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Alexandrine Tinne: Pionierin in Terra incognita

Daheim in Europa schüttelten sie den Kopf: Wie eine Getriebene reiste Alexandrine Tinne zu den weißen Flecken Afrikas. Bis vor 150 Jahren ein Säbel sie traf.
Alexandrine Tinne auf einem Kamel

Es geschieht am Morgen des 1. August 1869. Der Tatort: eine unwirtliche, menschenleere Wüstengegend in der libyschen Sahara, knapp 1000 Kilometer südlich von Tripolis. In einem provisorischen Zeltlager liegt eine junge europäische Frau halb nackt auf dem Boden und schreit nach Hilfe. Sie hat mehrere tiefe Wunden, aus denen Blut in den Sand sickert. In einigem Abstand stehen verängstigte Menschen und sehen tatenlos zu, während andere die Habseligkeiten der Frau durchwühlen und die Beute unter sich aufteilen. So geht es mehrere Stunden. Dann, am frühen Nachmittag, verstummen die Schreie, ist die Qual endlich vorbei. Alexandrine Tinne ist tot.

Zweifellos zählte die junge Holländerin, die keine 34 Jahre alt wurde, zu den ungewöhnlichsten und schillerndsten Reisenden des reisefreudigen 19. Jahrhunderts. Als eine der ersten Europäerinnen drang sie in das Innere Afrikas vor. Sie beteiligte sich an der Suche nach den legendären Nilquellen und wollte als erste weiße Frau die Sahara durchqueren. Afrika war Alexandrine Tinnes große Liebe und ihr Schicksal. Noch Jahrzehnte nach ihrem gewaltsamen Tod rankten sich in den Dörfern und Karawanen Legenden um die »Tochter des Königs«, wie sie ehrfurchtsvoll genannt wurde.

Der abenteuerliche Weg zu jenem grausamen Ende mitten in der Wüste begann am 17. Oktober 1835. Alexandrine Tinne erblickte an der vornehmen Herengracht in Den Haag das Licht der Welt. Ein Leben in Reichtum und Luxus war ihr vorbestimmt. Ihr Vater, Philippe Frédéric Tinne, war mehrere Jahre lang ein hoher Beamter in den niederländischen Kolonien in Südamerika gewesen und hatte im heutigen Guyana große Flächen für den Anbau von Kaffee und Rohrzucker erworben. 1812 gründete er in Liverpool ein Handelsunternehmen und kehrte nach dem Tod seiner ersten Frau als reicher Mann nach Holland zurück. Dort heiratete er Henriette van Capellen, die einer der angesehensten Adelsfamilien des Landes entstammte. Aus dieser Verbindung ging Alexandrine als einziges gemeinsames Kind hervor. Als ihr Vater im Jahr 1844 starb, wurde die Neunjährige eine der reichsten Erbinnen der Niederlande.

Damit war die junge Frau von frühester Kindheit an finanziell völlig unabhängig – und das bedeutete: vor allem unabhängig von den Männern. Den Heiratsantrag eines Herzogs, der ihr mit 16 Jahren gemacht wurde, lehnte sie ab, und auch später hat sie sich an keinen Mann fest gebunden. Stattdessen zog sie lieber mit ihrer Mutter los, gemeinsam erkundeten die beiden die Welt. Das Reisen bot für Frauen eine der wenigen Möglichkeiten, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen und sich den gesellschaftlichen Konventionen der Heimat zu entziehen. Von Italien bis Norwegen und von Spanien bis Russland durchkreuzten Mutter und Tochter den europäischen Kontinent und wurden dank ihrer vornehmen Herkunft häufig an den königlichen Höfen empfangen. Es war die Zeit des beginnenden Massentourismus. Eisenbahnen und Dampfschiffe machten das Reisen nicht nur deutlich schneller, sondern sorgten zudem für mehr Sicherheit und Komfort als noch wenige Jahre zuvor. Gut betuchte europäische Touristen konnten nun auch Orte außerhalb Europas besuchen, die bislang nur einigen Abenteurern vorbehalten waren. Beliebt war vor allem der Nahe Osten mit seiner biblischen Geschichte und den beeindruckenden Ruinenstätten aus der Antike, ebenso Ägypten, wo Thomas Cook 1869 die erste Pauschalreise durchführte.

