Pestizide in Deutschland: Zu viel, zu verbreitet und gefährlicher als gedacht
Gummistiefel, Regenjacke, Pipette, Becher: Mit dieser Ausrüstung war Matthias Liess mit seinem Team vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Leipzig (UFZ) über zwei Jahre hinweg landauf, landab in Feld und Flur unterwegs. Sein Interesse galt den ganz kleinen Fließgewässern, also den Bächen und den Gräben, die entlang von Wegen und zwischen Äckern verlaufen und wie ein Kapillarsystem die Landschaft durchziehen.
Damit tat er das, was eigentlich die Bundesländer bis 2018 hätten erledigen sollen: Sie hatten versprochen, bis zum Jahr 2018 herauszufinden, wie stark die Kleingewässer in Deutschland mit Pestiziden aus der Landwirtschaft belastet sind und ob Schäden für Ökosysteme und Artenvielfalt drohen. Das scheiterte aber an fehlenden Mitteln und Mitarbeitern. »Deshalb haben das wir jetzt gemacht«, sagt Liess.
Zwei Jahre lang hat der Ökologe dafür deutschlandweit ein völlig neuartiges Netzwerk von 124 Messstellen betrieben. »Kleingewässermonitoring« heißt das vom Umweltbundesamt finanzierte Projekt. Das UFZ-Team ging akribisch vor: »Um andere Faktoren auszuschließen, haben wir gezielt nach Orten gesucht, bei denen vor allem die Landwirtschaft als Verursacher in Frage kommt«, erzählt er. Zur Kontrolle wurde sein Team auch an Bächen aktiv, die keine offensichtlichen Stoffeinträge aufweisen. Eigens konzipierte Messgeräte waren so programmiert, dass sie bei starkem Regen aktiv werden. »Dann werden Pflanzenschutzmittel und ihre Abbauprodukte aus dem Boden ausgewaschen und weggespült«, sagt Liess, und dann sind die Konzentrationen in den Kleingewässern am höchsten. Bislang hatte es kaum Messwerte gegeben von diesen für die Lebewesen in den Kleingewässern lebensentscheidenden Momenten.
»Wir haben in 40 bis 60 Prozent der Proben Überschreitungen entdeckt – und sehr häufig massiv«Matthias Liess, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Leipzig
Nach der Probenentnahme schickten die Geräte automatisch eine SMS nach Leipzig, um zu signalisieren, dass die vollen Messbecher abgeholt werden müssen. Parallel untersuchten Liess und sein Team auch die Lebensgemeinschaften in den Kleingewässern – von Algen bis zu Libellen. Sie ermittelten dabei, welche Arten besonders sensibel auf Pestizide reagieren.
Die Ergebnisse haben Liess erschüttert. »Wir haben in 40 bis 60 Prozent der Proben Überschreitungen entdeckt – und sehr häufig massiv«, sagt er. Zudem ergab die Untersuchung der Artenvielfalt, dass etwa ein Drittel der Organismen auf die gemessenen Konzentrationen extrem empfindlich reagiert: »Das ist nicht so, dass auf einmal Tiere tonnenweise tot oben auf dem Wasser schwimmen«, sagt der UFZ-Forscher, »sie haben einfach weniger Nachkommen und eine höhere Sterberate.«
Pflanzenschutzmittel, so das Ergebnis, bringen für sensible Arten einen langsamen, leisen Tod. Die Erkenntnisse des Kleingewässermonitorings sind brisant, weil sie an einer Grundannahme der deutschen Agrarpolitik rütteln: Wenn Landwirte »ordnungsgemäß« wirtschaften, also alle Regeln befolgen, dürfte es eigentlich weder Grenzwertüberschreitungen noch Schäden für die Biodiversität geben. Ordnungsgemäße Landwirtschaft ist deshalb flächendeckend erlaubt, auch in den Landschaftsschutzgebieten, die ein gutes Viertel der Landesfläche bedecken.
Sind Pestizide schädlicher als gedacht?
