Nanophysik: Glas aus der Römerzeit verwundert wegen ungewöhnlicher Nanostruktur
Unter dem etwas sperrigen Namen »photonischer Kristall« verbirgt sich ein Phänomen, dem man in der Natur häufig begegnet: in den schillernden Reflexionen auf den Flügeln von Schmetterlingen und mancher Vögel, auf Seifenblasen, manchen Käfern und in Opalen. Das Geheimnis hinter dem anmutigen Farbspiel ist die Materialoberfläche, entlang der sich der Brechungsindex periodisch ändert. Damit können an gewissen Stellen manche Wellenlängen die Stoffe passieren, während andere reflektiert werden. Durch den periodischen Wechsel ergibt sich ein spannendes Lichtmuster.
Nun haben Fachleute um den biomedizinischen Ingenieur Fiorenzo G. Omenetto von der Tufts University in Massachusetts einen außergewöhnlichen photonischen Kristall untersucht, der sich auf einer antiken römischen Scherbe gebildet hat. Das Stück Glas war etwa 2000 Jahre im Boden vergraben und besitzt ungewöhnliche Reflexionseigenschaften, die in natürlichen photonischen Kristallen selten auftauchen. Durch ein besseres Verständnis des Entstehungsprozesses hoffen die Fachleute in Zukunft neue Fertigungsmöglichkeiten der erstaunlichen Nanostrukturen zu entwickeln. Ihre Ergebnisse haben sie am 18. September 2023 im Fachjournal »PNAS« veröffentlicht.
Auf Grund ihrer besonderen optischen Eigenschaften haben photonische Kristalle viele technologische Anwendungen. Damit lassen sich beispielsweise optische Schalter bauen, die manche Lichtsignale durchlassen, andere aber blockieren. Solche Bauteile könnten in optischen Rechnern zum Einsatz kommen, also in Computern, die mit Licht rechnen. Auch bei der Entwicklung von Glasfaserkabeln und der Informationsverarbeitung spielen photonische Kristalle eine wichtige Rolle. Allerdings sind solche Materialien schwer herzustellen – vor allem, wenn man industrielle Maßstäbe anstrebt. Daher versuchen Fachleute besser zu verstehen, wie natürliche photonische Kristalle entstehen.
Eine zufällige Begegnung mit dem »Wow-Glas«
Genau das konnte Fiorenzo G. Omenetto tun. Als er das Istituto Italiano di Tecnologia (IIT) in Genua besuchte, »erregte dieses wunderschöne glitzernde Stück Glas auf dem Regal meine Aufmerksamkeit«, sagte Omenetto. »Es handelte sich um die Scherbe eines antiken römischen Glases.« Wie die Direktorin des IIT, Arianna Traviglia, erzählt, bezeichnete ihr Team den Fund liebevoll das »Wow-Glas«. Omenetto beschloss sofort, die Scherbe genauer zu untersuchen.
»Es ist erstaunlich, dass ein Glas zwei Jahrtausende im Schlamm liegt und zu einem Musterbeispiel für ein nanophotonisches Bauteil wird«Fiorenzo G. Omenetto, biomedizinischer Ingenieur
Das etwa 2000 Jahre alte archäologische Fundstück befand sich in einer Sammlung von zirka 780 Glasfragmenten, die 2012 auf einem Feld in der Nähe der italienischen Stadt Aquileia zum Vorschein kamen. Die meisten der Scherben trugen die übliche schimmernde Patina. Doch das »Wow-Glas« stach heraus: Im Inneren war es dunkelgrün, aber von einer goldenen äußeren Schicht überzogen, die Licht fast wie ein Spiegel reflektierte. Omenetto war klar, dass es sich hierbei um einen ungewöhnlichen photonischen Kristall handelte. »Es ist bemerkenswert, dass ein Glas zwei Jahrtausende lang im Schlamm liegt und am Ende ein Musterbeispiel für ein nanophotonisches Bauteil ist«, so der biomedizinische Ingenieur.
Zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen hat Omenetto die Scherbe mit einem Rasterelektronenmikroskop untersucht, um mehr über deren chemische Zusammensetzung und strukturellen Aufbau zu erfahren. Dabei fanden sie geordnete »Bragg-Gitter« vor: eindimensionale photonische Kristalle, die aus aufeinander folgenden Materialschichten mit hohem und niedrigem Brechungsindex bestehen. In einem idealen Bragg-Gitter sind die jeweiligen Schichten gleich dick. Im »Wow-Glas« ist jedoch eine Schicht dicker und dichter als die andere, was der Scherbe ihr besonderes metallisches Aussehen verleiht. »Der tonhaltige Boden und der Regen führten zur Diffusion von Mineralen und zur Korrosion der Kieselsäure im Glas. Gleichzeitig bauten sich 100 Nanometer dicke Schichten aus Kieselsäure und Mineralen auf. Das Ergebnis ist eine unglaublich geordnete Anordnung hunderter Schichten eines kristallinen Materials«, sagte die biomedizinische Ingenieurin Giulia Guidetti, Koautorin der aktuellen Arbeit.
»Es handelt sich um eine Aufzeichnung der Umweltgeschichte«Giulia Guidetti, biomedizinische Ingenieurin
Wenn sie diese natürlichen Prozesse besser verstehen, hoffen die Forscherinnen und Forscher, künftig photonische Kristalle züchten zu können, anstatt sie aufwändig herzustellen. Doch dafür müssen sie einen Weg finden, die Vorgänge zu beschleunigen – schließlich war die Scherbe 2000 Jahre lang den Umwelteinflüssen ausgesetzt. Mit dieser Forschungsarbeit eröffnen sich aber nicht nur mögliche neue Produktionsprozesse. »Die auf der Glasoberfläche gewachsenen Kristalle spiegeln auch die Veränderungen der Bedingungen im Boden wider, die im Lauf der Zeit auftraten. Es handelt sich um eine Aufzeichnung der Umweltgeschichte«, so Guidetti.
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