Evolution: Paradoxe Prädatoren
Wo der Erfolg ist, gibt es in der Regel auch ein Rezept dazu. Für den evolutionären Triumphzug der Ameisen liegt die gewinnbringende Strategie auf der Hand: Komplexe soziale Organisation - Hundertausende einzelner Leiber agieren wie ein einziger Superorganismus. Aber keine Regel ohne Ausnahme.
Vom Jäger zum Ackerbauern und Viehzüchter. So vor gut zehntausend Jahren trug sich dieser Wandel im Nahen Osten und in China zu. Aber nein, halt, diesmal ist nicht der Mensch gemeint, nicht das Zweistromland. Der Blick geht weiter zurück in die Vergangenheit und man muss schon die Augen gehörig zusammenkneifen oder gar die Lupe nehmen, um klar zu sehen, denn die Akteure, um die es in dieser Erfolgsgeschichte der Evolution geht, sind winzig klein und haben sechs Beinchen.
Für die Ameisen lag die Kinderstube in den feuchtwarmen, tropischen Wäldern der ausgehenden Kreidezeit. Hier rüsteten sie sich für ihren weltweiten Siegeszug. Hier verfeinerten sie ihr arbeitsteiliges Kastensystem, domestizierten sie Blatt- und Wurzelläuse und lernten schließlich, Pilze in eigens angelegten Gärten zu kultivieren. Am Anfang aber waren sie alle Räuber.
Auch heute noch ausschließlich Prädatoren sind die Ponerinen, die Familie der Stechameisen. Dem emsigen Kreativitätswettbewerb ihrer Verwandschaft, der zu raffinierten Symbiosen und schwindelerregenden Nestarchitekturen führte, haben sie sich schlicht enthalten. Wie vor Urzeiten marschieren sie immer noch mit messerscharfen Mundwerkzeugen bewaffnet durch die Blätterhalden des Waldbodens zur Jagd auf Kleingetier. Machen sie dabei Beute, sparen sie sich die Mühe, ihren Nestgenossen Bescheid zu geben. Und gibt es einmal Ärger mit Fremden, packen sie ihren derben Stachel aus. Den haben sie von den gleichen Vorfahren geerbt, denen auch Wespen und Bienen ihre Waffe im Hinterleib verdanken. Die elegantere Technik, zur Abwehr aus sicherer Distanz Ameisensäure zu versprühen, kennen die Ponerinen nicht.
Besonders hinterwäldlerisch verhalten sich die Stechameisen in sozialen Angelegenheiten. Bei der Jagd sind sie Einzelgänger und kommunizieren wenig über chemische Signale. Außerdem kann von Staaten bei ihren Gemeinschaften kaum die Rede sein: Nur fünfzig oder maximal ein paar hundert Krabbler bilden eine Kolonie. Die Völker anderer Ameisenfamilien können es dagegen auf Individuenzahlen von Hunderttausenden oder gar Millionen bringen.
All das wäre ja nur eine Kuriosität am Rande, wenn es sich bei den Ponerinen nicht um eine ziemlich erfolgreiche Ameisenfamilie handeln würde. Bei einem weltweiten Artenscreening, das die Vielfalt des krabbelnden Lebens auf Waldböden erfasste, belegten die Ponerinen einen respektabeln zweiten Platz unter den vier großen Ameisenfamilien. Nur die Myrmicinen, die uneingeschränkten Herrscher der Boden- und Laubstreuschichten, zeigten eine größere Diversität. Experten schätzen, dass es etwa 2000 Ponerinenarten gibt – bei über 10 000 Ameisenspezies insgesamt. Für die Ameisenpäpste Edward O. Wilson von der Universität Harvard und Bert Hölldobler vom Theodor-Boveri-Institut der Universität Würzburg Grund genug, sich Gedanken über den rätselhaften Erfolg der Stechameisen zu machen.
