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Phönizier: Der Himmelsspiegel von Mozia

Was Fachleute lange für eine Hafenarchitektur hielten, erwies sich als ein Becken in einem Heiligtum des orientalischen Gottes Baal. Die Anlage in der phönizischen Stadt Mozia bei Sizilien diente zur Beobachtung der Sterne.
Grabung auf Mozia
Von 2002 bis 2020 führten italienische Archäologen in Mozia Grabungen durch. Dabei legten sie den Rand eines Beckens frei, das sich im Südwesten der kleinen sizilianischen Insel, dem heutigen San Pantaleo, befindet.

Auf Mozia, einer winzigen Insel vor der Westküste Siziliens, gründeten die Phönizier im 8. Jahrhundert v. Chr. eine geschäftige Handelsstadt. Und wo die Seefahrer aus dem Osten des Mittelmeergebiets Niederlassungen errichteten, schufen sie Häfen. Das Eiland in der Lagune von Marsala, das heute unter dem Namen San Pantaleo firmiert, besaß im Südwesten ein großes Hafenbecken. Vermeintlich. Denn ein Team um den Archäologen Lorenzo Nigro von der Universität La Sapienza in Rom hat nun nach 20 Jahren Ausgrabungen herausgefunden, welche Funktion das Becken ursprünglich besaß und was sich im Umfeld des künstlichen Gewässers befand.

Die rechteckige Anlage, die von Tempelbauten umgeben und von einer kreisrunden Mauer eingefasst war, diente nach Ansicht von Nigro als natürlicher Spiegel: »Die reflektierende Oberfläche des Beckens könnte für astronomische Beobachtungen genutzt worden sein«, schreibt Nigro im archäologischen Fachblatt »Antiquity«. »Man hat vielleicht zur Markierung von Sternenpositionen, die sich im Wasser spiegelten, Stäbe ins Becken gesteckt – das ermöglichte die Beobachtung und Bestimmung von Himmelskörpern.« Vielleicht haben Gelehrte oder Seeleute demnach das Becken zur Navigation genutzt, indem sie darin die Sternkonstellationen am Nachthimmel abgelesen haben.

Nach 1200 v. Chr., als die Phönizier in der Levante nicht mehr unter der Vorherrschaft der Hethiter und Ägypter standen, breiteten sie sich gen Westen aus und errichteten in der gesamten Ägäis ein Handelsnetz. Nicht nur in Griechenland, sondern bis in den westlichen Mittelmeerraum erschlossen sie weitere Standorte. Einige ihrer Handelsposten entwickelten sich zu Städten, die schließlich Karthago in seinen Machtbereich aufsog.

So erging es auch der phönizischen Stadt Mozia. Sie war im 7. Jahrhundert v. Chr. zu einer bedeutenden Hafenstadt herangewachsen, trieb vor allem Handel mit Regionen im Westen und dem Zentrum des Mittelmeergebiets. Fast schon zwangsweise geriet Mozia dadurch in Konflikt mit der Großmacht auf der anderen Seite der Straße von Sizilien. Die Folge: Die Punier verheerten die Inselstadt um die Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. Mozia erholte sich, wie etwa der Bau einer imposanten Stadtmauer bezeugt, und war für einige Zeit wohl wirtschaftlich recht bedeutend, da der Alleinherrscher Dionysios I. von Syrakus (431–367 v. Chr.) sie 397 v. Chr. endgültig zerstören ließ.

Die überlebenden Bewohner gründeten daraufhin an der Westküste Siziliens unweit von Mozia eine neue Siedlung: Lilybaion. Der Ort wurde später Marsala genannt, vermutlich nach seinem Hafen mit dem arabischen Namen Marsa Allah oder Marsa Ali. Die Araber hatten Sizilien im 9. Jahrhundert Stück für Stück eingenommen und mit ihrem Eroberungszug im alten Lilybaion begonnen.

Wein und Whitaker machten Marsala berühmt

Wahrscheinlich erzeugten die Menschen damals weiterhin das, was sie bereits zur Zeit des antiken Mozias produziert und im gesamten Mittelmeerraum vertrieben hatten: sizilianischen Wein. Besondere Bekanntheit genossen die Süßweine aus Marsala. Das lukrative Geschäft mit dem Traubensaft führte Anfang des 19. Jahrhunderts die britische Familie Whitaker an den Ort. Sie verhandelte den Wein nach England und wurde damit reich.

Heiligtum | Aus der Luft ist die Anlage des Heiligtums von Mozia zu erkennen: Im Zentrum liegt das Becken, das von Tempelgebäuden umgeben ist. Das sakrale Areal wurde einst von einer drei Meter hohen, kreisförmig verlaufenden Mauer eingefasst. Im Bereich unterhalb des Beckens verläuft ein trocken liegender Kanal zum Meer.

