Lesefähigkeit: Paviane lernen geschriebene Wörter zu erkennen
Sie haben zwar weder eine Vorstellung davon, was Wörter sind, noch wüssten sie, was diese bedeuten – dennoch sind Paviane zu einer Art rudimentären Lesens in der Lage. Das demonstrierten nun Wissenschaftler um Jonathan Grainger von der Université Aix-Marseille, die damit mehr über die Grundlagen der Lesefähigkeit beim Menschen herausfinden möchten.
Das Forscherteam trainierte sechs Paviane (Papio papio), existierende englische Wörter am Schriftbild zu erkennen und von erfundenen Pseudowörtern zu unterscheiden. Das beste Tier konnte sich im Verlauf von rund sechs Wochen 308 Wörter einprägen, das schlechteste kam auf lediglich 81. Die Trefferquote lag bei allen getesteten Affen im Mittel bei etwa 75 Prozent.
Für ihr Experiment bestimmten die Wissenschaftler zunächst, welche Buchstaben in der englischen Sprache bei vierbuchstabigen Wörtern besonders häufig nebeneinander stehen und welche besonders selten. Dann wählten sie 500 englische Wörter mit häufigen Buchstabenkombinationen aus (zum Beispiel DONE, LAND, THEM, VAST) und erzeugten anschließend 7832 Pseudowörter mit seltenen, aber erlaubten Buchstabenkombinationen (zum Beispiel DRAN, LONS, TELK, VIRT). Nun trainierten sie die Tiere darauf, zunächst ein einzelnes der existierenden Wörter als "Wort" zu klassifizieren und die restlichen gezeigten Pseudowörter abzulehnen. Jedes Mal wenn der Pavian dies mit einer Trefferquote von über 80 Prozent beherrschte, fügten sie ein neues zu lernendes Wort hinzu und wiederholten den Vorgang, wobei immer wieder auch die bereits gelernten Wörter abgefragt wurden.
Indem sie die Testwörter nach der beschriebenen Häufigkeitsverteilung ihrer Buchstabenkombinationen auswählten, wollten die Forscher den Affen einen Anhaltspunkt bei der Klassifizierung geben. Wie Grainger und Kollegen schreiben, dürften sich die Affen tatsächlich an diesem Aspekt orientiert haben: Beispielsweise klassifizierten die Paviane erstmals präsentierte Wörter signifikant häufiger korrekt als "Wort", was nach Ansicht der Wissenschaftler zeigt, dass die Tiere die gelernten impliziten Regeln verallgemeinern konnten.
Der entscheidende Punkt sei nun, dass das Erlernen dieser statistischen Regelmäßigkeiten voraussetze, dass die Tiere die Buchstabenkombinationen auflösen können – also die Reihenfolge der Buchstaben erkennen und behalten können. Demnach leisteten die Tiere bei der Wahrnehmung des Schriftbilds einen komplexen Verarbeitungsschritt, der auch für Menschen beim Lesen wichtig ist.
Da nun selbst Affen, die keinerlei Erfahrung mit menschlicher Sprache hatten, zu einer solchen Vorverarbeitung in der Lage sind, scheinen die entsprechenden neuronalen Prozesse sprachunabhängig zu funktionieren und auf allgemeine, evolutionär alte Fähigkeiten des Gehirns zurückzugehen. Das Primatengehirn könnte demnach weit besser auf die speziellen Erfordernisse des Lesen vorbereitet sein als gedacht, schlussfolgern die Autoren.
Besonders leicht scheint den Pavianen ihre Aufgabe allerdings nicht gefallen zu sein: Um bei ihrer Trefferquote von 75 Prozent zu landen, musste jedes der Tiere im Verlauf der sechs Wochen des Experiments rund 50 000 Mal über "Wort" oder "Nicht Wort" entscheiden. Immerhin scheint es ihnen ein gewisses Vergnügen bereitet zu haben, denn ob sie die Experimentierstation in ihrem gemeinsamen Gehege aufsuchten oder nicht, war ihnen völlig freigestellt.
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