Die junge Alexine | »Ihre große schöne Gestalt mit den prononcirten Zügen, dem milden Ausdruck, dem freien und feinen Benehmen macht einen imposanten und zugleich gewinnenden Eindruck«, schrieb der Maler Wilhelm Gentz, der sie 1867 in Kairo besuchte.

Alexandrine und Henriette Tinne folgten also ganz dem Trend der Zeit, als sie Syrien, den Libanon und Palästina bereisten und im Dezember 1855 in Alexandria erstmals afrikanischen Boden betraten. Es sollte für beide Frauen eine schicksalhafte Erfahrung werden. In Kairo mietete man sich ein Dampfschiff und fuhr den Nil hinauf, um all jene antiken Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, die bis heute Besucher aus aller Welt nach Ägypten locken. Besonders die 20-jährige Alexandrine war verzückt von der Exotik des Orients. Am 16. Februar 1856 erreichte das Mutter-Tochter-Gespann mitsamt Gefolge Assuan. Dort, wo sich heute der gigantische Nasserstausee befindet, stießen die Reisenden auf den ersten der so genannten Nilkatarakte – felsige Stromschnellen, die den Fluss für größere Schiffe unpassierbar machten. Die Reisegesellschaft musste den Rückweg nach Kairo antreten, doch für Alexandrine war es auch in anderer Hinsicht ein Wendepunkt. Dort im Süden, jenseits der zerklüfteten Barriere, war das »echte«, das unbekannte, fremde Afrika mit all seinen Geheimnissen, die es noch aufzudecken, und Abenteuern, die es zu bestehen galt. Für die junge Holländerin war es ein Sehnsuchtsort. »Von meiner Kindheit an«, schrieb sie später in einem Brief, »als ich Erdkunde lernte, sehnte ich mich immer danach, die Orte zu besuchen, die in der Mitte der Karte von Afrika durch einen großen, leeren Raum angedeutet wurden.«

Tatsächlich waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts weite Teile Zentralafrikas noch völlig unerforscht. Die europäischen Mächte hatten bislang nur wenig politisches Interesse an dem rätselhaften Kontinent gezeigt und wo doch, beschränkten sie sich fast ausschließlich auf die Küstenregionen. So waren es zur Zeit Alexandrine Tinnes noch nicht Kolonialherren, sondern in erster Linie Wissenschaftler, Abenteurer und Entdecker, die in die Terra incognita vordrangen, um die letzten weißen Flecken auf dem Globus zu füllen und diesen unbekannten Teil der Erde zu erforschen. Wilde Tiere, brutale Sklavenhändler, feindselige Eingeborene und tropische Krankheiten machten aus jeder dieser Reisen ein Wagnis mit ungewissem Ausgang. Doch Alexandrine ließ sich von den Gefahren, die sie durchaus kannte, nicht beirren. Gleich im kommenden Winter wollte sie erneut den Nil befahren, viel weiter hinaus als bisher. Ihr Ziel war Khartum, die Hauptstadt des Sudan. Doch diesmal endete ihre Reise am zweiten Nilkatarakt an der ägyptisch-sudanesischen Grenze, der sich nicht überwinden ließ.

