Rückkehr der Luchse: Pirsch im mitteleuropäischen Wald
Oben am Hang schleicht eine große Katze mit einem rotbraunen, gefleckten Fell vorsichtig hinter einem umgestürzten Baum talwärts. Das Tier nutzt jede Deckung, drückt sich auf den Boden, verschwindet hinter dichtem Jungwuchs und taucht in eine kleine Mulde. Ganz langsam nähert es sich dem Reh, das ahnungslos auf einer kleinen Lichtung äst. Keine 20 Meter ist die Katze von der Größe eines Schäferhundes noch von ihrem Opfer entfernt, als plötzlich alles ganz schnell geht. Das gerade noch vorsichtig schleichende Raubtier beschleunigt rasant und schießt in wenigen Sprüngen mit hohem Tempo den Hang hinunter. Mit hoher Wucht prallt die Katze gegen das Reh, beißt gezielt in die Kehle und beendet das Leben des Huftiers abrupt.
Kofferraum-Luchse
Der Luchs ist nach Mitteleuropa zurückgekehrt, nachdem Jäger die Pinselohren in Europa zunächst fast ausgerottet hatten. In der Mitte des 20. Jahrhunderts schlichen die großen Katzen nur noch in Russland, im Baltikum, in Skandinavien, in den Karpaten und auf dem Balkan durch die Wälder. Als sich danach das Image der Luchse weg von der "reißenden Bestie" und hin zu einer faszinierenden Tierart entwickelte, begann das Comeback. Wie andere große Räuber kehrten auch die Pinselohren in verschiedene Regionen zurück: Eher selten auf eigenen Pfoten, oft mit Hilfe genau der Zweibeiner, die sie vorher ausgerottet hatten. Mal ganz offen und manchmal mit großem Tamtam, dann wieder heimlich und bisweilen auch illegal, wenn zum Beispiel vorher in Gehegen lebende Luchse nachts aus dem Kofferraum eines Autos sprangen.
Ab 1970 kehrten die großen Katzen so in den Nationalpark Bayerischer Wald zurück, später kamen sie auch in den angrenzenden Böhmerwald. 1971 folgte die Schweiz, 1977 Österreich und seit 2000 wurden im Harz 24 Luchse freigelassen, berichtet der Wildbiologe Marco Heurich in seinem Buch "Der Luchs" [1]. Ab Ende 2015 sollen im Pfälzerwald weitere 20 Luchse freigelassen werden. Vor solchen Projekten fragen sich Artenschützer, wie gut die Chancen der Heimkehrer sind. Schließlich hat sich in der Zwischenzeit vielerorts das Land geändert, neue Straßen durchschneiden das Land, und nicht jeder Einwohner heißt die Pinselohren mit offenen Armen willkommen. Werden sich die Luchse einleben?
Spuren im Schnee
Zunächst versuchten Wildbiologen, solche Fragen mit den klassischen Methoden ihrer Zunft zu beantworten, später kam zunehmend Hightech ins Spiel. So verfolgten die Forscher zunächst die Spuren der Luchse, diese Methode wird von einer Schneedecke sehr erleichtert. Heutzutage fängt man die großen Katzen in Fallen und lässt sie mit einem Halsbandsender ausgerüstet wieder frei. Fotofallen beobachten an ausgewählten Stellen das Geschehen. Manchmal rekonstruieren Wildbiologen anhand gerissener Tiere, der Spuren am Kadaver selbst und anhand der Umgebung des Tatorts, wie sich die Jagd abgespielt hat. Wie die Teile eines Puzzles fügen sich dann mit ein wenig Glück die einzelnen Ergebnisse zu einem Bild zusammen.
Ähnlich wie viele andere Katzen jagen Luchse meist allein. Auch wenn die Jungen schon mithelfen und das Jagen von ihrer Mutter lernen könnten, dürfen sie meist nicht mit auf Pirsch. Eher selten lauern die Alten in einem Versteck, bis zufällig eine geeignete Beute vorbeikommt. Eine solche Ansitzjagd lohnt sich für einen Luchs meist nicht. Allenfalls, wenn Jäger im Winter das Wild an bestimmten Stellen im Wald füttern und so Huftiere zum Versteck der Katze locken.
