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Plinius der Ältere: Er kam, sah und schrieb und schrieb und schrieb

Vor 2000 Jahren wurde Plinius der Ältere geboren. Der Römer schuf ein Mammutwerk, eine antike Wikipedia. Und manche Passagen in seiner Naturkunde sind erstaunlich aktuell.
Statue vor dem Justizpalast in Rom
Die neuzeitliche Statue vor dem Justizpalast in Rom zeigt einen römischen Gelehrten und Juristen, Publius Salvius Iulianus, aus dem 2. Jahrhundert. Von Plinius dem Älteren ist kein zeitgenössisches Porträt überliefert.

Von seinem Leben sind kaum Einzelheiten bekannt, von seinem Sterben umso mehr. Gaius Plinius Secundus, besser bekannt als Plinius der Ältere, fiel dem verheerenden Vesuvausbruch im Jahr 79 n. Chr. zum Opfer. Der Vulkan begrub damals die Städte Pompeji und Herculaneum sowie Plinius' Aufenthaltsort Stabiae unter Lavabrocken und Asche. Tausende ließen bei dieser Katastrophe ihr Leben, doch nur vom Ende des Offiziers, Verwaltungsbeamten und Gelehrten existiert ein schriftlicher Bericht. Über ein Vierteljahrhundert nach dem Naturereignis erzählte sein Neffe und Adoptivsohn Plinius der Jüngere dem Historiker Tacitus in zwei Briefen vom tragisch-heroischen Tod seines Onkels.

Tacitus (58–120) hatte ausdrücklich um den Bericht gebeten, den er in seine »Historien« aufzunehmen beabsichtigte. Er plante eine Darstellung der jüngsten Geschichte Roms. Und nur zu gerne schilderte der jüngere Plinius (61/62–113/115), dessen stilvolle Briefe bis heute gerühmt werden, seinem Freund, »was ich selbst miterlebt und was ich gleich damals gehört habe, als die Erinnerungen noch ganz frisch waren«. Mit diesem Satz wollte der Anwalt, Senator und Literat offenbar deutlich machen, dass es sich bei seinem Schreiben um einen Augenzeugenbericht handelt und dass er sich schon damals Notizen gemacht habe, auf die er nun zurückgreifen konnte.

Seinen Onkel beschrieb er in den Briefen als einen in jeder Hinsicht den römischen Idealen entsprechenden Mann. Mutig, weise, wissbegierig und selbstbeherrscht. Noch dazu ein belesener Römer, der die »Naturalis historia« verfasst hatte.

Das größte Lexikon der Antike

Das Mammutwerk gilt heute als eine der ältesten und umfassendsten Enzyklopädien der Welt. Forscherinnen und Forscher stückelten daraus und aus weiteren Überlieferungen das Leben jenes Römers zusammen, eines wahrhaften Workaholics, dessen Eingebungen zum Teil nicht an Aktualität eingebüßt haben.

In seinen Briefen an Tacitus schilderte der Neffe, wie und warum Plinius der Ältere sein Leben ließ. Als der Onkel um die Mittagszeit jenes schicksalsträchtigen Tages im Spätsommer oder Herbst über dem Vesuv eine »Wolke von ungewöhnlicher Form und Größe« bemerkt habe, hätte er beschlossen, dem Phänomen auf den Grund zu gehen. (Bei Plinius dem Jüngeren ist als Datum der Katastrophe der 24. August überliefert, dabei könnte es sich aber um den Fehler eines mittelalterlichen Kopisten handeln; archäologische Funde legen ein späteres Datum im Herbst 79 nahe.)

Der ältere Plinius, der zum Zeitpunkt des Vulkanausbruchs als Kommandant der römischen Flotte im Golf von Neapel in deren Heimathafen Misenum residierte, habe umgehend Befehl gegeben, ein Schiff klarzumachen, um das Naturereignis aus der Nähe zu untersuchen. Er wollte den Ursprung der rätselhaften Vorgänge auf dem Vulkanberg ausfindig machen. Noch bevor die Leinen los waren, habe ihn jedoch der briefliche Hilferuf einer gewissen Rectina erreicht, deren Anwesen am Fuß des Vesuvs lag und die um Rettung flehte.