Mit Mutter und Tante Richtung Sudan

Als Alexandrine und Henriette nach über zwei Jahren im November 1857 wieder in Den Haag eintrafen, hoffte die 59-jährige Mutter auf einen ruhigen Lebensabend in der Heimat. Sie hatte die Rechnung jedoch ohne ihre von Fernweh und Abenteuerlust beseelte Tochter gemacht. Alexandrine war fest entschlossen, nach Afrika zurückzukehren und diesmal auf dem Nil bis in das kaum erforschte Innere des Kontinents vorzudringen. Henriette, die ihrer »Alexine« keinen Wunsch abschlagen konnte, gab nach. Nach vier Jahren, die hauptsächlich von Reisen innerhalb Europas gefüllt waren, brachen die Frauen erneut auf, diesmal allerdings zu dritt. Mit dabei war nun auch Adriana van Capellen, die jüngere Schwester Henriettes. »Tante Addy« war eine Hofdame der ehemaligen niederländischen Königin Anna Pawlowna gewesen und hatte gerade eine unglückliche Affäre mit Zar Alexander II. von Russland hinter sich. Als Zerstreuung bot Henriette ihrer unverheirateten Schwester an, sie und Alexandrine nach Afrika zu begleiten. Adriana, obwohl keine Abenteurernatur und zudem die luxuriösen Annehmlichkeiten eines Königshofes gewohnt, willigte ein, und so verließen die drei Frauen im Juli 1861 Den Haag Richtung Ägypten. Keine von ihnen sollte ihre Heimat je wiedersehen.

Als die holländische Reisegruppe im April des kommenden Jahres endlich Khartum erreichte, herrschte unter der kleinen europäischen Gemeinde im Ort nervöse Anspannung. Alles wartete auf zwei Briten, John Hanning Speke und James Augustus Grant, die zwei Jahre zuvor von der ostafrikanischen Küste aufgebrochen waren und längst in Khartum hätten eintreffen sollen. Waren sie doch daran gescheitert, ein Rätsel zu lösen, für das bereits Kaiser Nero eine – freilich erfolglose – Expedition ausgesandt hatte? Wie zahlreiche Entdecker vor ihnen waren Speke und Grant angetreten, den Ursprung des Nils zu finden. Bekannt war seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zumindest die Quelle des Blauen Nils in Äthiopien, der sich in Khartum mit dem Weißen Nil zum großen Hauptstrom vereinigt. Wo aber dieses als der eigentliche Quellfluss betrachtete Gewässer seinen Anfang nahm, war noch immer unbekannt. Speke war überzeugt davon, dass es jener große See im Herzen Afrikas war, den er wenige Jahre zuvor als erster Europäer entdeckt und nach der britischen Königin Victoria benannt hatte. Gemeinsam mit Grant wollte er dem Flusslauf vom Victoriasee aus, im heutigen Uganda, bis nach Khartum folgen, um so seine Annahme zu bestätigen. Dass sie falsch war, sollte sich erst Jahrzehnte nach der Rückkehr der Briten zeigen, nachdem der Österreicher Oskar Baumann 1893 die wahre Nilquelle in Burundi entdeckt hatte.

Als die holländischen Damen im Frühjahr 1862 in Khartum eintrafen, hatte seit anderthalb Jahren niemand mehr etwas von Speke und Grant gehört. Kurzerhand wurde daraufhin die Reiseplanung geändert: Statt auf dem Blauen Nil wollten die drei Frauen nun den Weißen Nil hinauffahren, um den verschollenen Briten zu Hilfe zu eilen oder – auch das war möglich – am Ende gar selbst die wahre Quelle zu entdecken. Während einer mehrere Monate dauernden Fahrt gelangten sie mit ihrem Gefolge in die weit verzweigten Sumpfgebiete des Südsudan. Hier trafen sie auch auf Mohammed Kher, den wohl berüchtigtsten und skrupellosesten Sklavenhändler der gesamten Region, der Alexandrine anbot, sie zum Sultan des Sudan zu machen, wenn sie bereit wäre, ihn finanziell zu unterstützen. Es war ein Titel, den der machthungrige Kher, der dringend Geld für sein privates Söldnerheer benötigte, in Wahrheit für sich selbst beanspruchte. Die Damen lehnten höflich ab, fuhren weiter und erreichten schließlich Gondokoro, ein Gebiet etwa 200 Kilometer nördlich der heutigen Grenze zu Uganda.