Auf der Pirsch
Normalerweise pirscht sich ein Luchs an seine Beute an. Dazu aber braucht er Deckung, die er zum Beispiel in einem naturnahen Wald hinter den Wurzeltellern von umgestürzten Bäumen oder aufschießenden Jungpflanzen findet. Verglichen mit Großkatzen wie Tiger und Löwen starten die Pinselohren in der kleinsten Gewichtsklasse, Männchen wiegen rund 25 und Weibchen etwa 20 Kilogramm. Auf schiere Körperkraft können sich die Tiere daher kaum verlassen. Ihre Stärke liegt eher in ihrer Gewandtheit und in einer hohen Beschleunigung. "Häufig halten sich Luchse im oberen Bereich eines Hangs auf und bekommen so mehr Wucht, wenn sie eine weiter unten stehende Beute angreifen", erklärt Marco Heurich. Der Wildbiologe ist im Nationalpark Bayerischer Wald für die Wildtierforschung zuständig, konzentriert sich dabei oft auf den Luchs und lehrt parallel dazu an der Universität Freiburg.
Greift ein Luchs aus weniger als 20 Meter Entfernung an, führt die Jagd in 70 Prozent aller Fälle zum Erfolg. Wird die Entfernung größer, sinkt die Quote auf 38 Prozent. Auf weite Distanz scheinen Luchse also nicht mit ihrer Beute mithalten zu können. Dagegen können sie auf der Kurzstrecke einen ihrer besten Trümpfe in Form extrem hoher Beschleunigung ausspielen. Merken die sehr intelligenten Katzen dagegen, dass ihre Beute verletzt oder anderweitig geschwächt ist, nehmen sie den Kampf auch auf der Langstrecke auf und verfolgen ihr Opfer schon einmal 200 oder 300 Meter weit. Dabei konzentrieren sich Luchse auf möglichst einfache Beute, um ihr Verletzungsrisiko klein zu halten. Schließlich kann ein Luchs mit einem gebrochenen Lauf kaum noch jagen, während ein Reh auch auf drei Beinen genug zu fressen findet. Ein kleines Risiko aber gibt es immer. So hatten von 285 in Russland untersuchten Luchsen 37 schwere Verletzungen überlebt. Viele davon am Kopf, besonders häufig diagnostizierten die Forscher Jochbeinbrüche.
Konkurrenz durch Schmeißfliegen
Seine Beute schleppt der Luchs möglichst in Deckung, um in Ruhe fressen zu können. Zunächst machen sich die Katzen über die größeren Fleischpartien der Beine und der Brust her, danach kommen kleinere Teile wie die Rippen, später auch noch Herz und Leber. Ist die Raubkatze satt, deckt sie die Reste der Beute mit Ästen, Laub und Gras ab, um Konkurrenten fern zu halten. Dazu zählen nicht nur Füchse, Wildschweine und Krähen, sondern vor allem auch Schmeißfliegen. Die sind zwar klein, aber es gibt genug von ihnen, um die beste Beute rasch zu dezimieren.
Am nächsten Tag kommt der erfolgreiche Luchs oft zur Beute zurück, um seine nächste Tagesration mit 1,1 bis 2,7 Kilogramm Fleisch zu fressen. Im Bialowieza-Nationalpark weit im Osten Polens reicht ein Hase daher gut einen, ein Reh sogar drei Tage. Nach erfolgreicher Jagd laufen Luchse oft ein paar Kilometer gradlinig in eine andere Gegend, in der die Beute weniger argwöhnisch und die Jagdchancen daher deutlich höher sind. Um Energie zu sparen, sind die Pinselohren dabei gern auf Forstwegen, Wildwechseln oder Wanderwegen unterwegs. Die Beutearten sind recht unterschiedlich. In den Nadelwäldern Russlands erwischen sie zum Beispiel häufig Schneehasen, in Mitteleuropa stehen eher Huftiere auf dem Speiseplan, die mehr als 90 Prozent der Beute ausmachen.