Doch in Deutschland wie in der ganzen EU ist in den vergangenen Jahren die Sorge gewachsen, dass viele der Grundannahmen zur Sicherheit von Pflanzenschutzmitteln falsch sein könnten. Zu deutlich weisen fast alle Indikatoren der Artenvielfalt in der Agrarlandschaft nach unten. Frühere Allerweltsvögel wie Kiebitz und Feldlerche sowie jede zweite Amphibienspezies stehen auf Roten Listen gefährdeter Arten. Blumenwiesen sind zur Seltenheit geworden, allenfalls das Gelb des Löwenzahns sorgt für Farbtupfer. Bei mehr als 70 Prozent von 2200 Pflanzenarten, die Wissenschaftler untersucht haben, ist in den vergangenen Jahrzehnten das Verbreitungsgebiet geschrumpft. Das Summen, Brummen und Flattern der Insekten werden ebenfalls stetig weniger.
Die EU-Kommission in Brüssel und auch die Ampelkoalition in Berlin haben vor diesem Hintergrund das Ziel ausgegeben, den Einsatz von Pestiziden bis 2030 zu halbieren. Zudem hat sich die Bundesregierung mit 195 anderen Ländern im Dezember 2022 im Weltnaturabkommen dazu verpflichtet, bis zum Ende des Jahrzehnts die Belastung der Umwelt mit Pestiziden so zu reduzieren, dass Natur und Artenvielfalt keinen Schaden mehr nehmen.
Die EU-Kommission schritt bereits im Juni 2022 zur Tat und legte mit der »Sustainable Use Regulation« einen Plan vor, den Einsatz von Pestiziden deutlich zu begrenzen. Dem Vorschlag zufolge soll der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in europäischen wie nationalen Schutzgebieten grundsätzlich verboten und nur in Ausnahmefällen möglich sein. Zudem soll es Pufferzonen um geschützte Habitate und offene Wasserflächen geben. Bei der Halbierung der Pestizidmenge schlägt die Kommission ein Punktesystem vor, um sowohl die Menge als auch die Giftigkeit der Wirkstoffe zu berücksichtigen.
Chemikalien werden in großem Stil freigesetzt
Pflanzenschutzmittel zählen zu den wenigen synthetischen Chemikalien, die in großem Stil gezielt in die Umwelt freigesetzt werden dürfen – mehr als 450 000 Tonnen im Jahr wurden zuletzt in der EU verkauft, davon in Deutschland rund 86 000 Tonnen Pflanzenschutzmittel, die 29 000 Tonnen Wirkstoff enthielten. Das entspricht umgerechnet etwa einem Kilogramm Pflanzenschutzmittel pro Einwohner. 281 verschiedene Wirkstoffe kommen in Deutschland zum Einsatz. Ihr Zweck: Herbizide sollen die Kulturpflanzen vor unliebsamen Konkurrenten schützen, Insektizide vor gefräßigen Käfern und Fungizide vor vermehrungsfreudigen Pilzen. Gemeinsam haben diese Wirkstoffe, dass sie bei grundlegenden Stoffwechselprozessen wie der Fotosynthese oder der Atmungskette ansetzen. Deshalb wirken sie relativ unspezifisch.
»Da entstehen Pestizid-Cocktails mit schwer vorhersagbarer Giftigkeit«Jakub Hofman, Universität Brünn
Was in freier Natur die Giftwirkung vermindert, sind hauptsächlich Abstände, Verdünnung und chemischer Zerfall. Darauf bauen alle Regelwerke für den Einsatz der Mittel auf. Ob diese Mechanismen die Natur aber so wirksam schützen wie angenommen, ist fraglich. Bei der Zulassung wird nur untersucht, wie gefährlich einzelne Wirkstoffe für einzelne Modellorganismen sind. Wie sie mit anderen Giften und den Böden zusammenwirken, bleibt dagegen weitgehend außen vor. »Da entstehen Pestizid-Cocktails mit schwer vorhersagbarer Giftigkeit«, warnt Jakub Hofman von der Universität Brünn, der europäische Böden auf 53 verschiedene Wirkstoffe untersucht hat.
In einer groß angelegten Studie haben bereits im Jahr 2010 Wissenschaftler um Frank Berendse von der Universität Utrecht in acht Ländern die verschiedenen Stressfaktoren verglichen, um die konkreten Ursachen für den Rückgang der Artenvielfalt zu ermitteln. Sie gingen dabei über die Ländergrenzen hinweg verschiedensten Faktoren auf den Grund, etwa wie groß die Äcker sind und wie viel gedüngt wird. »Von den 13 Faktoren der landwirtschaftlichen Intensivierung, die wir gemessen haben, hatte der Gebrauch von Insektiziden und Fungiziden konsequent negative Effekte auf die Biodiversität«, folgern die Forscher.
