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Schadstoffe: »PFAS – das sind Chemikalien aus der Vergangenheit«

Der Chemiker Martin Scheringer spricht über nachhaltigere Alternativen für die Ewigkeitschemikalien und die Frage, warum die dritte planetare Krise noch immer unterschätzt wird.
Ein Wissenschaftler nimmt eine Wasserprobe
PFAS kommen in der Natur nicht vor und können weder durch Wasser noch durch Licht oder Bakterien zeitnah abgebaut werden. Da sie so stabil sind, werden sie auch Ewigkeitschemikalien genannt.

Chemikalien stecken in Schutzkleidung, Verpackungen, Autos, Waschmitteln und elektronischen Geräten – ohne sie ist unser Alltag nicht mehr vorstellbar. Doch obwohl längst gut bekannt ist, dass sich etliche Substanzen in Mensch, Tier und Umwelt anreichern, gibt es kein globales Abkommen dazu, ihr Vorkommen zu minimieren, kein internationales Gremium, das sich dem Problem widmet. »Die Chemikalienkrise wird gegenüber Klimawandel und Artensterben noch immer stark unterschätzt«, sagt Martin Scheringer. Seit mehr als 20 Jahren setzt sich der Chemiker dafür ein, das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen und die Politik dafür zu sensibilisieren, dass etwas unternommen werden muss. Im Gespräch erzählt er, was er sich von der 5. Weltchemikalienkonferenz erhofft, die vom 25. bis 29. September 2023 in Bonn stattgefunden hat, und warum er die EU-weite Beschränkung von per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS) unterstützt.

»Spektrum.de:« Es ist 9 Uhr morgens. Mit welchen Chemikalien sind Sie heute bereits in Berührung gekommen?

Martin Scheringer: Oh, mit mehr, als man zunächst denkt. Mit Tensiden in der Seife und allerlei synthetischen Parfümstoffen. Außerdem mit vielen Substanzen, die Plastik zugesetzt werden – das heißt Weichmachern wie Phthalaten oder auch Bisphenol A. Ich sitze vor meinem Computer, solche elektronischen Geräte enthalten Flammschutzmittel, die ausgasen können. Und würde es jetzt regnen und ich wäre bereits draußen gewesen, hätte ich möglicherweise mit per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen, kurz PFAS, Kontakt gehabt, da diese in Funktionskleidung wie Regenjacken enthalten sind.

Martin Scheringer | Der Professor für Umweltchemie lehrt an der Masaryk-Universität im tschechischen Brünn. Zudem hat er eine Forschungsgruppe an der ETH Zürich. Er ist Mitgründer und Vorsitzender des Internationalen Panel on Chemical Pollution.

In der vergangenen Woche, vom 25. bis 29. September 2023, haben sich Vertreterinnen und Vertreter von mehr als 100 Nationen in Bonn getroffen, um auf der Weltchemikalienkonferenz über die Gefahren chemischer Substanzen zu sprechen. Was erhoffen Sie sich davon?

Ich wünsche mir vor allem, dass das Thema sichtbarer wird und bleibt. Das Rahmenwerk zum weltweiten Chemikalienmanagement, das 2006 beschlossen wurde, ist 2020 ausgelaufen. Dessen Ziel war es, wesentliche Schäden für die menschliche Gesundheit und die Umwelt durch einen guten Umgang mit Chemikalien zu minimieren. Das wurde leider nicht erreicht. Auf der 5. Weltchemikalienkonferenz ging es nun darum, das Rahmenwerk fortzuführen.

Warum waren Sie nicht dort?

Dieses Treffen war erst einmal eine Plattform, auf der sich Vertreter von Regierungen, Industrie und Umweltschutzverbänden austauschen. Sie diskutieren, wie man künftig global miteinander über Chemikalien sprechen möchte. Wie will man Informationen austauschen? Wie lässt sich Wissen über bestimmte Substanzen zwischen den Ländern vermitteln? Über welche Stoffe muss man vorrangig sprechen? Im ausgelaufenen Rahmenwerk sind acht so genannte »emerging policy issues« oder »other issues of concern« vereinbart – da geht es um Pestizide, Nanomaterialien oder hormonell wirksame Substanzen. Diese prioritären Themen werden künftig hoffentlich weiterverfolgt.