Gerade einmal 20 Jahre war es her, dass die ersten Europäer hier einen Fuß an Land gesetzt hatten. Doch nicht nur Felsen und Stromschnellen, sondern auch der schlechte Gesundheitszustand aller Passagiere verhinderten nun die Weiterfahrt und veranlassten die Gruppe unter der Führung Alexandrines letztlich zur Rückkehr nach Khartum. Kaum dass man dort im Herbst 1862 angekommen und sich einigermaßen vom Fieber erholt hatte, plante Alexandrine bereits die nächste Expedition. Diesmal sollte es in eine noch weitgehend unerforschte Gegend, einen echten weißen Fleck rund um den Gazellenfluss, den Bahr al-Ghazal, gehen. Tante Adriana, die schnell bereut hatte, den heimischen Ofen verlassen zu haben, hatte genug von Abenteuern und Entbehrungen und zog es vor, in Khartum zu bleiben. »Es ist jammerschade«, klagte sie in einem Brief an ihren Bruder, »dass Alexine keine vernünftigeren Vorlieben hat und dass sie ihr Geld in einer so lächerlichen und sinnlosen Weise weggeworfen hat, und obwohl es doch so viele schöne Länder gibt, die man bereisen kann, hat sie uns an diesen schrecklichen Ort gebracht.«

Theodor von Heuglin | Der deutsche Afrika- und Polarforscher (1824–1876) schloss sich der Reisegruppe Tinnes an, nahm allerdings Anstoß an ihrem langsamen Tempo.

Andere hingegen profitierten von der unstillbaren Abenteuerlust der jungen Frau. In Khartum hatte Alexandrine die Bekanntschaft von zwei deutschen Forschungsreisenden gemacht. Theodor von Heuglin und Hermann Steudner waren auf der Suche nach einer günstigen Mitreisegelegenheit und schlossen sich gerne der Expedition zum Gazellenfluss an. Da die beiden Frauen selbst in den entlegensten Gegenden der Welt auf so wenig Komfort wie möglich verzichten wollten, folgte ihnen ein riesiger Tross aus mehreren hundert Menschen, vor allem einheimische Träger, die Proviant, Zelte, Bücher, eiserne Bettgestelle und vieles mehr mitschleppten. Das machte die zu Wasser und auf dem Landweg sich mühsam vorarbeitende Expedition natürlich sehr langsam – zum Missfallen der Deutschen. Von Heuglin und Steudner entschlossen sich, vorauszuziehen und im Sinn einer Vorhut das Gelände zu sondieren und die nötigen Vorkehrungen für die Ankunft der großen Reisegesellschaft zu treffen. Doch diese ließ Tag um Tag auf sich warten. Das gab von Heuglin und Steudner einerseits Zeit, die Gegend zu erkunden. Andererseits rückte mit dem Sommer die Regenzeit immer näher und der kleine Handelsstützpunkt in den Sümpfen, wo man die Ankömmlinge erwartete, war denkbar ungeeignet, um die kommenden Monate hier zu verbringen. Deshalb waren die Deutschen erleichtert, als am 9. März 1863 endlich die Segel der Tinne-Damen am Horizont auftauchten.

Bisher war alles einigermaßen nach Plan verlaufen, doch bald schon brach eine Kanonade von Unglücken über die Expedition herein, die verdeutlicht, welchen Gefahren sich europäische Afrikareisende des 19. Jahrhunderts aussetzten. Ende März waren die deutschen Forscher nach Westen aufgebrochen, um einen geeigneten Lagerplatz für die herannahende Regenzeit zu suchen. Am 8. April erreichten sie, beide schwer an Malaria erkrankt, die Ortschaft Wau, wo der 30-jährige Steudner zwei Tage später der Krankheit erlag und von seinem Freund begraben wurde. Theodor von Heuglin, der sich leidlich erholt hatte, zog allein weiter nach Westen und fand schließlich einen Platz, der ihm perfekt erschien, um die Regenzeit abzuwarten. Doch die aus hunderten Teilnehmern bestehende und immer wieder von Krankheiten heimgesuchte Reisekolonne kam viel zu langsam vorwärts. Am 11. Juli erkrankte Henriette Tinne an Malaria oder der Ruhr und wachte neun Tage später nicht mehr auf. Alexandrine hatte damit nicht nur ihre Mutter, sondern zugleich ihre beste Freundin, treueste Reisebegleiterin, kluge Ratgeberin, kurz: die wichtigste Bezugsperson in ihrem Leben verloren. Hätte die junge Holländerin die Reise ins Unbekannte fortgesetzt, wäre sie vielleicht durch die Entdeckung der Kongo-Nil-Wasserscheide in die Forschungsgeschichte eingegangen. Doch sie entschied sich in ihrer Trauer dafür, die Expedition abzubrechen. Ein halbes Jahr galt es nun an Ort und Stelle auszuharren, ehe die Regenzeit allmählich abklang und der Tross die Rückreise antreten konnte. In dieser Zeit starben zwei vertraute Zofen aus der Heimat, die Alexandrine bisher überallhin begleitet hatten, und eine unbekannte Anzahl weiterer Teilnehmer. Schließlich erlag auch Tante Adriana kurz nach der Rückkehr Alexandrines in Khartum einer Typhuserkrankung. Entsetzt schrieb die Nichte in einem Brief: »Sie ist tot. Sie sind alle tot!«

