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Pilgern: Zu Fuß zu innerer Klarheit finden

Hunderttausende pilgern jedes Jahr auf Strecken wie dem Jakobsweg durch Europa. Mit Religion hat das oft wenig zu tun: Das Pilgern dient vielen als Übergangsritual in Lebenskrisen.
Schöne Aussicht über die Pyrenäen am Jakobsweg nach Santiago de Compostela

Nikola Hollmann war Chefredakteurin einer Monatszeitschrift und hat ihren Beruf immer geliebt. Doch im Jahr 2017 starb ihre Kollegin und beste Freundin Barbara. Zu dem Schock und der tiefen Trauer über den Verlust des geliebten Menschen kamen dann auch Probleme am Arbeitsplatz. Nach fast 20 Jahren guter Zusammenarbeit mit der Geschäftsführung fühlte sich Hollmann plötzlich angefeindet und gemobbt. In dieser Krise entschied sich die 50-Jährige zu einem einschneidenden Schritt: Sie kündigte ihre Stelle, packte ihren Rucksack und ging auf Pilgerschaft. »Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich mich jetzt auf den Weg machen muss«, erinnert sie sich. »Ich musste mich erst mal leer machen, bevor ich wusste, wie mein Leben weitergeht.«

Wie Nikola Hollmann verlassen jährlich hunderttausende Menschen für eine Weile ihr Zuhause, um mit einem Minimum an Gepäck auf einen langen, beschwerlichen Pilgerweg zu gehen. Während die kirchliche Bindung in der Bevölkerung rapide nachlässt und die Gottesdienste immer leerer werden, erlebt die uralte religiöse Praxis des Pilgerns eine Renaissance.

Am sichtbarsten wird dies auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela in Spanien. Bereits in den 1990er Jahren stieg dort die Zahl der Pilgernden kontinuierlich an. Als der Entertainer Hape Kerkeling 2006 über seine Pilgerreise in einem Buch berichtete (»Ich bin dann mal weg«), wurde der Jakobsweg zum Schauplatz einer spirituellen Massenbewegung. 2019 verzeichnete man einen Rekord von knapp 270 000 amtlich registrierten Pilgerinnen und Pilgern.

Neben einem Netz an Jakobswegen, die sich durch ganz Europa ziehen und in Santiago münden, sind auch andere Pilgerwege in Europa zunehmend beliebt, etwa der St. Olavsweg von Oslo nach Trondheim oder der Franziskusweg, der durch die Toskana und Umbrien nach Rom führt. Zudem entstehen allerorten neue Pilgerwege, etwa der vom niedersächsischen Loccum nach Volkenroda in Thüringen, der 2005 von der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) offiziell eröffnet wurde.

Die sieben Typen des Pilgerns

Wie ist das zu erklären? Um das zu erforschen, hat der Soziologe Christian Kurrat 2010 selbst die Wanderschuhe geschnürt. Er hat auf dem spanischen Jakobsweg Feldforschung über die biografische Bedeutung des Pilgerns betrieben und darüber 2015 in einem Buch berichtet. Seine Versuchspersonen fand er entlang des Wegs, in den Herbergen zwischen Pamplona und dem Kap Finisterre, wo er Pilger und Pilgerinnen an der Rezeption ansprach oder sich von den Herbergseltern Gäste vermitteln ließ. Er befragte sie mit der Methode des »narrativen Interviews«, das die Befragten dazu anregt, aus dem Stegreif ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Anhand der Interviews mit 24 internationalen Pilgernden zwischen 24 und 93 Jahren erstellte Kurrat eine »Pilgertypologie«. Er unterscheidet sieben Typen: »Pilger bilanzieren ihr Leben, verarbeiten eine Krise, nehmen eine Auszeit, vollziehen einen Übergang zwischen zwei Lebensphasen, initiieren einen Neustart, pilgern für jemanden oder interpretieren Pilgern als Berufung.« Als zentrales Ergebnis seiner Studie hält der Soziologe fest: »Pilgern ist eine Art Statuspassage, die im alten sozialen Umfeld gründet und für ein neues Umfeld exerziert wird.«

Für Nikola Hollmann wurde ihre Pilgerschaft ebenfalls zu so einer Statuspassage. Eine Weile hat auch sie erwogen, auf dem Jakobsweg zu laufen, »aber der war mir zu überlaufen und durchorganisiert«. Sie wollte lieber allein und auf unbekannteren Wegen gehen. So entschied sie sich für den Fernwanderweg von Salzburg nach Triest, der auf 375 Kilometern über die Alpen führt. Obwohl dieser Weg nicht eigens dafür ausgeschrieben ist, gestaltete sie diese Wanderung als Pilgerschaft.