Das Ponerinen-Paradox nennen sie das seltsame Zusammentreffen von sozialer Primitivität und globalem Erfolg. Bedauerlicherweise ist die Sicht in die Vergangenheit sehr trüb, da die fossile Geschichte der Ameisen nur lückenhaft dokumentiert ist. Das liegt daran, dass den Myrmekologen bislang nur wenige in Bernstein konservierte Ameisen in die Hände fielen. Und gerade aus der kritischen Zeit, als sich die verschiedenen Familien aufspalteten, fehlt es an in versteinertem Harz gefangenen Ameisenahnen. Daher blieb Wilson und Hölldobler nichts anderes übrig als für das Epos "Historie der Ameisen" ein hypothetisches Szenario zu entwerfen.
Schauplatz sind zunächst, und damit zurück zum Anfang, die warmen tropischen Wälder am Ende der Kreidezeit. Im Zuge des großen Faunenschnitts, der vor 65 Millionen Jahren auch die Dinosaurierer dahinraffte, verschwanden die bis dahin vorherherrschenden Urameisen. Gleichzeitig begannen sich die Blütenpflanzen auszubreiten und verdrängten die Nadelbäume mehr und mehr aus dem tropischen Dschungel. Die Humus- und Laubschicht am Boden veränderte sich und wurde zum Tummelplatz für alles mögliche Kleingetier. Hier traten nun, in der Vorstellung von Wilson und Hölldobler, die Ponerinen als erste auf den Plan, erkämpften sich brutal ihre Nischen als Prädatoren und verzweigten sich zu großer Mannigfaltígkeit.
Die Hochzeit der Ponerinen vor 60 Millionen Jahren im Paläozän währte aber nicht ewig. Im frühen Eozän, vor 50 Millionen Jahren, begannen die Myrmicinen den Stechameisen Beute und Nistplätze streitig zu machen. Und tatsächlich jagten sie ihnen einen Großteil von beiden ab, nicht nur weil sie sozial fortschrittlicher waren, sondern auch weil sie zusätzliche Nahrungsquellen wie Pflanzensamen erschlossen und allmählich verstanden, Läuse zu melken. Dennoch gelang es den perfekt ans räuberische Leben angepassten Ponerinen, viele ihrer Nischen zu verteidigen – "weil sie einfach verdammt gute Prädatoren sind", wie es Heike Feldhaar aus Hölldoblers Arbeitsgruppe lapidar ausdrückt.
Die nächste Innovationswelle schwappte dann vor vielleicht 40 Millionen Jahren mit den so genannten Formicinen und Dolichoderinen – den übrigen beiden der vier großen Ameisenfamilien – herein. Auf dem Waldboden war für sie aber nicht mehr viel zu holen, den hatten die Prädatorprofis schon unter sich aufgeteilt. Deshalb gings ab ins Blätterdach der Bäume. Dort ist die Verteilung der Artenvielfalt inzwischen auf den Kopf gestellt – hier sind die Formicinen der Konkurrenz weit enteilt. Dies liegt daran, dass sie die Symbiosen mit Läusen und Schmetterlingsraupen vervollkommneten und so indirekt auch vegetarische Kost anzapften. Damit waren Formicinen und Dolichoderinen bereit, Lebensräume zu erobern, in denen sie den Jägern weit überlegen waren – Wüsten, trockenes Grasland oder kältere Klimazonen.
Weil die Ponerinen dagegen bei der Evolution nicht so richtig mitgemacht haben, kamen sie auch niemals aus ihrer Kinderstube heraus. In den Baumkronen findet man sie kaum und in Mitteleuropa zählen die Forscher ganze zwei Arten. Doch auch wenn nach dem von Wilson und Hölldobler entworfenen Evolutionsepos die einstige Dynastie der Ponerinen längst verflossen ist, scheint im Gewimmel des Waldbodens von morgen wohl auch für die hartnäckig Gestrigen Platz zu sein.