»Darauf änderte er seinen Plan, und was er mit wissenschaftlichem Interesse begonnen hatte, führt er nun mit größtem Mut aus«, erzählt der Neffe weiter. Doch selbst in der größten Gefahr, so der jüngere Plinius, habe sein Onkel Wissensdurst und Kaltblütigkeit an den Tag gelegt. »Er eilte dorthin, wo andere fliehen, die Steuerruder geradeaus mitten in die Gefahr, so völlig frei von Furcht, dass er alle Bewegungen jenes Unheils, alle Erscheinungen, wie er sie mit den Augen erfasste, diktierte und aufzeichnen ließ.«

Ein Römer, der das Wissen der Antike zusammentrug

Wissensdurstig war der ältere Plinius zweifellos – und von einer ungeheuren literarischen Produktivität. Seine Werke, von denen Fachleute sieben zumindest dem Titel nach kennen, umfassten mehr als 100 Buchrollen. Sie sind heute fast ausnahmslos verschollen. Vermutlich wären sie völlig unbekannt, gäbe es nicht die Briefe des Neffen. In einem Schreiben an einen gewissen Baebius Macer findet sich ein Gesamtverzeichnis der Schriften von Plinius dem Älteren, darunter rhetorische und grammatikalische Studien sowie historische Werke – allesamt gingen sie in der Spätantike verloren. Doch sein Hauptwerk, ein gewaltiges Unterfangen, an dem er rund drei Jahrzehnte lang gearbeitet und das er erst kurz vor seinem Tod weitgehend fertig gestellt hatte, blieb erhalten. Es ist bis heute eine Fundgrube antiken Wissens.

»Die ›Naturalis historia‹ entfaltete sowohl in der enzyklopädischen Literatur als auch in den Fachwissenschaften eine kontinuierliche und weit reichende Wirkung«, sagt Anja Wolkenhauer, Professorin für Lateinische Philologie an der Universität Tübingen. »Sie ist in mehr als 200 mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften überliefert und gehört zu den meistpublizierten Werken des frühen Buchdrucks.« Plinius' Werk war zudem das literarische Modell für frühneuzeitliche Naturkunde. Etwa für Abhandlungen über Nord- und Südamerika, die oft denselben Titel trugen – »Naturalis historia«.

In seiner »Naturkunde« trug der gelehrte Offizier das kosmologische, geografische, zoologische, botanische, pharmazeutische und mineralogische Wissen seiner Zeit zusammen. In den Worten des Neffen schuf er ein »weitläufiges und gelehrtes Werk, so mannigfaltig wie die Natur selbst«. Tatsächlich ist die »Naturalis historia« allein schon durch ihren Detailreichtum und die Vielfalt der behandelten Themen einzigartig. »Zudem ist sie mit 37 Büchern das umfangreichste vollständig überlieferte Werk der lateinischen Antike sowie die älteste erhaltene Enzyklopädie, die wir kennen«, erklärt Wolkenhauer.

Ein Gelehrter und Militär aus wohlhabender Familie

Ihr Autor wurde vor 2000 Jahren, vermutlich Ende 23 oder Anfang 24, in Novum Comum am Lacus Larius, dem heutigen Como am Comer See, in eine Familie aus dem Ritterstand geboren. Aus seinem Leben sind nur wenige Einzelheiten bekannt. Doch dank mancher Hinweise in der »Naturkunde« selbst, der Informationen in den Briefen seines Neffen und der wenigen überlieferten Angaben im Werk »Über berühmte Männer« des Historikers Sueton (um 70–nach 122) konnten Forscherinnen und Forscher die Eckdaten bestimmen.

Je länger die Herrschaft Neros dauerte und je despotischer sie wurde, desto unverfänglicher waren die Themen von Plinius' Werken

Plinius' Familie war wohlhabend, sie besaß unter anderem mehrere Villen und Landgüter rund um den See. Folglich genoss der Junge eine standesgemäße Ausbildung und wurde schon früh nach Rom geschickt, wo er bald Zugang zu den ersten Familien der Hauptstadt fand. Dort studierte er Recht und Philosophie und schlug schließlich – wie es für einen jungen Mann seines Standes üblich war – die militärische Laufbahn ein.

Ab dem Jahr 46 diente er als Kavallerieoffizier in Ober- und Untergermanien, wo er unter anderem an einem Feldzug gegen den zwischen Ems und Elbe siedelnden Stamm der Chauken teilnahm. Bei dieser Gelegenheit besuchte er wohl auch die Halligen an der Nordseeküste. Die Marschinseln beschrieb er Jahre später – als erster Autor überhaupt – in seiner »Naturkunde«. Es gibt archäologische Hinweise darauf, dass er zumindest eine Zeit lang in Xanten stationiert war. Wahrscheinlich im Jahr 47 schrieb er, offenkundig aus eigener Erfahrung als Kavallerist schöpfend, sein erstes Buch über das »Speerwerfen zu Pferde«. Einige Jahre darauf veröffentlichte er die Biografie seines kurz zuvor verstorbenen Vorgesetzten und väterlichen Freundes Publius Pomponius Secundus, eines Feldherrn und Tragödiendichters.