In »DINA«, einem von der Bundesregierung geförderten Monitoringprojekt für Insekten, hat der Ökotoxikologe Carsten Brühl von der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität in Landau eine große Zahl von Proben aus insgesamt 21 deutschen Naturschutzgebieten untersucht. Die Probegebiete lagen im ganzen Land verteilt, von den Lütjenholmer Heidedünen an der Nordsee bis zur Mühlhauser Halde im tiefen Süden. In solchen Schutzgebieten soll die Natur eigentlich sicher sein und sich von menschlichen Eingriffen erholen können. Doch die Ergebnisse legen einen anderen Schluss nahe.
Selbst Naturschutzgebiete sind betroffen
Mit seinen leistungsfähigen Analysegeräten untersuchte Brühl die Insekten auf 92 Wirkstoffe – und fand Rückstände von insgesamt 47 Pestiziden. Der Durchschnitt pro Probe lag bei 17 Wirkstoffen. Diese müssen irgendwie in die Naturschutzgebiete gelangt sein. Eine Möglichkeit ist, dass die Insekten zum Beispiel beim Herumfliegen außerhalb der Schutzgebiete mit den Stoffen in Kontakt gekommen sind.
Das Kleingewässermonitoring von UFZ-Forscher Matthias Liess förderte eine weitere beunruhigende Erkenntnis zu Tage: Die derzeitige staatliche Vorgabe für Landwirte, dass zwischen ihren Spritzflächen und Gewässern beidseits mindestens fünf Meter Abstand liegen müssen, ist absolut unzureichend, um ökologische Schäden zu vermeiden und Grenzwerte einzuhalten. Wie Liess und sein Team nun im Journal »Water Research« schreiben, müssten die so genannten Gewässerrandstreifen zu jeder Seite mindestens 18 Meter, in manchen Fällen sogar 32 Meter breit sein, damit in 95 Prozent der Fälle die Grenzwerte für die Wasserbelastung eingehalten würden.
Die noch schlechtere Nachricht für die Politik: Der Untersuchung zufolge reicht selbst eine Halbierung des Pestizideinsatzes, wie sie die EU-Kommission vorschlägt, nicht aus, um die Gewässer und ihre Bewohner zu schützen. Hintergrund ist, dass Pflanzenschutzmittel oft schon in geringen Dosen ihre Wirkung entfalten und eine Halbierung der Dosis einen Großteil der Wirkung bestehen lässt.
Umweltschutz kostet Agrarflächen und Ertrag
Allein eine 50-prozentige Reduktion des Pestizideinsatzes, wie sie im europäischen Green Deal gefordert wird, würde der Studie zufolge immer noch dazu führen, dass in 39 Prozent der Fälle der gesetzliche Grenzwert überschritten wird und in 68 Prozent der Fälle ein strengerer Schwellenwert, den die Wissenschaftler auf Grund ihrer Untersuchungen zum Schutz der Biodiversität für nötig halten. Die Forscher sehen von 5 auf 18 Meter verbreiterte Gewässerrandstreifen deshalb »als die effizienteste Maßnahme, um die Pestizidkonzentrationen in kleinen Bächen nachhaltig zu reduzieren«. Das hat allerdings seinen Preis: Dafür müsste die Agrarfläche in den jeweiligen Einzugsgebieten um knapp vier Prozent verringert werden.
Doch schon die Vorschläge der EU-Kommission gehen der Agrarwirtschaft viel zu weit. Der Deutsche Bauernverband (DBV) unterstützt zwar generell das Ziel, die Pestizidmengen zu reduzieren, will dabei jedoch eher auf freiwillige Programme und neue Anbautechniken setzen, die mit Drohnen und künstlicher Intelligenz eine präzisere Ausbringung der Mittel ermöglichen.