»Man will keine religiösen Erklärungen von der Kanzel hören, sondern eigene körperliche Erfahrungen machen«Michael Utsch, Religionspsychologe

Der Unterschied zwischen Wandern und Pilgern liegt nach Ansicht der Theologin Hollmann nicht in der Strecke, sondern in der Haltung: »Beim Pilgern geht es nicht so sehr darum, sich körperlich zu beweisen, sondern um die Auseinandersetzung mit sich selbst und auch um Gotteserfahrungen in der Natur«, sagt sie. »Das ist spirituell, dafür brauche ich keine Kirchen.« Die Grenzen zwischen Pilgern und Wandern seien allerdings fließend, denn die spirituelle Erfahrung der Natur und die Konfrontation mit sich selbst stellten sich oft auch bei langen Fernwanderungen ein, »also immer dann, wenn Menschen für mindestens zwei Wochen allein auf einer bestimmten Strecke unterwegs sind«.

Für den Religionspsychologen Michael Utsch von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen ist die Pilgerbewegung eine »neue Sozialform des Religiösen« und ein Zeichen für die Wiederentdeckung der Spiritualität in der postmodernen Gesellschaft. »Man will keine wortreichen religiösen Erklärungen von der Kanzel dazu hören, sondern eigene, auch ganz körperliche Erfahrungen machen«, sagt er. Die Pilgerbewegung sei nur eines der Anzeichen für den Wandel »von einer kognitiven zu einer erfahrungsorientierten Spiritualität«. Und in einer Zeit, wo die körperliche Fitness fast als Allheilmittel gegen alle körperlichen und seelischen Krankheiten gelte, habe das Pilgern zudem auch in nichtreligiösen Kreisen Ansehen. Damit werde das Pilgern zu einer unverdächtigen und gesellschaftlich anerkannten Form von moderner spiritueller Praxis.

Nikola Hollmann übernachtete in Berghütten, Gasthöfen und kleinen Pensionen. Anfangs hatte sie noch Schmerzen an den Füßen, aber je länger sie ging, umso mehr stellte sich ihr Körper auf die neue Lebensweise ein. »Wenn du allein gehst, findet der Körper von selbst einen eigenen Rhythmus«, beschreibt sie ihre Erfahrung. »Ich hatte das Gefühl, dass ich ein Teil der Natur wurde, die mich auch tröstet. Beim langen Gehen kann sich eine Harmonisierung von Körper, Geist und Seele einstellen. Und irgendwann merkte ich: Jetzt bin ich wieder mit mir im Reinen.«

Angesichts solcher Erfahrungen liegt es nahe, dem Pilgern in Lebenskrisen eine heilsame Wirkung zuzuschreiben. In Pilgerforen wird deshalb schon die Forderung nach einer Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen laut. »Allerdings ist es noch zu früh, von einem therapeutischen Effekt des Pilgerns zu sprechen«, sagt die Psychologin Tatjana Schnell, die als Professorin an der Universität Innsbruck und an der MF Norwegian School of Theology, Religion and Society in Oslo lehrt. »Die Forschung ist noch nicht so weit.«

Pilgern heißt, sich auf eine Transformation einzulassen

Dass sich die Psychologie bislang kaum mit dem Massenphänomen befasst hat, könnte an einer traditionellen Berührungsangst gegenüber religiösen Themen liegen. Als Tatjana Schnell vor zwei Jahrzehnten damit begann, die »empirische Sinnforschung« innerhalb der Psychologie zu etablieren, wurde sie gewarnt, dies könne ihre wissenschaftliche Glaubwürdigkeit und ihre Karriere gefährden. Inzwischen ist die empirische Sinnforschung international anerkannt.

Die erste psychologische Längsschnittstudie zum Pilgern führte Schnell gemeinsam mit ihrer Studentin Sarah Pali an ihrem Institut in Innsbruck durch. Über Pilgerforen in den sozialen Medien rekrutierten sie 85 angehende Pilgerinnen und Pilger zwischen 17 und 70 Jahren und befragten sie jeweils vorher, direkt danach und vier Monate nach ihrer Heimkehr. Im Durchschnitt waren sie 646 Kilometer über den Jakobsweg nach Santiago gelaufen.

