Molekulares Mysterium: Die zwei Gesichter des Wassers
Wasser ist ebenso allgegenwärtig wie ungewöhnlich. In Bezug auf etliche Eigenschaften unterscheidet es sich von den meisten anderen Flüssigkeiten drastisch, etwa bei seiner Oberflächenspannung, Wärmekapazität, Kompressibilität sowie den Schmelz- und Siedepunkten. Einige Wissenschaftler erklären das seltsame Verhalten, indem sie Wasser nicht als einen komplizierten Stoff betrachten, sondern gewissermaßen als ein Gemisch zweier einfacher Substanzen mit einer komplizierten Beziehung. Andere Experten widersprechen vehement: So eine Aussage passe nicht zu den Grundprinzipien der physikalischen Chemie.
Im Lauf des letzten Jahrzehnts sind die Emotionen in dem akademischen Streit hochgekocht. Der renommierte Wasserforscher Anders Nilsson von der Universität Stockholm meint, die Frage bringe »sehr starke, fast religiöse Ansichten zum Vorschein«. Wissenschaftler schreiben die seltsamen Eigenschaften des Wassers im Allgemeinen den Bindungen durch so genannte Wasserstoffbrücken zu. Allerdings ist umstritten, was dabei genau vor sich geht, insbesondere wenn sich das Wasser in einem unterkühlten Zustand befindet. Dann sollte es eigentlich gefrieren, dazu kommt es aber nicht.
Wie viele Chemiker dachte Nilsson zu Anfang seiner Laufbahn, die Struktur des Wassers müsste doch gut verstanden sein. Dann erkannte er, dass dem nicht so war. Seit vielen Jahren widmet er sich ganz den Eigenarten der Substanz. Seine neueren Arbeiten verleihen einer in Fachkreisen umstrittenen Hypothese Gewicht: In Wasser existieren zwei verschiedene Flüssigkeitsstrukturen getrennt voneinander.
»Bezüglich ihrer einfachen thermodynamischen und kinetischen Eigenschaften verhalten sich alle Flüssigkeiten bei Druck- und Temperaturänderungen gleich«, erklärt Nilsson. So nimmt beim Abkühlen die Dichte zu, und die Wärmekapazität und Kompressibilität sinken. »Fast jede Flüssigkeit auf der Erde verhält sich so. Bloß Wasser nicht.« Wasser hat seine größte Dichte bei vier Grad Celsius, bei niedrigeren Temperaturen wird sie wieder geringer. Wer Chemie studiert, lernt als Begründung dafür: Die Moleküle in Flüssigkeiten sind ungeordnet und richten sich ständig neu aus, wohingegen Wasser ein Netzwerk relativ stabiler Wasserstoffbrückenbindungen bildet. Deren Stärke liegt – im Vergleich zu den üblichen zwischenmolekularen Wechselwirkungen – zwischen den festeren kovalenten Bindungen und den schwächeren Dipolkräften. Im Gegensatz zu Letzteren sind sie gerichtet; jedes Wasserstoffatom wendet sich einem Elektronenpaar eines Sauerstoffatoms zu.
Während sich Wasser bei höheren Temperaturen wie die meisten Flüssigkeiten verhält, spielt diese spezielle Art der Bindung bei Abkühlung eine wichtigere Rolle. »Für ein so kleines Molekül sind das eine Menge Wasserstoffbrückenbindungen«, meint der Chemiker und Wasserforscher Martin Chaplin von der London South Bank University. »Sie erzwingen einen strukturierten, geordneten Zustand.«
Erzeugen unterschiedlich dicht gepackte Moleküle zwei völlig andere Flüssigkeiten?
Seit Langem gibt es immer wieder Hypothesen zu den exotischen Eigenschaften des Wassers. In den 1960er Jahren vermuteten sowjetische Chemiker sogar, seine Moleküle könnten in dünnen Kapillarröhrchen besonders stabile Polymerstrukturen bilden. Sie wurden als Polywasser bekannt; auch westliche Wissenschaftler nahmen die Idee ernst. Weltweit beschäftigten sich Labore intensiv damit, bis sich etwa zehn Jahre später herausstellte, dass die Ergebnisse wohl auf Verunreinigungen zurückzuführen waren.
Die Vorstellung von zwei verschiedenartigen Molekülanordnungen in flüssigem Wasser ist ebenfalls nicht neu, sondern reicht mehr als 100 Jahre zurück. 1892 vermutete Wilhelm Röntgen, der Entdecker der nach ihm benannten Strahlung, Wasser bestehe aus zwei verschiedenen Phasen, die in einer Mischung koexistieren. In den 1990er Jahren erlebte der Gedanke eine Renaissance, als Computersimulationen das tatsächliche Verhalten von Wasser nachbilden sollten.