Neben der Klima- und der Biodiversitätskrise gilt die Chemikalienkrise als die dritte große globale Herausforderung. Während es für den Schutz von Klima und Biodiversität schon entsprechende UN-Verträge gibt, fehlt ein solcher für die weltweite Schadstoffverschmutzung. Woran liegt das?

Das hat vor allem damit zu tun, dass das Thema extrem heterogen ist. Es sind so viele verschiedene Chemikalien für die vielfältigsten Anwendungen im Umlauf, alle mit unterschiedlichen Wirkweisen und Folgen für Mensch und Umwelt. Manche davon sind eher verzichtbar, leichter zu regulieren oder besser zu ersetzen als andere. Es besteht also die große Gefahr, sich zu verzetteln. Außerdem wird die Chemikalienkrise gegenüber Klimawandel und Artensterben noch immer stark unterschätzt. Dabei hängen alle drei zusammen und können deshalb auch nur gemeinsam angegangen werden.

»Den wenigsten Menschen ist bewusst, welche schädlichen Wirkungen manche Chemikalien haben, mit denen sie täglich umgehen«

Liegt es auch daran, dass Chemikalien für Menschen so wenig sichtbar sind? Obwohl wir alle täglich damit in Berührung kommen, zeigen sich die negativen Auswirkungen, wenn überhaupt, oft sehr schleichend …

Ja, da gebe ich Ihnen völlig Recht. Der Klimawandel offenbart sich bereits sehr deutlich in Form von Hitzewellen, Starkregen oder Dürreperioden. Das Artensterben geschieht zwar häufig im Verborgenen, aber zu Tieren haben viele Menschen eine emotionale Bindung. Chemikalien sind im Alltag hingegen unsichtbar. Viele riecht und schmeckt man nicht. Daher scheint es für den Einzelnen wenige Anlässe zu geben, etwas zu verändern. Und: Den wenigsten Menschen ist überhaupt bewusst, welche schädlichen Wirkungen manche Chemikalien haben, mit denen sie täglich umgehen.

Polychlorierte Biphenyle (PCB), Bisphenol A und viele andere Stoffe wirken Krebs erregend oder hormonähnlich. Fast alle Menschen tragen sie mittlerweile in sich, sie sind allgegenwärtig in der Umwelt. Doch schon nationale Verbote oder Grenzwerte durchzusetzen ist schwierig. Was könnte ein internationales Gremium wie ein Weltchemikalienrat hier erreichen?

Auch der Weltklimarat IPCC hat bislang – wenn man ganz ehrlich ist – auf praktischer Ebene wenig erreicht. Die CO2-Emissionen steigen weiterhin weltweit an. Das liegt vor allem daran, dass ein solches wissenschaftspolitisches Gremium keine echte Handlungskompetenz hat, sondern nur beratende Funktion. Solch ein Panel darf der Politik Vorschläge machen, wie es besser geht, aber keine Vorgaben. Ich erwarte dementsprechend von einem Weltchemikalienrat, dass er der Öffentlichkeit wissenschaftlich fundierte Berichte vorlegt, in denen deutlich steht: Das ist das Problem, das sind die Ursachen und das sind mögliche Lösungen.