Tinne segelt durchs Mittelmeer – und macht sich an ein gewagtes Unterfangen

Stadtansicht von Khartum | Die heutige Hauptstadt des Sudan liegt am Zusammenfluss des Weißen und Blauen Nils. Die Grafik stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – jenen Jahren, in denen auch Alexandrine Tinne mit ihrer Expedition dort auftauchte.

Über das Rote Meer gelangten Alexandrine und Theodor von Heuglin schließlich nach Sues in Ägypten. Hier trennten sich ihre Wege: Während von Heuglin nach viereinhalb Jahren Abwesenheit im Mai 1865 zum ersten Mal wieder deutschen Boden betrat, mietete sich Alexandrine in Kairo ein Haus, fest entschlossen, nie wieder in die Heimat zurückzukehren. Die Reise an den Bahr al-Ghazal war für sie zu einem Albtraum geworden, doch sie machte die junge Abenteurerin, die mit allen Konventionen brach, in Europa schlagartig bekannt. Auch die wissenschaftliche Erschließung des afrikanischen Kontinents brachte die Expedition voran. Theodor von Heuglin verarbeitete die auf der Reise gewonnenen Erkenntnisse zu einem Buch, das einen wichtigen Beitrag zur geo- und ethnografischen, zoologischen und botanischen Erforschung Afrikas geleistet hat. Auch Alexandrine und Henriette Tinne hatten während ihrer Reise eine Sammlung mit unbekannten Pflanzen angelegt, die Alexandrine nach ihrer Rückkehr dem österreichischen Botaniker Theodor Kotschy mit dem Auftrag übergab, ein botanisches Werk darüber zu verfassen. Die Schrift über die »Plantae Tinneanae« erschien 1867 in Wien.

Alexandrine blieb auch nach dem traumatischen Unternehmen in das Innere Afrikas eine rastlose Getriebene, die es nicht lange an einem Ort aushielt. Nachdem ihr Wunsch, sich einen märchenhaften Palast in Kairo zu bauen, an bürokratischen Hürden gescheitert war, mietete sie sich in Alexandria eine Jacht und durchkreuzte anderthalb Jahre lang das Mittelmeer, ehe sie im Herbst 1866 im Hafen von Algier vor Anker ging. Sie hatte jetzt einen neuen Traum: als erste europäische Frau jenen kaum erforschten Ozean aus Sand und Dünen zu durchqueren, der kurz hinter der nordafrikanischen Küste beginnt und sich tausende Kilometer nach Süden erstreckt. Ihr Ziel war es, von Algier aus bis in den Tschad vorzudringen, unterwegs Kontakt mit den Tuareg, den geheimnisvollen Herrschern der Wüste, aufzunehmen und über den Sudan zurück nach Kairo zu gelangen. Doch anhaltende Stammeskämpfe und Unruhen in der algerischen Sahara erstickten den Plan bereits im Keim. Mit dem Schiff erreichte Alexandrine samt Gefolge im Oktober 1868 Tripolis, die Hauptstadt des heutigen Libyen. Die Stadt war nicht nur ein wichtiger Knotenpunkt für den afrikanisch-arabischen Handel auch mit Sklaven, sondern zugleich eine wichtige Ausgangsbasis für europäische Forschungsreisende, die Nordafrika und die Sahara erkunden wollten. Einer davon war der Deutsche Gustav Nachtigal, der im Auftrag des preußischen Königs unterwegs war und später einer der bedeutendsten Afrikaforscher des 19. Jahrhunderts wurde. War das Verhältnis zu Theodor von Heuglin stets ein respektvolles, aber sehr distanziertes gewesen, verband Alexandrine und Nachtigal von Anfang an eine offene und gegenseitige Sympathie. So nahm man sich schließlich vor, die Reise durch die Sahara gemeinsam anzutreten.

