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Grenzgebiet Biophysik: Physik des Lebens

Auf der Suche nach einer grundlegenden Theorie des Lebens interessieren sich Physiker für "aktive Materie" von Vogelschwärmen bis zu umherschwirrenden Molekülen.
Vogelschwarm

Zuerst nahmen Zvonimir Dogic und seine Studenten Mikrotubuli, jene fadenförmigen Proteine, die einen Teil des Zytoskeletts im Zellinnern bilden. Dann mischten sie diese mit Kinesine, die als Motorproteine der Zelle entlang der Mikrotubuli gleiten, vergleichbar etwa den Zügen auf Schienen. Einige Tropfen des Cocktails lösten die Forscher anschließend in Öl und versetzten das Gemisch mit Adenosintriphosphat (ATP), der biochemischen Energie und damit dem Treibstoff von Zellen. Zur freudigen Überraschung der Wissenschaftler ordneten sich die Moleküle von selbst in großen Mustern an und schwirrten auf der Oberfläche der einzelnen Tropfen hin und her. Die Bündel von Mikrotubuli waren durch die Proteine vernetzt und bewegten sich etwa "wie Besucher eines Rockkonzerts beim Crowdsurfing", erzählt Dogic, der als Physiker an der Brandeis University in Waltham in Massachusetts forscht.

Mit seinen schon 2012 publizierten Experimenten schuf Dogics Team eine ganz neue Art von Flüssigkristallen. Bei herkömmlichen Displays bilden die Moleküle rein passiv im elektrischen Feld ein Muster – bei Dogic bewegten sich die Bestandteile aber aktiv. Für den Antrieb sorgten sie selbst, indem sie Energie – hier in Form von ATP – aus ihrer Umgebung aufnahmen. Und sie bildeten die Muster ganz spontan durch das Kollektivverhalten tausender Einheiten mit eigentlich unabhängiger Beweglichkeit.

So in etwa stellen sich die Systeme dar, die von Physikern als aktive Materie bezeichnet werden – ein Forschungsfeld, das in den letzten Jahren wesentlich an Bedeutung gewonnen hat. Beispiele dafür gibt es in unserer Natur reichlich: das führungslose, aber kohärente Schwärmen von Vögeln oder das strukturbildende Zytoskelett der Zellen. Und auch im Labor gibt es inzwischen immer mehr aktive Materie, nicht nur aus biologischen Bausteinen wie Mikrotubuli, sondern auch aus synthetischen Komponenten. So bilden beispielsweise lichtsensitive Mikroschwimmer verformbare Strukturen, sobald eine Lampe eingeschaltet wird. Vor einem Jahrzehnt gab es noch etwa zehn Fachveröffentlichungen, die den Begriff aktive Materie im Titel oder Abstract trugen – im letzten Jahr waren es schon fast 70; außerdem fanden hier mehrerer internationale Workshops zu diesem Thema statt.

Das Geheimnis des Lebens

Die Forscher sind nun auf der Suche nach einer umfassenden, quantitativen Theorie zur aktiven Materie. Als Basis käme eine schon jahrhundertealte Theorie aus der statistischen Mechanik in Frage, die alltägliche Phänomene wie Hitze, Temperatur und Druck mit der Bewegung von Atomen und Molekülen erklärt. Aber sie könnte eben noch wesentlich weiter reichen und einen mathematischen Rahmen für immer noch mysteriöse, biologische Vorgänge liefern, sei es wie sich Zellen bewegen, wie sie ihre Form finden und wie sie sich teilen. "Wir suchen eine Theorie der Mechanik und Statistik von lebender Materie, vergleichbar der für tote Partikel", erklärt Sriram Ramaswamy, Physiker und Direktor des Centre for Interdisciplinary Sciences am Tata Institute of Fundamental Research in Hyderabad in Indien.

Bis dahin könnte es aber noch ein langer Weg sein, denn die Forscher beginnen gerade erst mit Untersuchungen, wie aktive Materie im Labor zu kontrollieren ist. Und selbst noch so begeisterte Verfechter gestehen ein, dass es bisher einfach keine Theorie zum Verhalten von Zellkomponenten oder Vogelschwärmen gibt. Und sollte es eines Tages eine geben, müsste diese auch noch von Mainstreambiologen als hilfreich erachtet werden. Für diese scheint nämlich die Idee von der Aktivität lebender Materie "viel zu offensichtlich, um wirklich Neues zu bieten", meint der Biophysiker Jonathon Howard von der Yale University in New Haven in Connecticut.

