Persönlichkeit: Wer neigt zu Stress?
Emotional labile Menschen sind stressanfälliger als emotional stabile. Und verträgliche, gewissenhafte und extravertierte Persönlichkeiten genießen einen kleinen Stressschutz. Die Persönlichkeit trägt demnach zur Stressanfälligkeit bei – doch ihr Einfluss ist klein. Zu diesem Schluss kommt ein Team um Jing Luo von der Northwestern University in Chicago nach einer Metaanalyse über rund 250 Studien.
Die Forschenden sichteten dazu Daten von mehr als 150 000 Personen zwischen 10 und 79 Jahren. Sie unterschieden zwischen drei Aspekten von Stress: das subjektive Erleben, die messbaren körperlichen Reaktionen sowie Stress auslösende Situationen, die »Stressoren«. Auch Letztere können mit der Persönlichkeit zusammenhängen, da Menschen ihre Umwelt teils selbst auswählen und beeinflussen, erläutert die Gruppe in der Zeitschrift »Personality and Social Psychology Review«. Per Fragebogen wurden außerdem die fünf großen Persönlichkeitsdimensionen erfasst, genannt »Big Five«: emotionale Labilität (Neurotizismus), Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für neue Erfahrungen.
Wie erwartet hing die emotionale Labilität – die Neigung zu negativen emotionalen Reaktionen wie Angst und Nervosität – am engsten mit dem subjektiven Stresserleben und dem Auftreten von Stressoren zusammen. Je extravertierter (geselliger, aktiver, selbstbewusster) eine Person, desto weniger neigte sie zu Stresserleben und zu körperlichen Stressreaktionen. Auch Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit minderten das Stresserleben und schützten überdies ein wenig vor Stressoren. Kein Wunder: Verträgliche Menschen verhalten sich freundlich und kooperativ, und gewissenhafte sind organisiert und zuverlässig – Eigenschaften, die das Risiko für viele Stresssituationen senken.
Schwieriger zu deuten waren die Befunde für die fünfte Dimension der Persönlichkeit: Offenheit für neue Erfahrungen. Sie gilt als besonders komplexe Dimension, mit Merkmalen wie Fantasie, ästhetischen und intellektuellen Interessen – der Gegenpol zu einem konventionellen und konservativen Geist. Hier zeigte sich: Je offener eine Person ist, desto weniger zeigte sie messbare körperliche Stressreaktionen, aber desto mehr berichtete sie subjektiv über Stresserleben. Diese Menschen sind also körperlich gesehen eher stressresistent, zugleich aber dem eigenen Empfinden nach eher stressanfällig.
Auf Ursache und Wirkung kann man aus den Daten nicht schließen. Die Persönlichkeit könnte ebenso Ursache wie Folge von Stress sein, oder beide könnten eine gemeinsame Ursache haben, wie Erbanlagen oder Kindheitserfahrungen. Der Zusammenhang von Stress und Persönlichkeit fiel allerdings ohnehin sehr schwach aus, und wenn, dann zeigte er sich mehr im Privatleben als im Beruf. Offenbar unterliegt Stress in all seinen Facetten noch vielen anderen Einflüssen, die mit den Big Five der Persönlichkeit nicht erfasst werden.
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