Die beiden hypothetischen Formen entsprechen unterschiedlich kompakt sortierten Wassermolekülen. Diejenige mit niedriger Dichte (englisch: low density liquid, LDL) ähnelt Eis. Hier sind die meisten Moleküle von vier anderen umgeben, was eine relativ offene Tetraederstruktur herbeiführt. In der Flüssigkeit höherer Dichte (high density liquid, HDL) sind die Moleküle enger gepackt (siehe »Wenn Wasser nicht kristallisiert«). Die Wasserstoffbindung wird dabei verzerrt, und weniger gerichtete, schwächere molekulare Wechselwirkungen kommen zum Tragen.
Laut der Idee zweier Komponenten ändert sich deren jeweiliger Anteil mit der Temperatur. Sinkt diese, entsteht mehr LDL-Wasser. So kommt es beim Abkühlen sowohl zu der bei Flüssigkeiten üblichen Zunahme der Dichte als auch zur vermehrten Bildung von Wasser niedriger Dichte. Unter dem Strich führt das zum beobachteten Maximum bei vier Grad und zu weiteren Anomalien von Wasser.
Zum Verständnis solcher Eigenschaften helfen Computersimulationen. Der Mathematiker John Russo von der Universität La Sapienza in Rom erklärt die Herangehensweise: »Man entwirft ein atomistisches Modell und passt die Ladungen und die Verteilung der Elektronen so genau wie möglich an, um das reale Verhalten des Wassers zu reproduzieren.« Russo hat zusammen mit Kollegen von der Universität Tokio ein Modell erstellt, in dem sie die für Wasser typischen molekularen Wechselwirkungen herunterregeln können. Das soll zum Ursprung der anomalen Eigenschaften führen. »Ich will Wasser gewissermaßen weniger wässrig machen und versuche, graduell von dessen typischem Verhalten zu dem einer gewöhnlichen Flüssigkeit überzugehen«, berichtet er.
Der Schlüssel dabei ist, die Stärke der Wasserstoffbrückenbindung zu verändern, die zur tetraedrischen Anordnung führt. Indem die Wechselwirkungen künstlich mehr oder weniger in diese Form gezwungen werden, wandelt sich Russo zufolge das makroskopische Verhalten von Wasser. Dabei können viele Anomalien verschwinden. Erhöht man zum Beispiel den Tetraedercharakter der Flüssigkeit, steigert also den Anteil der Moleküle mit genau vier nächsten Nachbarn, schwimmt Eis als fester Aggregatzustand nicht mehr obenauf, sondern sinkt ab – wie bei normalen Substanzen, die erstarren.
Russo verwendet ein Zwei-Zustände-Modell, das Wasser als eine ständige Mischung seiner beiden Formen mit hoher und niedriger Dichte behandelt. Falls es diese wirklich gibt – könnten sie dann als einzelne, voneinander getrennte Flüssigkeiten auftreten? Bereits 1992 deuteten Simulationen von Eugene Stanley von der Boston University darauf hin, dass das bei unterkühltem Wasser bei sehr niedrigen Temperaturen passiert.
Obwohl Wasser unter Atmosphärendruck bei null Grad Celsius gefriert, braucht es dazu Verunreinigungen als Kristallisationskeime. Ohne sie lässt sich flüssiges Wasser bis auf etwa 232 Kelvin (minus 41 Grad Celsius) bringen. Kühlt man weiter, wird es allerdings sehr schnell zu Eis. Wasser existiert unter 136 Kelvin (minus 137 Grad Celsius) außerdem in einem glasartigen Zustand, gefriert aber oberhalb dieser Temperatur rasch. In dem weiten Temperaturbereich dazwischen ist in Experimenten keine flüssige Phase feststellbar. Wasserexperten wie Nilsson bezeichnen die Region als Niemandsland.