"Wir suchen eine Theorie der Mechanik und Statistik von lebender Materie"Sriram Ramaswamy

Das hat jedoch die Verfechter nicht davon abgehalten, schon einmal mögliche Anwendungen zu nennen – selbstbildende künstliche Gewebe, selbstpumpende Mikrofluidsysteme und neue, von der Biologie inspirierte Materialien. Natürlich wissen auch sie, dass es noch einige Zeit bis zur Realisierung ihrer Ideen dauern wird. "Es ist sicherlich noch zu früh für Anwendungen, weil wir immer noch zu erstaunt darüber sind, was alles möglich ist", sagt Andreas Bausch, der als Physiker an der Technischen Universität München arbeitet. "Aber es muss jetzt einfach jemand damit anfangen."

Nun alle zusammen!

Alle bekannten Lebensformen basieren auf intern angetriebenen Einheiten, die sich letztendlich zu großen Strukturen und Bewegungen zusammenfinden. Wäre das nicht so, wären die Organismen auf viel langsamere, passive Prozesse angewiesen, beispielsweise auf Diffusion zum Transport von DNA und Proteinen in Zellen oder Geweben. Viele der komplexen Lebensstrukturen und Funktionen hätten sich dann vielleicht niemals entwickelt. Seit Jahrzehnten spekulieren Biologen und Physiker nun schon über die allgemeinen Prinzipien lebender Materie. Doch die Zellforschung hat sich bisher darauf konzentriert, unzählige Moleküle zu identifizieren, anstatt auch die Prinzipien zu bestimmen, wie sich die Faktoren selbst organisieren. Deshalb hat auch die Forschung wirklich an aktiver Materie erst etwa Mitte der 1990er Jahre begonnen.

Schlaue Schwärme | Ein einfaches Modell der Interaktion von selbstständig mobilen Teilchen bildet recht realistisch die Bewegung von Vogel- und Fischschwärmen oder die Selbstorganisation von Proteinen in der Zelle ab – und viele weitere Erscheinungen der "aktiven Materie".

Eines der ersten wegweisenden Experimente stammt vom Team des Biophysikers Stanislas Leibler, der damals noch an der Princeton University in New Jersey forschte und inzwischen an der Rockefeller University in New York beschäftigt ist. Seine Gruppe konnte damals zeigen, wie sich komplexe, lebensähnliche Strukturen aus Mikrotubuli und ein paar mit ATP versorgten Proteinen bilden können. Etwa zeitgleich entwickelte Tamás Vicsek, der Experte für theoretische Biophysik an der Eötvös Loránd Universität in Budapest, ein bedeutendes Modell über aktive Materie. Schon in den frühen 1990er Jahren hatte sich Vicsek mit der Kollektivbewegung von Vogelschwärmen, Bakterienkolonien und Komponenten des Zytoskeletts beschäftigt, sah dabei aber keine Möglichkeit zur Erklärung durch vorhandene Theorien. "Das ist nicht wie bei statistischer Mechanik des Gleichgewichts, bei der man einfach eine Anleitung in Büchern findet", sagt der Physiker Jean-François Joanny vom Institut Curie in Paris.

Vicsek knüpfte stattdessen an das von Werner Heisenberg im Jahr 1928 entwickelt Modell zum Ferromagnetismus, sprich magnetischen Materialien an. Heisenberg stellte sich damals jedes Atom als frei rotierenden Stabmagneten vor; großflächiger Magnetismus entstand erst dann, wenn sich die Atommagneten auf Grund von Interaktionen wie aufgereiht anordneten. Um nun aktive Materie zu erklären, ersetzte Vicsek die kleinen Magneten durch sich bewegende, eine bestimmte Geschwindigkeit besitzende Pfeile. Jeder einzelne Pfeil ordnete sich im Modell mit der durchschnittlichen Geschwindigkeit seiner Nachbarn an, allerdings mit einem bestimmten Zufallsfehler. Dieses Konzept führte letztlich zu Vicseks so genanntem Schwarmmodell. Sobald nur ausreichend Pfeile zusammengepackt waren, bewegten sich diese nach einiger Zeit in Mustern, die jenen von Vogel- und Fischschwärmen ähnelten, zumindest laut seiner Simulationen. "Ich war so begeistert", erinnert sich Vicsek, dessen im Jahr 1995 erschienene Publikation zum Modell inzwischen schon mehr als 3500-mal zitiert wurde. "Ich erzählte allen Leuten von meiner Integration von Bewegung in das Heisenberg-Modell."