Sie sind der Vorsitzende des Weltchemikalienrats …

Da muss ich ganz dringend ein Missverständnis aufklären. Ich habe im Jahr 2004 auf einer Fachkonferenz in Berlin vorgeschlagen, einen Weltchemikalienrat einzurichten – ganz ähnlich dem Weltklimarat IPCC und dem Weltbiodiversitätsrat IPBES. Daran angelehnt, hätte er Intergovernmental Panel on Chemical Pollution, IPCP, heißen sollen. Außer ein paar Kollegen in der Wissenschaft hat das aber damals niemanden interessiert, die Idee ist verpufft. Anschließend haben wir den Verein International Panel on Chemical Pollution gegründet, dessen Vorsitzender ich bin. Wir sind also eine Nichtregierungsorganisation (NGO). Das haben wir gemacht, um den Vorschlag am Leben zu erhalten. Wenn wir schon politisch nichts erreichen, so dachten wir uns, bauen wir wenigstens ein wissenschaftliches Forum auf, um uns über das Thema auszutauschen. Erst vor etwa fünf Jahren ist neuer Schwung in die Sache gekommen, und die Umweltversammlung der Vereinten Nationen, UNEA, hat 2022 beschlossen, ein echtes Intergovernmental Panel einzurichten.

Was motiviert Sie persönlich, sich in einem derart widerspenstigen Feld so stark zu engagieren?

Ich möchte dazu beitragen, dass Menschen im Alltag, aber vor allem Regierungsvertreter, deutlicher sehen, dass wir die Welt nicht weiterhin unkontrolliert mit möglicherweise schädlichen Chemikalien fluten können. Manche Substanzen gefährden wirklich Menschen, Tiere und die Umwelt. Zu viele von ihnen sind im Umlauf, sie sind allgegenwärtig – selbst an so unwirtlichen Orten wie Antarktis und Arktis wurde bereits Mikroplastik nachgewiesen. Und erst kürzlich kam eine Studie zu dem Schluss, dass fast jeder Mensch in Europa zu großen Mengen BPA ausgesetzt ist. Das ist nicht gut, das muss sich ändern. Als Chemiker trage ich dafür eine gewisse Verantwortung. Und es reicht nicht, sich nur wissenschaftlich zu äußern, sondern das Wissen muss für alle verständlich aufbereitet werden.

»Viele Wissenschaftskollegen, und auch ich selbst, sind immer wieder frustriert, weil wir das Gefühl haben, nicht zu Politik und Öffentlichkeit durchzudringen«

Ist es nicht oft frustrierend zu sehen, wie langsam alles vorangeht?

Ja, das ist es. Ich sehe, dass viele Wissenschaftskollegen, und auch ich selbst, immer wieder frustriert sind, weil wir das Gefühl haben, nicht zu Politik und Öffentlichkeit durchzudringen. Aber es wäre noch schlimmer, wenn ich nicht sagen könnte, dass ich es wenigstens versucht habe.

Lassen Sie uns über konkrete Stoffgruppen sprechen. PFAS sind praktisch, beliebt und erfolgreich. Doch sie bergen auch zahlreiche Gesundheitsgefahren. Gerade haben Deutschland, die Niederlande, Dänemark, Schweden und Norwegen einen Vorschlag zur EU-weiten Beschränkung von PFAS bei der Europäischen Chemikalienagentur eingereicht. Bis zum 25. September konnte man ihn kommentieren. Haben Sie sich beteiligt?

Ja, ich habe zusammen mit Kollegen mehrere Kommentare eingereicht. Da ging es vor allem um neuere Forschungsarbeiten dazu, wie einzelne Substanzen wirken und wie giftig sie sind. Aber ich muss wirklich eine Lanze für die Arbeitsgruppe brechen, die den Vorschlag ausgearbeitet hat. Das 2000-Seiten-Dokument ist sehr gründlich, umfassend und gut. Vor allem aus der chemischen Industrie kommt viel ungerechtfertigte Kritik. Tenor: Man würde mit einem Verbot in die Steinzeit zurückzufallen und dem Fortschritt entsagen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn wir müssen bessere Alternativen zu PFAS finden. Märkte und Arbeitsplätze fallen nicht weg, sie werden sich nur verändern. PFAS stammen aus den 1950er Jahren. Das ist Chemie aus der Vergangenheit.

Waren die chemische Forschung und die Industrie in den letzten Jahren zu bequem, um Alternativen zu entwickeln?