Mehr als die Hälfte bezeichnete sich vor Antritt der Pilgerschaft als wenig bis überhaupt nicht religiös. »Aber auch wenn ich nicht religiös bin, habe ich die Möglichkeit, mich bewusst in ein religiöses Ritual hineinzubegeben«, erläutert Tatjana Schnell, »als eine erprobte Form, die immer schon da ist und der ich mich überlassen kann.« Den Unterschied zu einer Wandertour erkennt sie in der Bereitschaft der Pilgernden, sich dabei auf eine innere Transformation einzulassen: »Ich bin bereit, dass da auf diesem Weg etwas anderes mit mir passiert.«

Die Ergebnisse ihrer Längsschnittstudie legen nahe, dass diese Transformation tatsächlich eintritt. 59 Prozent der Befragten gaben an, auf dem Jakobsweg Klarheit über sich gewonnen zu haben. »Als Haupteffekt des Pilgerns zeigte sich die Sinnerfüllung«, sagt Schnell. Diese stelle sich ein, wenn Menschen ihr Leben als »kohärent, bedeutsam, orientiert und zugehörig« erfahren könnten. Nach der Heimkehr der Pilgernden ließ diese Sinnerfahrung zwar wieder deutlich nach, lag aber immer noch weit über dem Niveau, das sie vor der Pilgerreise angegeben hatten. Besonders deutlich zeigte sich dieser Effekt bei den sieben Prozent der Befragten, die vor Antritt der Reise in einer ausgewachsenen Sinnkrise steckten und sich depressiv oder ängstlich fühlten, teils sogar Suizidgedanken hatten. Sie alle gaben nach der Pilgerwanderung an, aus der Sinnkrise herausgekommen zu sein.

»Man zieht sich eine andere Identität an«Tatjana Schnell, Sinnforscherin

Die Psychologin Tatjana Schnell sieht im Pilgern ein perfektes Beispiel für einen Übergangsritus. Er erstrecke sich über drei Phasen: Schwelle, Läuterung, Integration. In der Schwellenphase trennten sich die Pilger von ihren Wohnungen, ihrer schicken Kleidung und ihren Autos und statteten sich mit Wanderschuhen, Rucksack sowie Stab als Pilger aus: »Man zieht sich eine andere Identität an.« Auf dem Weg vollziehe sich dann die Läuterung: Unter den Pilgernden gebe es keine soziale Hierarchie, so dass sie oft existenzielle Gespräche führen und sich von ihrem gesellschaftlichen Status lösen könnten. Darauf folge die Integrationsphase. »Am Ende dieses Übergangsritus machen Menschen die Erfahrung: Ich bin ein anderer Mensch!«

Der Übergangsritus werde beim Pilgern vor allem durch »Reizdeprivation« angestoßen, sagt Schnell. In der Monotonie des Gehens wende sich die Aufmerksamkeit stärker nach innen. Dadurch könnten schwierige Erinnerungen und unbewältigte Konflikte hochkommen und allmählich verarbeitet werden. Schnell vermutet, dass neben der relativen Reizdeprivation auch die körperliche Betätigung und die permanente gegenläufige Bewegung beider Körperhälften dabei helfen könnten, Konflikte zu verarbeiten. Aber auch dafür gebe es noch keine wissenschaftlichen Beweise. »Das wäre das Nächste, was wir untersuchen müssten«, sagt die Psychologin.

Man solle nicht erwarten, dass das Pilgern die eine große Erkenntnis bringt, meint die Pilgerin Nikola Hollmann. »Aber die Erfahrung, dass man trotz aller Unsicherheiten am Ziel angekommen ist, kann so etwas wie eine neue Flexibilität und Furchtlosigkeit bewirken.« Nach ihrer Heimkehr hat sie beschlossen, nicht wieder als Redakteurin zu arbeiten. Obwohl sie vorher immer um finanzielle Sicherheit bemüht war, konnte sie sich jetzt erstmals vorstellen, freiberuflich zu arbeiten. So packte sie bald wieder ihren Rucksack, erkundete verschiedene Wege durch Deutschland und schrieb darüber mehrere Wander- und Pilgerführer.

Zusammen mit einer Kollegin organisiert Nikola Hollmann nun Fern- und Pilgerwanderungen für Gruppen. Dabei gibt sie nicht nur die Route vor, sondern begleitet die Teilnehmenden auch als Theologin und Coach in ihrer persönlichen Entwicklung. Inzwischen hat sie einen Pilgerweg für Frauen entwickelt, den Irmengardweg. Er folgt dem Lebensweg der mittelalterlichen Heiligen Irmengard über 350 Kilometer von Bad Buchau bis an den Chiemsee.

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