DBV-Präsident Joachim Rukwied sieht die EU-Pläne und insgesamt strengere Auflagen als Frontalangriff auf das Businessmodell der Landwirte und als »Gefahr für die Ernährungssicherheit«. Bereits wenn der Pestizideinsatz in nationalen und europäischen Schutzgebieten verboten werde, rechnet Rukwied »allein bei Getreide mit jährlichen Ertragsverlusten in der Größenordnung von rund sieben Millionen Tonnen«. Die gesamte Getreideernte lag 2022 bei 43 Millionen Tonnen. Ein erheblicher Anteil davon ging in die Tierfütterung und die industrielle Verwertung.
Ängste um Ernährungssicherheit
Solche Warnungen lösen bei der aktuellen politischen Weltlage in der Bundesregierung große Ängste aus. Dass im Sommer 2022 zeitweise der internationale Getreidehandel ins Stocken geriet, weil die russische Marine den Abtransport von Lagerbeständen und Ernte aus ukrainischen Häfen blockierte, hat zu tiefer Verunsicherung geführt und rückt Klima- und Naturschutz in den Hintergrund.
Obwohl »weniger Pestizide« so sehr zum Kanon der Grünen zählt wie »Atomkraft? Nein danke!«, zeigt sich Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir gegenüber der Agrarwirtschaft nachgiebig. Er will zum Beispiel Landschaftsschutzgebiete, die sich über 27 Prozent der Landesfläche erstrecken, vom Pestizidverbot ausnehmen. Mehr als dreimal so breite Gewässerrandstreifen, wie sie das Kleingewässermonitoring der Helmholtz-Forscher eigentlich als zwingend notwendig erscheinen lässt, um Grenzwerte einzuhalten, werden im Agrarministerium erst gar nicht diskutiert.
Unterstützt wird die Agrarwirtschaft vor allem von mehreren osteuropäischen Staaten und Österreich. Als diese Länder Ende 2022 eine nochmalige Überprüfung des EU-Vorschlags durchsetzten, demonstrierten sie Desinteresse an den Warnungen der Wissenschaft, obwohl diese immer dramatischer werden. Mehr als 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten zuvor in einem offenen Brief an Regierungen und die EU-Kommission davor gewarnt, den Umgang mit dem Krieg in der Ukraine gegen Klima- und Naturschutz in Stellung zu bringen. Umweltziele aufzugeben, heißt es darin, würde »uns nicht vor der gegenwärtigen Krise schützen, sondern sie vielmehr verschlimmern und die Krise dauerhaft machen«.
»Wir riskieren den Zusammenbruch von Ökosystemen, was sich noch stärker auf die Ernährungssicherheit und die Lebensmittelpreise auswirken wird«Stella Kyriakides, EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Auch die zuständigen EU-Kommissare begründen ihren Kurs, die Regeln für die Anwendung von Pestiziden zu verschärfen, mit Risiken für die Ernährungssicherheit. Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, warnte, schon jetzt seien 70 Prozent der Böden in einem derart schlechten Zustand, dass in bestimmten Gebieten die Nahrungsmittelproduktion bereits eingeschränkt sei. »Schauen Sie sich die Bestäuberinsekten an – jede dritte Art ist im Rückgang begriffen, obwohl 80 Prozent unserer Kulturpflanzen von ihnen abhängen«, sagte er. Stella Kyriakides, die EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, schlägt in die gleiche Kerbe: »Ohne diese Veränderungen riskieren wir den Zusammenbruch von Bestäubung und von Ökosystemen, was sich noch stärker auf die Ernährungssicherheit und die Lebensmittelpreise auswirken wird.«
Doch die Gegner restriktiverer Pestizidregeln unter den EU-Staaten wollen davon nichts wissen. Als es Ende 2022 darum ging, die Auswirkungen der geplanten »Sustainable Use Regulation« auf die Landwirtschaft noch einmal zu überprüfen, ließ eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten die Frage, wie wichtig intakte Biodiversität für die Ernährungssicherheit ist, aus dem Arbeitsauftrag streichen.
Ähnlich abwehrend geht das Bundeslandwirtschaftsministerium mit den staatlich finanzierten Erkenntnissen des Kleingewässermonitorings von Helmholtz-Forscher Matthias Liess um. Im Deutschen Pflanzenschutzindex des BMEL ist für die Ergebnisse eine eigene Spalte vorgesehen. Doch obwohl die alarmierenden Zahlen regierungsintern seit einem Jahr bekannt sind, steht dort noch immer: »Daten liegen derzeit nicht vor«.
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