Rehe und Gämsen
Untersucht Marco Heurich im Bayerischen Wald die Risse von Luchsen genauer, die via Halsbandsender ihre Position verraten, findet er in 79 Prozent aller Fälle erbeutete Rehe und in 17 Prozent Rothirsche. Der kleine Rest sind Füchse und kleinere Tiere. In den Alpen erwischen die Luchse häufig auch Gämsen, im Norden Skandinaviens stehen Rentiere als Beute hoch im Kurs. Von den relativ leichten Rehen erwischt ein ausgewachsener Luchs auch gesunde und starke Tiere, während seine Artgenossen in den Bergen von den im Allgemeinen kräftigeren Gämsen eher junge, alte oder geschwächte Tiere jagen. Auch beim Rotwild überwältigen die Luchse nur die Youngster oder kranke und verletzte Tiere. Im Winter aber sieht die Situation oft anders aus. Liegt eine hohe Schneedecke, sinken die Rothirsche tief ein und werden so unbeweglich. Der Luchs dagegen bleibt auf seinen breiten Pfoten wie auf Schneeschuhen an der Oberfläche. Jetzt kann er das gehandicapte Rotwild viel einfacher als im Sommer erbeuten.
Im Osten Polens untersucht Wlodzimierz Jedrzejewski vom Institut für Säugetierforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften im Bialowieza-Wald den Speiseplan der Luchse. Dort schlagen in ihren rund 100 Quadratkilometer großen Revieren vor allem jene Weibchen kräftig zu, die Jungen führen: Fast jeden zweiten Tag erbeuten sie ein Reh. Marco Heurich hat den Appetit der Katzen im Bayerischen Wald genauer untersucht. Ein Weibchen mit zwei Jungen reißt dort jedes Jahr im Durchschnitt 75 Rehe und zwei Hirsche. Ein Männchen wiederum erbeutet im Jahr durchschnittlich 45 Rehe und elf Hirsche, um seinen kräftigeren Körper fit zu halten. In der Schweiz sind die Verhältnisse ähnlich, ergänzt Urs Breitenmoser von der Universität Bern.
Landschaft der Angst
Der Appetit der Pinselohren hat durchaus Einfluss auf die Zahl der Huftiere: Als die Luchse um 1900 und in den 1960er Jahren im Bialowieza-Nationalpark Polens gleich zweimal ausgerottet wurden, verdoppelten sich jeweils die Bestände und auf jedem Quadratkilometer ästen vier Rehe. Sobald die Katzen aber aus den Gebieten weiter im Osten zurückkamen, stellten sich bald wieder die alten Verhältnisse mit zwei Rehen auf derselben Fläche ein.
Die Zahl der in den Bäuchen der Luchse verschwundenen Huftiere kann allein diesen Rückgang bei Weitem nicht erklären. Ein anderer, wichtiger Faktor kommt dazu, den Wildbiologen als "Landschaft der Angst" bezeichnen: Merken die Huftiere, dass Luchse in der Gegend sind, ändern sie ihr Verhalten: Rehe sind dann viel vorsichtiger und verstecken sich besser. Dafür brauchen sie auf der einen Seite mehr Energie und haben andererseits weniger Zeit zum Fressen. Obendrein zehrt der Stress nicht nur an den Nerven und kostet weitere Energie, sondern senkt auch die Zahl der Nachkommen. Die Landschaft der Angst dezimiert die Rehpopulation also zusätzlich.
Luchse dezimieren aber nicht nur die Zahlen ihrer Beutetiere, sondern können sie ganz im Gegenteil auch erhöhen. In den letzten Gebieten, in denen noch Auerhühner leben, fürchteten Artenschützer ursprünglich um das Überleben dieser seltenen Hühnervögel, die durchaus im Maul eines Luchses landen können. Die Pinselohren aber konzentrieren sich lieber auf Füchse und räumen unter den roten Räubern kräftig auf, zeigt eine Studie in Finnland. Sinken die Zahlen der Füchse, kommt das wiederum den Auerhühnern zugute, die eine beliebte Beute der roten Räuber sind. Luchse verbessern demnach die Situation der seltenen Raufußhühner.
Die Beute verfolgt ihren Jäger
Mit der Zeit beginnt sich die Beute gegen ihren Jäger zu wehren. Entdecken Rehe einen Luchs, laufen sie nicht etwa heimlich davon, sondern warnen ihre Artgenossen mit einem heiseren Bellen. Oft folgen sie dem Raubtier sogar bellend einige Zeit. So können sie andere Tiere warnen und gehen dabei nur ein geringes Risiko ein, weil sie ja schneller sind.