Nachtigal war vorausgereist in die Stadt Murzuk im Südwesten Libyens, die der Ausgangspunkt für das Unterfangen werden sollte. Mit 76 Kamelen und einem Gefolge, zu dem Araber, Afrikaner, zwei holländische Matrosen und sogar ein deutscher Gymnasiast gehörten, brach Alexandrine am 30. Januar 1869 in Tripolis auf. Unterwegs wurde der Tross noch größer, da die Holländerin immer wieder Menschen von vorbeiziehenden Sklavenhändlern freikaufte. Es könne sich bei der offenbar sagenhaft reichen Frau, die mit so viel Pracht und Gefolge durch die Wüste reist, nur um die Tochter des Sultans in Konstantinopel handeln, mutmaßten die Einheimischen bald und gaben ihr den Namen »Bent el-Re« – Tochter des Königs.

Nach gut einem Monat kamen Alexandrine und Nachtigal in Murzuk wieder zusammen. Bevor man sich jedoch an die gemeinsame Saharadurchquerung wagte, wollten beide noch jeweils eine eigene Exkursion unternehmen: Nachtigal beabsichtigte, das entlegene Volk der Tibbu aufzusuchen, während es Alexandrine in das Gebiet der Tuareg zog. In einigen Wochen, so glaubten sie, würde man sich in Murzuk wiedertreffen und dann das große Abenteuer in Angriff nehmen.

Ein Machtkampf unter Tuareg-Stämmen?

Zunächst allerdings bedurfte es für Alexandrine einer Schutzzusicherung durch das Stammesoberhaupt der Tuareg, wollte sie auf ihrer Reise zu den Nomaden nicht in den sicheren Tod gehen. Ichnuchen, ein Greis, der schon häufiger mit Europäern zu tun hatte und als vertrauenswürdig galt, sicherte Alexandrine eine Eskorte auf ihrer Reise nach Westen zu. Dieser schloss sich bald nach dem Aufbruch am 21. Juli 1869 eine weitere kleine Gruppe von Tuareg-Angehörigen an, der auch Ichnuchens Neffe, Bu-Bekr, angehörte. Die zusätzlichen Männer, die nicht zur offiziellen Eskorte gehörten, schienen eine bedrohliche Atmosphäre in der Reisegesellschaft zu verbreiten. Es wirkt, als wären Alexandrine und ihre zwei holländischen Begleiter in den Tagen vor ihrem Tod von bösen Vorahnungen erfüllt gewesen. Alexandrines letzter Brief, der an ihren Stiefbruder adressiert war, klang bereits wie ein Abschied. Sie bat ihn darin um Verzeihung für ihr Verhalten in der Vergangenheit und ersuchte ihn, sich um ihr Gefolge zu kümmern, falls ihr etwas passiere. Auch im letzten Tagebucheintrag Kees Oostmans, eines der holländischen Matrosen, drückt sich Misstrauen und Unbehagen gegenüber den Tuareg aus.