Für die Ameisen lag die Kinderstube in den feuchtwarmen, tropischen Wäldern der ausgehenden Kreidezeit. Hier rüsteten sie sich für ihren weltweiten Siegeszug. Hier verfeinerten sie ihr arbeitsteiliges Kastensystem, domestizierten sie Blatt- und Wurzelläuse und lernten schließlich, Pilze in eigens angelegten Gärten zu kultivieren. Am Anfang aber waren sie alle Räuber.
Auch heute noch ausschließlich Prädatoren sind die Ponerinen, die Familie der Stechameisen. Dem emsigen Kreativitätswettbewerb ihrer Verwandschaft, der zu raffinierten Symbiosen und schwindelerregenden Nestarchitekturen führte, haben sie sich schlicht enthalten. Wie vor Urzeiten marschieren sie immer noch mit messerscharfen Mundwerkzeugen bewaffnet durch die Blätterhalden des Waldbodens zur Jagd auf Kleingetier. Machen sie dabei Beute, sparen sie sich die Mühe, ihren Nestgenossen Bescheid zu geben. Und gibt es einmal Ärger mit Fremden, packen sie ihren derben Stachel aus. Den haben sie von den gleichen Vorfahren geerbt, denen auch Wespen und Bienen ihre Waffe im Hinterleib verdanken. Die elegantere Technik, zur Abwehr aus sicherer Distanz Ameisensäure zu versprühen, kennen die Ponerinen nicht.
Besonders hinterwäldlerisch verhalten sich die Stechameisen in sozialen Angelegenheiten. Bei der Jagd sind sie Einzelgänger und kommunizieren wenig über chemische Signale. Außerdem kann von Staaten bei ihren Gemeinschaften kaum die Rede sein: Nur fünfzig oder maximal ein paar hundert Krabbler bilden eine Kolonie. Die Völker anderer Ameisenfamilien können es dagegen auf Individuenzahlen von Hunderttausenden oder gar Millionen bringen.
Anders als in diesen Riesenreichen ist die Königin im Ponerinen-Dorf auch keine dralle Eierlegemaschine – selten bringt sie es auf fünf Eier am Tag. Und weil sie nur wenig größer als die gewöhnlichen Arbeiterinnen ist, muss sich Ihre Majestät bei einer Nestneugründung selbst die Finger, beziehungsweise ihre Mandibeln und Tarsenglieder, schmutzig machen. Andere Königinnen können sich, einmal im neuen Bau eingenistet, beruhigt niederlassen und aufs Eierlegen konzentrieren. Die rasch schlüpfenden ersten Arbeiterinnen sind sehr klein, schwärmen aber umgehend aus und übernehmen die Versorgung der nächsten Nachkommen. Für die Ponerinen-Mutter ist dagegen schon das Durchbringen der ersten Brut eine harte Aufgabe. Immer wieder muss sie höchstpersönlich vor die Tür, um Nahrung zu sammeln, wobei sie keine andere Wahl hat, als indessen den sich entwickelnden Nachwuchs unbeaufsichtigt zu lassen.
All das wäre ja nur eine Kuriosität am Rande, wenn es sich bei den Ponerinen nicht um eine ziemlich erfolgreiche Ameisenfamilie handeln würde. Bei einem weltweiten Artenscreening, das die Vielfalt des krabbelnden Lebens auf Waldböden erfasste, belegten die Ponerinen einen respektabeln zweiten Platz unter den vier großen Ameisenfamilien. Nur die Myrmicinen, die uneingeschränkten Herrscher der Boden- und Laubstreuschichten, zeigten eine größere Diversität. Experten schätzen, dass es etwa 2000 Ponerinenarten gibt – bei über 10 000 Ameisenspezies insgesamt. Für die Ameisenpäpste Edward O. Wilson von der Universität Harvard und Bert Hölldobler vom Theodor-Boveri-Institut der Universität Würzburg Grund genug, sich Gedanken über den rätselhaften Erfolg der Stechameisen zu machen.