Schwieriger ist die Situation auf Wiesen, auf denen Rehe zwar sehr energiereiches Futter finden, sie aber andererseits auch von einem sich anschleichenden Luchs leicht überrascht werden können. Also schlingen Rehe und Rotwild dort rasch große Mengen Grünzeug runter und laufen danach flugs in ein Versteck im Wald. Dort würgen sie das Futter wieder aus, um es noch einmal in Ruhe durchzukauen. Das klingt zwar wenig appetitlich, erhöht aber die Überlebenschancen enorm.
Zusätzlich schließen sich die Huftiere zu größeren Gruppen zusammen. Das hat gleich mehrere Vorteile: Viele Augen sehen bekanntlich mehr als wenige, und die Chancen, ungesehen anzuschleichen, verringern sich für den Luchs deutlich. Außerdem kann man sich im Team die Aufgaben natürlich teilen, so dass am Ende jedes einzelne Tier mehr Zeit zum Fressen hat. Die Luchse wiederum unterlaufen die Gegenmaßnahmen der Rehe mit einer Art Rotationsprinzip: Nach einem Riss laufen die Katzen in ein anderes Gebiet, in dem die Rehe noch nicht vorgewarnt sind, und nutzen dort den Überraschungseffekt. Trotzdem aber reagieren auch die Luchse auf Veränderungen bei den Rehen: Nimmt deren Bestand ab, müssen die Luchse weiter umherstreifen, die Weibchen ziehen wesentlich weniger Junge auf, und der Luchsbestand stagniert oder sinkt.
Großes Revier
Dieses häufige Rotieren klappt nur, wenn die Raubtiere dafür Platz haben. Genau deshalb braucht ein Luchsmännchen im Norden Norwegens, wo die Beute recht dünn gesät ist, auch ein riesiges Streifgebiet von durchschnittlich 1515 Quadratkilometern. Das ist weit mehr als die Hälfte der Fläche des Saarlandes. Gibt es dagegen wie in den Schweizer Nordwestalpen reichlich Gämsen und Rehe, genügt einem männlichen Pinselohr mit 159 Quadratkilometern bereits die Fläche eines kleineren Kantons der Schweiz wie Appenzell-Innerrhoden, stellt der Berner Luchsspezialist Urs Breitenmoser fest.
Gute Deckung
Um Menschen machen Luchse allerdings wenn irgend möglich einen großen Bogen. Als Forscher in Norwegen das Leben von Luchsen verfolgten, denen sie ein Halsband mit Sender angelegt hatten, ließen die Katzen Menschen im Durchschnitt bis auf 50 Meter an ihr Tageslager heran, bevor sie davonschlichen. Dabei sind die Unterschiede zwischen einzelnen Tieren allerdings enorm. Manche der Katzen machen sich schon viel früher aus dem Staub, andere reagieren erst, wenn Menschen näher als acht Meter kommen.
Begegnungen mit den Zweibeinern vermeiden Luchse auch dadurch, dass sie tagsüber häufig ruhen und vor allem in der Dämmerung und gelegentlich nachts aktiv sind. Diese Lebensweise im Dunkeln ist aber keineswegs streng festgelegt, wie Heurich und seine Kollegen nachweisen konnten: Die Forscher hatten das Leben von 38 Luchsen zwischen Mitteleuropa und dem Norden Skandinaviens mit Hilfe von GPS-Sendern verfolgt. Die Daten zeigen, dass die Luchse ihren Tagesablauf weniger nach den Lichtverhältnissen und mehr nach den Gewohnheiten ihrer wichtigsten Beute gestalten [2]. Bedeutsam sind auch die Vorlieben jedes einzelnen Luchses: Genau wie es bei uns Menschen Frühaufsteher und Nachtschwärmer gibt, unterschieden sich auch die Aktivitätsmuster verschiedener Tiere deutlich. Wenn der Räuber aber zu sehr verschiedenen Zeiten auftauchen kann, wird es für seine Beute schwerer, erfolgreich auszuweichen.