Auf Grundlage von Stanleys Modell könnte sich unterkühltes Wasser im Niemandsland tatsächlich in zwei verschiedene Phasen aufteilen. Und es würde ein bisher unbekannter »kritischer Punkt« existieren. An einem solchen verschwindet die Grenze zwischen zwei Phasen. Wasser hat beispielsweise bei 647 Kelvin und einem Druck von 221 Bar (22 Megapascal, 1 Bar entspricht etwa Atmosphärendruck) einen kritischen Punkt. Von dort an sind die Eigenschaften zwischen dem flüssigen und dem dampfförmigen Zustand ununterscheidbar. Am hypothetischen kritischen Punkt im Niemandsland würde die Trennung zwischen beiden Flüssigkeiten verschwinden. Doch die Suche nach Belegen dafür ist alles andere als einfach. Russo meint: »Wir können keine Gläser mit den zwei Arten von Wasser füllen. Aber bei einigen Experimenten gab es zumindest indirekte Hinweise auf solche Übergänge.«
Ein Ansatz geht von Wasser in seinem amorphen Zustand – das heißt, es ist fest, allerdings auf molekularer Ebene nicht kristallin geordnet – bei niedrigen Temperaturen aus. Unterhalb von 136 Kelvin gibt es zwei Typen von einem solchen glasartigen Wasser, einen mit geringer Dichte und einen mit hoher. Entsprechen diese vielleicht dem hypothetischen LDL- und HDL-Wasser bei höheren Temperaturen? Dann könnte es unter den richtigen Versuchsbedingungen möglich sein, die flüssigen Phasen getrennt voneinander zu beobachten – und vielleicht auch einen Übergang zwischen ihnen. Russo erklärt: »Kollegen suchen auf diesem Weg Beweise. Sie fangen beim Glas an, erhitzen es ein wenig und versuchen, eine Umwandlung zu den Flüssigkeitstypen zu erkennen, bevor alles kristallisiert.«
Extrem kurze Röntgenpulse beschießen winzige Tropfen im Vakuum
Nilsson nähert sich von der anderen Seite. Er will die beiden Flüssigkeiten mittels Röntgenstreuung an ultrakalten Wassertröpfchen nachweisen. »Wir haben Techniken entwickelt, um alles sehr schnell ablaufen zu lassen«, erläutert er. »Wenn die Experimente nur noch eine Dauer im Bereich von Mikrosekunden haben, lässt sich die Grenze zum Niemandsland zu immer tieferen Temperaturen verschieben.« Sein Team hat zwischen 10 und 20 Mikrometer kleine Wassertröpfchen in ein Vakuum injiziert, wo sie blitzartig abkühlen. Mit Hilfe von lediglich 50 bis 100 Femtosekunden langen Strahlungsimpulsen eines Röntgenlasers vermaßen die Wissenschaftler dann Struktureigenschaften des flüssigen Wassers in einem Tropfen. »Wir konnten bis auf 227 Kelvin heruntergehen und ein Stück weit ins Niemandsland schauen«, sagt Nilsson.
2017 veröffentlichten die Forscher um den Stockholmer ein Ergebnis, das ihrer Ansicht nach ebenfalls auf die zwei Zustände des Wassers hindeutet und dessen seltsames Verhalten erklärt. Sie fanden im Phasendiagramm Hinweise auf einen nach dem US-Chemiker Benjamin Widom von der Cornell University benannten Kurvenverlauf.
Die Widom-Linie beginnt bei einem kritischen Punkt. Im Fall des Wassers unterteilt sie die flüssige Phase in zwei Regionen, wobei sich auf der Seite der höheren Temperaturen und Drücke die Flüssigkeit eher wie die HDL-Phase verhält und auf der anderen Seite eher wie LDL-Wasser (siehe »Wenn Wasser nicht kristallisiert«). In der Nähe der Widom-Linie wechselt die Flüssigkeit am stärksten zwischen ihren beiden Formen hin und her. Außerdem sind die Phasen nicht mehr streng getrennt, sondern es kann sich eine innerhalb der anderen bilden. Nilsson zufolge entstehen bei sinkender Temperatur winzige, geschlossene Bereiche von Flüssigkeit mit niedrigerer Dichte. Das würde erklären, warum die Dichte von Wasser von vier Grad bis zu seinem Gefrierpunkt abnimmt.
Auf Basis seiner Röntgenstreuexperimente an den Tröpfchen hat Nilsson die Schwankungen in der Elektronendichte berechnet und einen Maximalwert für die Kompressibilität von Wasser bei 229 Kelvin im Vakuum identifiziert. Dieser stimmt mit dem erwarteten Verhalten nahe der Widom-Linie überein: Die Struktur der Flüssigkeit fluktuiert dort am stärksten, und wegen dieser Variabilität lässt sie sich besonders einfach zusammendrücken. Nilsson sucht weiter nach der genauen Position des kritischen Punkts: »Wir vermuten ihn im Temperaturbereich von 210 Kelvin nahe einem Kilobar Druck.«
»Zahlreiche Fachleute stehen der Annahme, Wasser sei eine Mischung aus zwei Flüssigkeiten, äußerst skeptisch gegenüber«
Alan Soper, Strukturforscher
Allerdings können sich viele seiner Kollegen mit der Hypothese grundsätzlich nicht anfreunden. »Zahlreiche Fachleute stehen der Annahme, Wasser sei eine Mischung aus zwei Flüssigkeiten, äußerst skeptisch gegenüber«, bekräftigt der Strukturforscher Alan Soper vom Rutherford Appleton Laboratory in Oxfordshire, Großbritannien. »Ich persönlich habe Schwierigkeiten, mir zwei verschiedenartige Wassermoleküle vorzustellen.« Soper bestreitet nicht die mögliche Existenz eines zweiten kritischen Punkts irgendwo im Niemandsland. Aber für ihn impliziert der Gedanke, Wasser könne bis hin zu Normalbedingungen getrennte Bereiche zweier Arten von Flüssigkeit enthalten, separate Phasen. »Und getrennte Phasen oberhalb eines kritischen Punkts ergeben keinen Sinn. Sonst ist es ja kein kritischer Punkt. Man kann nicht beides haben.«
Gäbe es Regionen mit verschiedenen Arten von Wasser, müssten diese Soper zufolge bei den Experimenten mit Röntgenstrahlung deutlich hervortreten. »Die Streuung wäre viel stärker, und davon ist nichts zu sehen.« Üblicherweise sei bei Mischungen, beispielsweise bei Mizellenstrukturen von Öl und Wasser, der Kontrast enorm, und die Dichtefluktuationen zwischen den verschiedenen Regionen würden erhebliche Anteile des Lichts streuen. Das ist bei Wasser nicht zu erkennen.