Ein Spross jener Familie sorgte dann dafür, dass das phönizische Erbe von Mozia nicht in Vergessenheit geriet: Der Gelehrte Joseph Whitaker (1850–1936), der zeitlebens die Vogelwelt Tunesiens und Siziliens erforschte, widmete sich auch den antiken Überresten Mozias. Whitaker fand Anfang des 20. Jahrhunderts heraus, dass das rechteckige Becken im Südwesten der Insel von einer weitläufigen, kreisrunden Mauer umgeben und über einen Kanal mit dem Meer verbunden war. Für den Ausgräber hatte das künstliche Gewässer große Ähnlichkeit mit dem Kriegshafen von Karthago, den griechische und römische Autoren der Antike als Kothon bezeichneten.

Bei diesem phönizischen Hafentyp handelt es sich um ein ausgehobenes Becken, das über einen Kanal mit dem Meer verbunden wurde. Im Fall von Karthago war das Kothon über den Handelshafen zugänglich. Es war eine kreisrunde Anlage mit einer künstlichen Insel in der Mitte. Ein Kanal und ein Becken finden sich auch auf Mozia, doch zwei Aspekte lassen an der Deutung als Hafen zweifeln: Zum einen liegt die Anlage auf einem Eiland inmitten einer Lagune, die als natürlicher Hafen bereits viel Platz bot – eine gebaute Anlage wirkt geradezu überflüssig. Zum anderen erscheint das Becken viel zu klein, um einzelne Schiffe oder gar die ganze Flotte einer phönizischen Stadt wie Mozia aufzunehmen. Die Rechteckanlage misst lediglich 37 auf 52,5 Meter.

Erneute Grabungen zwischen 1955 und 1970 führten denn auch zu einer etwas anderen Deutung. Britische Archäologen hatten das Becken stellenweise ausgegraben. Ihr Fazit: Es handle sich um eine Art Trockendock zur Reparatur von Schiffen.

Ob Hafenbecken oder Trockendock – in der wissenschaftlichen Literatur wird das Becken von Mozia häufig als eine der wenigen gut erhaltenen phönizischen Hafenanlagen im Mittelmeerraum zitiert. Für Nigro und sein Team galt es also, mit guten Argumenten eine zementierte Lehrmeinung einzureißen.

Natürliche Wasserquellen speisten das Becken

Seit rund 60 Jahren graben Archäologen der Universität La Sapienza in Rom auf Mozia. Als sie vor 20 Jahren begannen, sich genauer mit dem vermeintlichen Hafen zu beschäftigen, legten sie das Becken trocken und dessen Einfassung aus Steinblöcken frei. Dabei stellten sie fest, dass unterirdische Quellen das Becken über Kanäle mit Wasser speisten. Zudem entdeckten die Forschenden im Umfeld die Überreste von Bauten, die zu drei Tempeln gehörten: einem großen Gebäude für den Wetter- und Himmelsgott Baal, östlich des Beckens. Unweit des Hauses von Baal, nördlich davon, lag ein Tempel der Astarte – die bedeutende phönizische Göttin ist dem Krieg zugeordnet, wurde aber auch als Liebesgottheit verehrt ähnlich der griechischen Göttin Aphrodite. Zudem gab es westlich des Beckens ein Heiligtum mit Bauten samt einer gemauerten Opfergrube unter freiem Himmel, die mit den Knochen von Opfertieren gefüllt war. Womöglich hatte man hier auch das Blut der Tiere dargebracht. Die Grube war mit zwei Steinankern verschlossen worden. Auch auf Grund von wasserbaulichen Installationen gehen die Ausgräber um Nigro davon aus, dass es sich bei den Überresten um eine Art Wasserheiligtum handelte.

Auf dem kreisförmigen Areal fanden sich zudem die Reste zahlreicher kleinerer Bauten, Stelen, Altäre, Opfergruben und Votivgaben. Die Funktion und die Lage dieser Funde, der Tempel und des Beckens zueinander ließen Nigro vermuten, dass alles zu einem großen Temenos, einem sakralen Areal, gehörte. Die kultischen Aktivitäten dürften sich um den Himmel, das Wasser und die damit verbundenen Gottheiten gedreht haben, wie es typisch für phönizische Glaubensvorstellungen war. Insbesondere das Element Wasser besaß vermutlich eine herausragende Bedeutung: So stellte sich bei den Grabungen heraus, dass zur Zeit der Phönizier – vom 8. bis 5. Jahrhundert v. Chr. – das Becken nie mit der Lagune verbunden war. Erst nach der Zerstörung von Mozia durch Dionysos I. legte man einen Kanal zum Meeresufer. Später, in römischer Zeit, wurden hier Fische gezüchtet, in der Neuzeit hatte man das Becken dann in eine Saline umgewandelt.