Winterjagd
Nicht nur für seine Beute ist ein Luchs schwer zu berechenbar. Auch Wildbiologen überraschen die Katzen immer wieder. So wird das Rotwild im Nationalpark Bayerischer Wald im Winter mit Futter in große Gatter gelockt. Dort leben dann viele Hirsche auf engem Raum und könnten so zu einer leichten Beute für die Pinselohren werden, befürchteten die Forscher. Tatsächlich aber tauchen sie kaum einmal im Gatter auf. "Vielleicht haben die Luchse ja schlechte Chancen, weil so große Gruppen von Rothirschen einen anschleichenden Räuber auch leichter entdecken", überlegt Marco Heurich. Obendrein trampeln die vielen Hirsche den lockeren Schnee rasch zusammen, Luchse aber haben nur dann eine gute Chance, wenn sich das Rotwild im tiefen Schnee schlecht bewegen kann.
Im Spätwinter denken die Luchse neben der Jagd noch an eine ganz andere Aktivität, die Paarung. Jetzt ist die einzige Zeit des Jahres, in der die werdende Familie zusammen ist. Wenn das Weibchen Anfang Juni dann Zwillinge oder Drillinge wirft, ist deren Vater längst wieder auf eigene Faust unterwegs. Was der Familie durchaus zugutekommt, schließlich verteidigt er das Revier gegen fremde Männchen, die sonst die Jungen töten würden.
Bei der Geburt wiegt ein Miniluchs gerade einmal 250 bis 300 Gramm. Lange kann die Mutter diese Nesthocker nicht alleine lassen, daher jagt sie nur auf vielleicht fünf Prozent ihres Streifgebietes. Dort werden die Rehe bald viel misstrauischer und die Jagd entsprechend schwieriger. Erst ab August entspannt sich die Situation – auch wenn das Weibchen ihren Nachwuchs viereinhalb bis sechs Monate säugt und beschäftigt halten muss. Denn wie alle jungen Katzen spielen auch Luchsjunge viel und lernen dabei fürs Leben. Erst wenn die nächste Paarung ansteht, beginnt der Nachwuchs dann eigene Wege zu gehen – und in eine ungewisse Zukunft zu schleichen.
Gefährliche Zweibeiner
Seine Chancen sind nämlich alles andere als gut, zeigt Urs Breitenmoser in der Schweiz: Von 46 dort geborenen Luchsen lebten nach einem Jahr gerade noch 20 Tiere, nach zwei Jahren war mit elf Pinselohren nicht einmal mehr ein Viertel des gesamten Jahrgangs übrig. 27 Prozent der Jungluchse starben im Straßenverkehr, zwölf Prozent wurden illegal, weitere sechs Prozent legal getötet, und acht Prozent fielen Krankheiten zum Opfer. Die Todesursache der anderen Tiere konnten die Forscher nie klären.
Bei den erwachsenen Luchsen sah es in Schweiz ähnlich wie bei den Jungtieren aus: Eigentlich sind die Katzen dort streng geschützt und dürfen nur in genau begründeten Ausnahmefällen erlegt werden. Legale Abschüsse trugen dann auch nur mit neun Prozent zu den Todesursachen bei, illegale Tötungen kosteten dagegen 21 Prozent der Luchse das Leben. Weitere 26 Prozent starben bei Verkehrsunfällen, und wieder liegt die Dunkelziffer hoch.
Forscher aus Skandinavien melden ähnliche Zahlen, obwohl Luchse dort ganz legal gejagt werden dürfen. Als die Wissenschaftler 245 Tiere mit Sendern ausrüsteten und ihr weiteres Schicksal beobachteten, endete das Luchsleben in gerade einmal acht Prozent aller Fälle aus natürlichen Gründen. Obwohl die Jagd erlaubt ist, sterben mit 38 Prozent mehr Luchse durch illegale als durch legale Tötungen, die mit 35 Prozent ein wenig niedriger liegen.
Konkurrenzneid
Die Gründe für diese illegalen Luchstode sind den Forschern klar: Wie Bauern ihre Nutztiere betrachten auch Jäger ihre Rehe und Gämse als Eigentum. Die aber sind die wichtigste Beute des Luchses – und mancher Jäger sieht den Luchs so als unerwünschten Konkurrenten. Mit verschiedenen Maßnahmen versuchen Naturschützer, diese Entwicklung zu entschärfen. Einmal vermitteln sie in Kursen und Gesprächsrunden das neueste Wissen über den Luchs und versuchen so die Akzeptanz zu erhöhen. Ähnlich wie bei der Wiederansiedlung der Luchse im Harz sollten die Jäger bei solchen Projekten von Anfang an dabei sein. Und sie fordern, Gesetzesübertretungen besser zu verfolgen und damit die Situation zu entschärfen.