Der Physiker John Toner von der University of Oregon in Eugene hatte schon 1994 von Vicseks Ideen in einem seiner Vorträge gehört und war ebenfalls begeistert. Anhand seiner eigenen Untersuchungen erkannte er, wie sich Vicseks schwärmende Pfeile als kontinuierliche Flüssigkeit darstellen ließen. Er nahm die Standardgleichungen der Hydrodynamik, mit denen sich jegliche Flüssigkeit vom Teewasser bis hin zum Ozean beschreiben lässt, und rechnete die Energienutzung der einzelnen Partikel noch mit ein. Toners Fluidmodell und Vicseks Modell diskreter Partikel beschrieben im Grunde genommen dieselben Phänomene und führten dazu, dass nun alle möglichen Leute im Hinterstübchen an der Simulation von aktiver Materie arbeiteten.

Das Ganze hatte nur ein Problem. Die Zahl der Simulationen schoss zwar in die Höhe, doch "die Zahl der echten Experimente stieg nicht an und blieb bei fast null", erinnert sich der Physiker Denis Bartolo von der École Normale Supérieure de Lyon im französischen Lyon. Der Praxistest der Simulationen ist auch wahrlich schwierig, denn wie sollten kontrollierte Experimente mit 10 000 lebenden Vögeln oder Fischen durchgeführt werden? Auch im Mikrobereich kannten sich nur wenige Wissenschaftler in den Grundlagen und der Praxis aus; die Theorie wurde nämlich überwiegend in Physikzeitschriften publiziert und die experimentelle Umsetzung verlangte eher Erfahrung mit Labortechniken der Biologie, beispielsweise zur Isolierung relevanter Zellbestandteile.

Praktische Magie

Erst etwa Ende 2000 kamen sich Theorie und Experiment näher, und Bausch leitete einen der ersten Versuche mit quantitativen Messungen. Die Forscher mischten dafür Aktin – jenes Filament, das den Großteil des Zytoskeletts in komplexen Zellen bildet – mit dem Motorprotein Myosin, welches auf dem Aktin entlangwandert und letztlich zur Kontraktion der Muskeln führt. Sie fügten noch ATP als natürlichen Treibstoff des Myosins hinzu und betrachteten die Mischung auf einem Objektträger unter dem Mikroskop. "Wir brachten die Substanzen einfach nur zusammen", erklärt Bausch. Bei niedrigen Konzentrationen schwärmten die Aktinfilamente ohne erkennbare Ordnung herum, doch in höheren Konzentrationen bildeten sie pulsierende Cluster, Strudel und Bänder. Bausch und seine Kollegen bestimmten sofort die Phasentransition, wie sie Vicsek und andere Wissenschaftler schon vorausgesagt hatten. Die Veröffentlichung der Experimente im Jahr 2010 regte die Diskussion über aktive Materie deutlich an.

Unter den nun folgenden Untersuchungen waren auch die 2012 von Dogics publizierten Experimente mit Mikrotubuli und dem Motorprotein Kinesin. Die von ihm beschriebenen Muster waren wesentlich komplexer und dynamischer als jene in Bauschs Experimenten, weil sich bewegende Mikrotubuli wie in Bewegung geratene Fingerabdrücke wirkten. Dogics Team fand aber auch Brüche und Fehler in der regelmäßigen Anordnung der Elemente, welche zu Unterbrechungen der Muster führten, vergleichbar den zusammenlaufenden Längengraden am Nord- und Südpol der Erde. Die Schwachstellen waren dynamisch und bewegten sich wie selbstangetriebene Partikel.

Allerdings war das Phänomen mit keiner der damaligen Theorien zu erklären, woraufhin Dogic im Jahr 2014 eine Kooperation mit Andreas Bausch und der Physikerin Cristina Marchetti von der Syracuse University in New York begann. Zusammen entdeckten sie, wie sich aktive Flüssigkristalle auf kugeligen Vesikeln bewegten – nicht als Bewegung einzelner Kristallelemente, sondern eher in Form von Bewegungen der Fehlstellen. Außerdem erkannten sie, wie sich durch Veränderung von Durchmesser und Oberflächenspannung der Vesikel auch die Bewegungen beeinflussen ließen – vielleicht eine Möglichkeit in Zukunft aktive Kristalle zu kontrollieren.