Ja und nein. Es gibt bereits viele gute Alternativen, wie man am Beispiel Feuerlöschschäume sehen kann. Die wurden lange auf Basis von PFAS hergestellt. Doch schon 2003 hat eine große Chemiefirma eine PFAS-freie Alternative entwickelt und patentiert. Sie hat also erkannt, dass sie damit im Geschäft bleiben kann. Auch für Kühlmittel, wie sie jetzt in Wärmepumpen verstärkt gebraucht werden, gibt es etliche unbedenklichere Optionen wie Propan oder Kohlendioxid. Teilweise sind sie sogar energetisch besser. Und auch in anderen Bereichen existieren schon gute Ersatzvorschläge.

Das klingt sehr kleinteilig. Denken Sie, man findet vielleicht eine neue Stoffgruppe, die alles auf einen Schlag ersetzen kann?

Ich glaube nicht, dass es diese eine Stoffgruppe gibt, die chemisch ähnlich leistungsfähig, aber harmloser ist. Man wird eher Einzelmaßnahmen finden müssen, die etwa als Schmiermittel oder als Imprägnierung geeignet sind oder Tensidfunktionen haben.

»Es muss offenbar erst richtig weh tun, bevor etwas passiert«

Hat die Staatengemeinschaft aus großen Chemikalienskandalen der Vergangenheit gelernt, etwa aus dem Debakel rund um das Insektizid DDT, das in den 1970er Jahren verboten wurde, oder den Folgen von FCKW?

Ein wenig auf jeden Fall. Das 1987 beschlossene Montreal-Protokoll, mit dem in kürzester Zeit der weitgehende Verzicht auf ozonschichtschädigende Stoffe völkerrechtlich verbindlich festgelegt wurde, war ein echter Erfolg. Andererseits sieht man bei den PFAS, dass wir immer wieder bei null anfangen. Diese Stoffgruppe ist genauso problematisch wie DDT oder auch PCB, aber es muss offenbar erst richtig weh tun, bevor etwas passiert.

Ist die globale Politik seit den 1980er Jahren träger geworden?

Die Welt ist komplizierter geworden, als sie es noch vor 30 oder 40 Jahren war. All die Krisen und Kriege absorbieren Energie, Kapazitäten und Ressourcen. Dadurch ist es schwieriger, den Fokus auf andere drängende Themen zu lenken und schnell Beschlüsse zu fassen.

In Europa gibt es mit der REACH-Verordnung bereits ein Instrument zur Überwachung von Chemikalien. Dabei gilt das Prinzip: Wer keine aussagekräftigen Daten dazu liefern kann, dass ein Stoff harmlos ist, erhält dafür keine Zulassung. Hat sich diese Umkehr der Beweislast bewährt?

Ja, ich finde schon. Dadurch haben sich die Prozesse für die Vermarktung von Chemikalien deutlich verbessert. Aber die Firmen stellen teilweise einfach keine guten Daten bereit, was wiederum sehr ernüchternd ist. Es war unrealistisch zu erwarten, dass die Industrie innerhalb weniger Jahre ihre Verfahren zur Datenerhebung komplett umstellt und plötzlich all das liefern kann, was für eine Registrierung gefordert wird. Aber das Prinzip ist genau richtig – das kann man daran sehen, dass andere Länder wie Südkorea oder der US-Bundesstaat Kalifornien sich die EU-Verordnung REACH zum Vorbild genommen haben.

Wie soll es jetzt aus Ihrer Sicht mit dem heterogenen Thema Chemikalienkrise weitergehen?

Im November 2023 wird in Nairobi die Plastik-Konvention weiterverhandelt. Diese Verhandlungen sind viel schwieriger und härter als die auf der Weltchemikalienkonferenz, weil die Staatengemeinschaft sich dort auf ein rechtlich bindendes Abkommen einigen muss. Und im Dezember findet die nächste Verhandlungsrunde zum Weltchemikalienrat statt. Es tut gut zu sehen, dass es zumindest in manchen Bereichen vorangeht – wenn auch nicht so schnell, wie ich mir das wünsche.

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