschaftlerin Jennifer Temel kam nach einer Studie mit 151 Lungenkrebspatienten zu folgendem Schluss: »Bei Patienten mit metastasiertem Lungenkrebs führte eine frühzeitige Palliativversorgung zu einer signifikanten Verbesserung der Lebensqualität und der Stimmung.« Im Vergleich zu Patienten mit einer Standardversorgung war bei denen mit einer frühen Palliativversorgung am Lebensende eine weniger aggressive Behandlung nötig, zudem lebten die Erkrankten länger.

Der Erfolg der Palliativmedizin ergebe sich daraus, »dass sie Antworten gab auf Fragen, die die Medizin bis dahin noch gar nicht gestellt hatte«, schreibt der Freiburger Professor für Medizinethik Giovanni Maio in der Zeitschrift für Palliativmedizin. »Die Palliativmedizin hat einen Siegeszug angetreten, weil sie mutig war.« Weil sie nicht nur das Heilen, sondern das Begleiten zur Aufgabe der Medizin erklärt habe. Weil es nicht nur um das Retten von Leben, sondern um das Umsorgen im Sterben gehe. Weil als medizinische Leistung nicht nur Technik zähle, sondern »das zwischenmenschlich zugewandte Dasein für den anderen«. Der Mantel, der Kranke wärmt und schützt.

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