Genau das wollen die Forscher um Dogic demnächst testen. Erst einmal untersuchen sie nun die Spontanbewegung der in kleine, donutförmige Behälter gepackten Mikrotubuli und Proteine. Die Versuche sollen die Grundlage für eine sich selbst pumpende Flüssigkeit legen; hiermit könnten Moleküle in Mikrofluidsystemen bewegt werden, die inzwischen in der experimentellen Biologie, der Medizin und der Industrie immer gängiger werden. Die Forschung über aktive Materie "ändert völlig unsere Vorstellung, wozu Material in der Lage ist", sagt Dogic.

Aber jede industrielle Anwendung stößt erst einmal auf Hindernisse. Die bisher für die Experimente eingesetzten biologischen Materialen sind teuer und müssen zeitaufwändig isoliert werden. So stammen Dogics Mikrotubuli aus dem Gehirn von Rindern und das von Bausch eingesetzte Aktin aus dem Muskel von Kaninchen; und noch dazu sind beide im Labor sehr kurzlebig. Solange noch kein günstiges, stabiles und kommerziell verfügbares Ausgangsmaterial für aktive Materie gefunden ist, bleibt eine wirkliche Anwendung unwahrscheinlich, meint Bausch.

Allerdings könnten die Fortschritte im Bereich synthetischer aktiver Materialien schon einmal den Weg weisen. Der Physiker Paul Chaikin von der New York University zeigte im Jahr 2013 die Herstellung von Kristallpartikel aus dem Eisenoxid Hämatit in einem Kugelpolymer. Diese so genannten Schwimmer legten die Forscher in eine Wasserstoffperoxidlösung und bestrahlten sie mit blauem Licht. Auf Grund chemischer Reaktion bewegten sich die Partikel ganz spontan, fanden sich zusammen und trennten sich wieder, wie wir es von Besuchern einer Cocktailparty kennen.

Denis Bartolo zeigte ebenfalls im Jahr 2013, wie einfache Plastikkügelchen in einer leitenden Flüssigkeit großflächig in Bewegung gerieten. Als die Forscher ein elektrisches Feld anlegten, begannen die Partikel ungerichtet und zufällig zu rotieren. Bei hoher Dichte aber stießen sie häufiger aneinander und rollten bald ganz von selbst als Schwarm in dieselbe Richtung.

Solche im Labor hergestellten Materialien erscheinen natürlich noch sehr primitiv, wenn man sie mit den von natürlichen Zellen produzierten Substanzen vergleicht – diese haben allerdings auch vier Milliarden Jahre der Evolution hinter sich. Wenn man die von Dogic eingesetzten Kinesine aber mit den vom Menschen gebauten Motoren vergleicht, sind sie sogar wesentlich effizienter hinsichtlich der Umsetzung von Energie in Bewegung, meint er selbst. Bartolo winkt aber gleich die Frage ab, ob sich seine rotierenden Plastikkügelchen in nächster Zeit schon lohnend einsetzen ließen. "Es geht mir nicht um eine bestimmte Anwendung", sagt er.

Mal ganz abgesehen von neuen Möglichkeiten, aktive Materie begeistert einfach, weil sie den komplexesten Systemen mit Selbstorganisation ähnelt, nämlich den lebenden Organismen. Laut Daten von Dogic aus dem Jahr 2011 bilden Mikrotubulibündel synchrone, wellenähnliche Muster, wenn sie an einem Ende mittels Luftblasen auf einem Objektträger verankert sind. Das Ganze erinnerte die Forscher auf irgendwie unheimliche Weise an haarähnliche Zilien und Flagellen, die an der Oberfläche mancher Zellen vorkommen. Im Jahr darauf fand Dogic dann auffallende Ähnlichkeiten zwischen den Bewegungen seiner Mikrotubuli und den von Zellen bekannten Zytoplasmaströmungen, bei denen Filamente den Zellinhalt wie "in einer großen Waschmaschine umherwirbeln", erklärt er.

Die scheinbaren Gemeinsamkeiten zwischen der im Labor hergestellten aktiven Materie und lebenden Dingen kann schon unheimlich sein, gibt die Physikerin Jennifer Ross von der University of Massachusetts Amherst zu. Bei ihren Vorträgen zeigte sie immer wieder Videos von kugelförmigen Systemen aus Mikrotubuli und Kinesinen und wollte von den Zuhörern wissen, ob es sich ihrer Meinung nach dabei um echte Zellen handelte. "Besonders die Zellbiologen ließen sich jedes Mal damit hereinlegen", erzählt sie.