Im Bayerischen Wald scheint die Entwicklung in eine ähnliche Richtung wie in der Schweiz zu laufen. Dort wurden bereits drei Luchse illegal geschossen und vergiftet, im benachbarten Böhmerwald waren es seit den 1980er Jahren sogar 70. Die Luchse wiederum reagieren längst auf diese Situation: Außerhalb der Schutzgebiete streifen sie kaum noch umher, die allermeiste Zeit bleiben sie im Nationalpark, wo sie vor Kugeln und Gift relativ sicher sind.
Die Hintergründe dieser Abschüsse kennen die Forscher längst: Die Förster begrüßen den Luchs meist, weil er die Rehe dezimiert, die ihrerseits den Jungwald kahl fressen. Bauern dagegen fürchten um ihre Herden. In vielen Ländern fehlten ja seit mehr als 100 Jahren die großen Raubtiere, und die Herden laufen zum Beispiel in Norwegen ohne Schutz durch das Land. Kommen Wölfe, Bären und Luchse zurück, müssen die Nutztiere mit einigem Mehraufwand wieder geschützt werden – was Ressentiments gegenüber den Rückkehrern schürt. In der Schweiz werden inzwischen jedes Jahr zwischen 100 und 200 Schafe und Ziegen von Luchsen getötet. Verringern lassen sich solche Zahlen, wenn die Tiere nachts eingepfercht und von Herdenschutzhunden verteidigt werden. Werden trotzdem Tiere gerissen, wird der Schaden dem Besitzer natürlich ersetzt.
Die Zukunft der Pinselohren
Als Heurich mit Kollegen um Jörg Müller von der Technischen Universität München im Bayerischen Wald zehn Luchse mit Sendern ausrüsteten, rissen diese Tiere kein einziges Nutztier. Überhaupt werden dort kaum Schäden gemeldet, jedes Jahr sterben vielleicht vier oder fünf Schafe und Ziegen oder auch in Gattern gehaltenes Damwild. Allen Widerständen bei einigen Jägern und Tierhaltern zum Trotz aber ist der Luchs in Europa wieder ein fester Bestandteil der Natur. Außerhalb Russlands, der Ukraine und Weißrusslands leben heute wieder 9000 Pinselohren auf dem Kontinent. Davon schleichen allein durch Skandinavien rund 3500 Tiere, weitere 3000 leben in den Karpaten, ungefähr die Hälfte davon in Rumänien. Im österreichischen Mühlviertel, im Bayerischen Wald und im angrenzenden tschechischen Šumava, sowie in den nördlich angrenzenden Gebieten gab es bereits 1995 wieder rund 100 Luchse. Dieser Bestand ist auf inzwischen vielleicht 70 Tiere gesunken, obwohl Platz für deutlich mehr Tiere wäre: Vermutlich werden zu viele Luchse illegal getötet [3].
Vor einem ähnlichen Problem steht auch die Schweiz, wo mehr als 100 Luchse leben. Besser ist die Situation dagegen im Harz. Dort wurden seit 2000 gemeinsam mit der Jägerschaft insgesamt 24 Luchse ausgesetzt. Dort wächst nicht nur die Population, sondern breitet sich auch in andere Regionen aus. Insgesamt sieht es also gar nicht so schlecht für die Pinselohren aus. So gibt es in Deutschland Platz für 370 Luchse. Nur verteilen sich diese potenziellen Luchsregionen auf verschiedene Gebiete, die untereinander vernetzt werden müssen. Ein solches Netz könnte zum Beispiel die Alpen als Zentrum haben. Von dort gäbe es dann Verbindungen in das Schweizer und Französische Jura, in den Schwarzwald, in den Bayerischen und den Böhmerwald und in Richtung Balkan. Bis der Luchs wieder aus eigener Kraft in Mitteleuropa zurechtkommt, liegt also noch einige Arbeit vor Forschern und Naturschützern.
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