Doch Nilsson gibt zu bedenken, die Bereiche oberhalb des kritischen Punkts seien keinesfalls zwei scharf getrennte Phasen. »Es sind vielmehr dynamisch veränderliche Regionen in der Flüssigkeit – das ist etwas anderes.« Dabei handle es sich möglicherweise um nur 50 oder 100 Moleküle, die ständig mit solchen aus der Umgebung im Austausch wären. Er vergleicht die Situation mit der auf einer Party, bei der die Menschen an einer Stelle der Festhalle tanzen und an einer anderen an Tischen sitzen. Das sind zwar verschiedene Bereiche, aber einzelne Personen bewegen sich ständig zwischen ihnen hin und her. Ein einfacheres Flüssigkeitsmodell erkläre die anomalen Eigenschaften des Wassers schlicht nicht.
Die Ergebnisse einer 2019 veröffentlichten Untersuchung mit Röntgenstreuung unter der Leitung von Alexander Föhlisch vom Helmholtz-Zentrum Berlin deuten allerdings eher auf eine kontinuierliche Verteilung hin. Unter Normalbedingungen hätte flüssiges Wasser demnach eine Ordnung, bei der es durchschnittlich 1,74 Wasserstoffbrückenbindungen pro Molekül gäbe. Die Forscher um Föhlisch halten in ihrer Studie ein Zwei-Zustände-Modell bei Normalbedingungen für unwahrscheinlich, selbst wenn in der Nähe der Phasengrenze Schwankungen auftreten.
Laut Soper wiederum erhält Wasser seine einzigartigen Eigenschaften beim Abkühlen weniger durch ein Nebeneinander zweier Flüssigkeiten, sondern eher dadurch, dass die Orientierung der Wassermoleküle allmählich regelrecht in tetraedrischer Ausrichtung einfriert, sogar bereits dann, wenn sie sich noch flüssigkeitstypisch bewegen. »Diese spezielle Ordnungsänderung im Wasser kommt in allen Diskussionen zu kurz«, bemängelt er.
Eine molekulare Anomalie mit globalen Konsequenzen
Ein Konsens über die Ursachen des seltsamen Verhaltens von Wasser ist unter Physikochemikern noch nicht in Sicht. Außenstehenden mag die Debatte geradezu esoterisch erscheinen. Aber die ungewöhnlichen Eigenschaften dieses ungemein wichtigen Lösungsmittels wirken sich entscheidend auf zahlreiche Forschungsfelder aus, vor allem bei sehr niedrigen Temperaturen – von Klimamodellen bis zu möglichen Bedingungen im Weltall. Für die Biologie sind die genauen molekularen Abläufe von grundlegender Bedeutung. »Wasser verleiht den Nukleinsäuren ihre interessante Struktur und ihre Eigenschaften, ebenso den Proteinen«, betont Martin Chaplin. Und Seen sowie Meere bieten nicht zuletzt deshalb so günstige Lebensbedingungen, weil Organismen wegen der geringeren Dichte von Eis selbst unter zugefrorenen Oberflächen überleben.
»Es ist schon interessant«, findet Nilsson, »dass wir es dort, wo das anomale Verhalten von Wasser eine Rolle spielt, häufig auch mit lebensfreundlichen Bedingungen zu tun haben.« Seinem Konzept zweier Zustände zufolge wird Wasser erst bei Temperaturen unter 50 Grad Celsius zu einer Mischung aus Flüssigkeiten niedriger und hoher Dichte. Das ist ausgerechnet der typische Temperaturbereich des Lebens. »Ist das ein Zufall, oder steckt etwas Bedeutsames dahinter, das wir noch nicht verstanden haben?«
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