Das Ponerinen-Paradox nennen sie das seltsame Zusammentreffen von sozialer Primitivität und globalem Erfolg. Bedauerlicherweise ist die Sicht in die Vergangenheit sehr trüb, da die fossile Geschichte der Ameisen nur lückenhaft dokumentiert ist. Das liegt daran, dass den Myrmekologen bislang nur wenige in Bernstein konservierte Ameisen in die Hände fielen. Und gerade aus der kritischen Zeit, als sich die verschiedenen Familien aufspalteten, fehlt es an in versteinertem Harz gefangenen Ameisenahnen. Daher blieb Wilson und Hölldobler nichts anderes übrig als für das Epos "Historie der Ameisen" ein hypothetisches Szenario zu entwerfen.
Schauplatz sind zunächst, und damit zurück zum Anfang, die warmen tropischen Wälder am Ende der Kreidezeit. Im Zuge des großen Faunenschnitts, der vor 65 Millionen Jahren auch die Dinosaurierer dahinraffte, verschwanden die bis dahin vorherherrschenden Urameisen. Gleichzeitig begannen sich die Blütenpflanzen auszubreiten und verdrängten die Nadelbäume mehr und mehr aus dem tropischen Dschungel. Die Humus- und Laubschicht am Boden veränderte sich und wurde zum Tummelplatz für alles mögliche Kleingetier. Hier traten nun, in der Vorstellung von Wilson und Hölldobler, die Ponerinen als erste auf den Plan, erkämpften sich brutal ihre Nischen als Prädatoren und verzweigten sich zu großer Mannigfaltígkeit.
Die Hochzeit der Ponerinen vor 60 Millionen Jahren im Paläozän währte aber nicht ewig. Im frühen Eozän, vor 50 Millionen Jahren, begannen die Myrmicinen den Stechameisen Beute und Nistplätze streitig zu machen. Und tatsächlich jagten sie ihnen einen Großteil von beiden ab, nicht nur weil sie sozial fortschrittlicher waren, sondern auch weil sie zusätzliche Nahrungsquellen wie Pflanzensamen erschlossen und allmählich verstanden, Läuse zu melken. Dennoch gelang es den perfekt ans räuberische Leben angepassten Ponerinen, viele ihrer Nischen zu verteidigen – "weil sie einfach verdammt gute Prädatoren sind", wie es Heike Feldhaar aus Hölldoblers Arbeitsgruppe lapidar ausdrückt.
Die nächste Innovationswelle schwappte dann vor vielleicht 40 Millionen Jahren mit den so genannten Formicinen und Dolichoderinen – den übrigen beiden der vier großen Ameisenfamilien – herein. Auf dem Waldboden war für sie aber nicht mehr viel zu holen, den hatten die Prädatorprofis schon unter sich aufgeteilt. Deshalb gings ab ins Blätterdach der Bäume. Dort ist die Verteilung der Artenvielfalt inzwischen auf den Kopf gestellt – hier sind die Formicinen der Konkurrenz weit enteilt. Dies liegt daran, dass sie die Symbiosen mit Läusen und Schmetterlingsraupen vervollkommneten und so indirekt auch vegetarische Kost anzapften. Damit waren Formicinen und Dolichoderinen bereit, Lebensräume zu erobern, in denen sie den Jägern weit überlegen waren – Wüsten, trockenes Grasland oder kältere Klimazonen.
Weil die Ponerinen dagegen bei der Evolution nicht so richtig mitgemacht haben, kamen sie auch niemals aus ihrer Kinderstube heraus. In den Baumkronen findet man sie kaum und in Mitteleuropa zählen die Forscher ganze zwei Arten. Doch auch wenn nach dem von Wilson und Hölldobler entworfenen Evolutionsepos die einstige Dynastie der Ponerinen längst verflossen ist, scheint im Gewimmel des Waldbodens von morgen wohl auch für die hartnäckig Gestrigen Platz zu sein.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.