Aber etwas kann auch wie ein lebender Organismus aussehen und sich so verhalten, ohne tatsächlich denselben Regeln zu folgen, gibt Howard zu denken. Er weist darauf hin, dass Dogics Gruppe etwas geschaffen hat, was zwar Zilien oder Flagellen in Aussehen und Verhalten sehr ähnlich ist – es mag aber in Wirklichkeit ganz anders funktionieren. "Es gibt sicherlich einen zu Grunde liegenden Mechanismus, der aber noch äußerst abstrakt ist", sagt er.

Reicht es jetzt nicht langsam?

Der Biophysiker Daniel Needleman von der Harvard University in Cambridge in Massachusetts wollte nun wissen, ob sich mit Hilfe der Theorie der aktiven Materie auch biologische Mechanismen nachbilden lassen. Hierzu untersuchte er die Zellspindeln, die als mikrotubulibasierte Strukturen die Trennung der Chromosomen bei der Zellteilung steuern. Er baute auf vorausgegangene Theorien und Experimente auf, die nahelegten, dass Interaktionen von Mikrotubuli und Kinesinen über kurze Strecken hinweg schon zur Ausbildung von spindelähnlichen Strukturen reichten. Deshalb untersuchte er Frosch-Eizell-Extrakte mit ausgefeilten Hightechmikroskopen und quantifizierte die Dichte, Orientierung und Belastung der Mikrotubuli bei der Spindelbildung. "Dazu war bisher gar nichts bekannt, bis Dan uns zeigte, wie sich all diese Parameter messen lassen", erklärt Horward.

Needleman wendete die Modelle zur Selbstorganisation im Folgenden auf seine Messdaten an. Wie er und der Biologe Jan Brugués vom Max-Planck-Institut molekularer Zellbiologie und Genetik in Dresden im Jahr 2014 veröffentlichten, sind Interaktionen zwischen eng zusammenliegenden Mikrotubuli zur Bildung und Stabilität der Spindel ausreichend – ganz im Einklang mit der Theorie. "Alle dachten, man bräuchte komplexere Systeme dazu", sagt Needlemen. "Aber nachdem sich so vieles über Spindeln relativ einfach erklären lässt, ist das sicherlich nicht notwendig."

Auch andere nutzen die Ideen aus der Forschung an aktiver Materie und untersuchen beispielsweise, wie sich die Zellen beim Gewebewachstum, der Wundheilung und der Ausbreitung eines Tumors organisieren. Theoretiker wie Marchetti, Joanny und Frank Jülicher vom Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden erstellten Modelle von Geweben und Tumoren als bewegliche Zellen, die nicht über chemische Signale organisiert sind, sondern durch Zell-Zell-Interaktionen über kurze Bereiche hinweg. Eher experimentell ausgerichtete Forscher untersuchen darüber hinaus, wie die Selbstorganisation der Zellen die Entwicklung des Fruchtfliegenflügels steuert.

Einige Biologen erhoffen sich neue Erkenntnisse über Zellteilung, Formbildung der Zellen und vieles mehr. "Das ist ein bisschen wie mit der linnéschen Nomenklatur, noch bevor Darwin kam", sagt der Biologe Tony Hyman vom Dresdner Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik. "Damals kannten sie auch alle Spezies, wie wir alle möglichen Moleküle kennen – nun müssen wir sie noch irgendwie in eine Ordnung bringen." Laut Hyman könnte die aktive Materie den Schlüssel dazu liefern.

Aber sogar Enthusiasten geben zu, dass die meisten Biologen erst noch davon überzeugt werden müssen. "Anfangs wurden jede Menge unserer Papers abgelehnt", erzählt Hyman, teils auch wegen der Probleme, überhaupt Reviewer für die sehr mathematisch anmutenden Papers zu finden. Sogar der Ausdruck aktive Materie war schwierig, erinnert sich Howard. "Es ist einfach ein typisch physikalischer Begriff."

Howard und Hyman hoffen noch immer auf das Zusammenwachsen der Forschungsfelder und damit eine bessere Akzeptanz ihrer Arbeiten. "Die neue Generation von Biologen wird aber auch gleich von Anfang an besser in Physik ausgebildet", sagt Hyman.

Und das ist gut so, fügt der Biophysiker Stephan Grill von der Technischen Universität Dresden hinzu, denn der Fortschritt der aktiven Materie braucht Wissenschaftler, die sich in beiden Bereichen auskennen. "Wir können nur im Grenzbereich erfolgreich sein, dazu müssen beide Bereiche einfach an ihr Limit gehen", sagt er.

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