Was am Morgen des 1. August 1869 westlich von Murzuk geschah, lässt sich nur vage anhand späterer Zeugenaussagen rekonstruieren. Im Lager soll es zu einem Streit zwischen zwei Kameltreibern gekommen sein, in den bald auch Bu-Bekr und einer der zwei holländischen Matrosen verwickelt wurden. Dieser sei plötzlich von der Lanze des Targi tödlich aufgespießt worden. Der zweite Holländer habe daraufhin versucht, sein Gewehr am Kamelsattel zu erreichen, sei aber von einem Säbelhieb auf den Hinterkopf niedergestreckt worden. Im Lager brach Chaos aus, es wurde geschrien, Menschen rannten wild durcheinander, als Alexandrine aus ihrem Zelt trat und nach dem Anführer der Eskorte rief, um ihn nach der Ursache des Aufruhrs zu befragen. Da tauchte plötzlich ein Targi auf und versetzte ihr mit dem Säbel einen Hieb auf die Schulter, der sie zu Boden riss. Als Alexandrine sich erhob, folgte ein zweiter Schlag auf den Nacken, der jedoch nicht sofort tödlich war. Es folgten Stunden, in denen sie am Boden lag, ohne dass ihr jemand helfen durfte. Bis die Holländerin am Ende wahrscheinlich verblutet war. Unterdessen plünderten die anwesenden Tuareg ihr Gepäck und teilten die Wertsachen mit den Arabern in Alexandrines Gefolge auf. Schließlich wurde sie auch noch vor das Lager geschleift, wo man sie ihrer Kleider bis auf die Unterwäsche beraubte.

Legenden um die »weiße Königin«

Der grausame Tod Alexandrine Tinnes sorgte schnell in ganz Europa für Schlagzeilen. »Mit der schönen Alexandrine ist einer unserer kühnsten afrikanischen Pioniere begraben«, schrieb der Maler Wilhelm Gentz, der Alexandrine in Kairo kennen gelernt hatte, in seinem Nachruf. Tatsächlich war die junge Holländerin nicht nur eine manisch Reisende und mutige Abenteurerin, sondern auch eine Vorkämpferin für das weibliche Recht auf Selbstbestimmung. Gegen die Konventionen sowohl der heimischen als auch der fremden Gesellschaften, in denen sie sich bewegte, hat Alexandrine sich geistige und territoriale Gebiete erschlossen, die bis dahin fast ausschließlich Männern vorbehalten waren. Ihr ungewöhnliches Leben hat ebenso wie ihr früher Tod zur Legendenbildung beigetragen. So erzählte man sich, sie hätte noch jahrzehntelang als Ehefrau und Mutter völlig assimiliert unter den Tuareg gelebt. Andere glaubten, sie herrsche als »weiße Königin« über mehrere afrikanische Stämme. Der Mythos Alexandrine Tinnes drang in Afrika teilweise über Karawanen in Gebiete vor, noch ehe ein Europäer sie betreten hatte.

Trotz eines Prozesses, der im Januar 1870 in Tripolis begann, blieb ihr Tod ungesühnt. Über die Motive der Täter kann bis heute nur spekuliert werden. Möglicherweise spielte ein Machtkampf innerhalb der Tuareg zwischen dem Oberhaupt Ichnuchen und seinem Neffen Bu-Bekr eine entscheidende Rolle. Nach dieser Theorie, die 1888 von dem Afrikaforscher Gottlob Krause in Umlauf gebracht wurde, der als weggelaufener Gymnasiast kurze Zeit in Alexandrines Diensten gestanden hatte, habe Bu-Bekr die Holländerin getötet, um die Autorität des Onkels durch den Mord an seiner Schutzbefohlenen zu untergraben. Doch auch Habgier und religiöser Hass werden wahrscheinlich bei der Tat von Bedeutung gewesen sein. Alexandrine selbst jedenfalls war sich der Gefahr, die das Leben beinhaltete, für das sie sich entschieden hatte, immer bewusst. Den Preis des Abenteuers und der Freiheit war sie bereit zu zahlen. »Ich habe«, schrieb sie einmal, »keine Eile zu sterben – aber wenn es passiert, gut. – Ein kurzes Leben, aber ein fröhliches Leben!«

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