Ein Heiligtum ausgerichtet am Sternenhimmel

Viele Jahrhunderte zuvor hatten die Phönizier wohl im und um das Becken Rituale durchgeführt, mit dem Ziel, die Götter günstig zu stimmen und um sichere Seefahrten zu bitten. Diese These stützt Nigro mit Verweis auf die Bauten und ihrer Ausrichtung: Die Längsachse des Baal-Tempels etwa weist ungefähr nach Ostsüdosten – dorthin, wo das Sternbild Orion zur Wintersonnenwende aufgeht. Die Phönizier identifizierten Orion mit dem Gott Baal. Zudem bestätigte ein Fund indirekt Nigros These: Im Kontext des Baal-Tempels stießen die Ausgräber auf eine Bronzenadel, die einst zu einem antiken Navigationsgerät gehörte.

Der Haupteingang des Baal-Tempels war nach Südsüdwesten ausgerichtet – ebenso der Tempel der Astarte. Auf dieser Achse erscheint am sommerlichen Nachthimmel der Planet Venus, mit dem die Göttin Astarte gleichgestellt war. Im Tempelinneren, in einer Nische an der Nordseite, stand vermutlich ein Bildnis der Göttin – in der Verlängerung der Nische liegt im Westen Siziliens der Berg Eryx. Dort befand sich in phönizischer Zeit eine gleichnamige Siedlung der Elymer. Sie waren Teil der vorgriechischen Bevölkerung Siziliens und hatten ebenfalls einen Tempel für Astarte beziehungsweise Aphrodite oder Venus errichtet, der laut Cicero wegen seines Reichtums und seiner Tempelprostitution bekannt war.

Statuenfragmente | In der Nähe des sakralen Beckens von Mozia sowie in der Lagune vor der Insel fanden sich das Basisfragment und der Torso einer Statue.

Auch die Tag-und-Nacht-Gleichen waren im Temenos mit Stelen und Nischen markiert, genauer gesagt stiegen bestimmte Sterne zu diesen Zeitpunkten an den gekennzeichneten Stellen auf, etwa Sirius am Südhimmel zur Tag-und-Nacht-Gleiche im Herbst. Zu guter Letzt: Das Wasserheiligtum, das sich im Westen gen Sonnenuntergang befindet, ist Nigro zufolge mit Unterweltsvorstellungen verknüpft. Darauf deute die Opfergrube hin, die ins Erdreich hinabführt.

Eine Statue des Baal ragte inmitten des Beckens auf

Bei den Grabungen dokumentierten die Forscher am nördlichen Beckenrand eine Reihe vorspringender Blöcke. An dieser Stelle könnten die Heiligtumsbesucher Wasser geschöpft oder rituelle Waschungen vorgenommen haben. Jedenfalls gelangte man hier leicht ans Wasser, das nicht sehr tief hinabreichte: gerade einmal anderthalb Meter. Schiffe konnten das Becken also recht sicher nicht befahren, was eben einer Deutung als Hafen oder Trockendock widerspricht.

Rekonstruktion | Die Ausgräber rekonstruieren die Statuenfragmente zu einem Bildnis des Baal. Der phönizische Gott trägt einen Schurz und die typische Hörnerkrone.

Wie geophysikalische Untersuchungen des Beckens ergaben, befand sich in der Mitte des Gewässers einst ein Podium. Nigro und sein Team rekonstruieren es als Statuenbasis. Ein ähnliches Ensemble kennen Forscher von einem phönizischen Heiligtum in Syrien. Konkrete Hinweise liefern zudem Funde aus Mozia: So fand sich unweit des Beckens eine Basis mit dem Rest eines Statuenfußes. Dieses Fragment ordnet Nigro einem weiteren Bruchstück zu: dem Torso einer Baal-Statue, die 1933 aus der Lagune von Marsala gehievt wurde und sich heute im Archäologischen Museum in Palermo befindet. Möglicherweise stand das Bildnis, das einst rund 2,4 Meter aufragte, mitten im künstlichen Gewässer. 2019 platzierten die Archäologen an jener Stelle einen Abguss der Statue, um die antike Anmutung nachzuahmen.

So spricht Vieles dafür, dass die Anlage mit Becken und Tempeln im Südwesten Mozias ein sakrales Areal bildete. Des Nachts, wenn die Wasseroberfläche im Becken glatt und ungetrübt blieb, spiegelten sich darin die Planeten und Sternbilder. Bauten und Stelen im Heiligtumsbezirk hatten auf bestimmte Sternenkonstellationen und ihre Positionen etwa zur Sonnenwende oder Tag-und-Nacht-Gleiche verwiesen. Nigro ist daher überzeugt davon, »dass das kreisrunde Temenos und das sakrale Becken ein großes astronomisches Observatorium bildeten«.

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