Mitte der 50er Jahre nach Rom zurückgekehrt, lebte Plinius während der Regierungszeit Neros (54–68) zurückgezogen und vermutlich, ohne ein öffentliches Amt zu bekleiden. Möglicherweise arbeitete er als Anwalt, vor allem aber schrieb er. Je länger die Herrschaft Neros dauerte und je despotischer sie wurde, desto unverfänglicher waren die Themen seiner Werke. Auf eine Geschichte der Kriege zwischen Römern und Germanen in 20 Büchern folgte ein Werk zu Fragen der Rhetorik in drei Bänden sowie acht Bücher über »Sprachprobleme«. Es waren Schriften über den richtigen Sprachgebrauch und die korrekte Form bestimmter Wörter. Diese Werke verfasste der Oheim, so der Neffe in dem Brief an Baebius Macer, »in den letzten Jahren unter Nero, als die Knechtschaft jedes etwas freiere und aufrechtere Studienthema gefährlich machte«.

»Plinius hat einen irritierend breiten Naturbegriff«Anja Wolkenhauer, Latinistin, Universität Tübingen

Erst unter Kaiser Vespasian, der von 69 bis 79 regierte, nahm Plinius seine Karriere im Staatsdienst wieder auf. Laut Sueton bekleidete er in diesen Jahren »die bedeutendsten Verwaltungsstellen in ununterbrochener Folge mit größter Korrektheit«. Offenbar hatte er mehrere Ämter in diversen Provinzen inne. Womöglich diente er in Syrien und Ägypten, gesichert ist jedoch nur seine Tätigkeit als Finanzprokurator in der Provinz Hispania Tarraconensis im Jahr 73. Auch davon berichtet der jüngere Plinius. Der Legat Larcius Licinus habe seinem Onkel »während seiner Verwaltungstätigkeit in Spanien« für die Materialsammlung zur damals noch unvollständigen »Naturalis historia« sogar die gewaltige Summe von 400 000 Sesterzen geboten.

Wissenschaftlicher Workaholic

Mitte der 70er Jahre wieder in die Hauptstadt des Imperiums zurückbeordert, übernahm er möglicherweise das Kommando über die »vigiles«, die Stadtwache und Feuerwehr Roms. Zu jener Zeit hatte er auch direkten Zugang zum Herrscher, mit dessen Sohn, Mitregenten und Nachfolger Titus er sich im Jüdischen Krieg von 69/70 ein Zelt geteilt hatte. »Vor Tagesanbruch ging er zu Kaiser Vespasian, denn auch er war ein Nachtarbeiter; von da zu dem ihm aufgetragenen Dienst«, berichtet sein Adoptivsohn. »Nach Hause zurückgekehrt, widmete er, was an Zeit übrig blieb, den Studien.«

Diesen sei der Onkel ohnehin bei jeder Gelegenheit nachgegangen. Er begann damit »noch tief in der Nacht«, ließ sich bei Tisch vorlesen, beim Frottieren nach dem Bade und während des Sonnenbads oder unterwegs in einer Sänfte. »Ich muss noch daran denken, wie er mich zur Rede stellte, weshalb ich zu Fuß ginge«, erzählt der jüngere Plinius. »›Du hättest diese Stunden nicht zu verlieren brauchen‹, sagte er; er hielt nämlich jeden Augenblick für verloren, der nicht auf Studien verwandt wurde.«

Der enorme Arbeitseifer und das rigide Zeitmanagement des Gelehrten ermöglichten es ihm, die »Naturkunde« parallel zu seinem Dienst an Kaiser und Imperium zu vollenden. »20 000 merkwürdige Gegenstände« – gemeint sind bemerkenswerte Dinge und Themen, die Interesse verdienen – habe er »gesammelt durch das Lesen von etwa 2000 Buchrollen (…) von 100 der besten Schriftsteller«, schrieb der Autor in seiner Widmung an den zukünftigen Kaiser Titus. Tatsächlich waren es weit mehr Gegenstände und Autoren, die Plinius in der »Naturkunde« behandelte, die alles beinhalten sollte, »was die Griechen Enzyklopädie nennen«. Also alles, was ein gebildeter junger Mann idealerweise aus den Wissenschaften und Künsten wissen sollte. Und zwar wirklich alles! Plinius' Darstellung des gesamten naturkundlichen Wissens der Antike ist einzigartig und umfassend.

Gaius Plinius Secundus | Von Plinius dem Älteren ist aus der Antike kein Porträt überliefert. Dieses Bild des römischen Gelehrten findet sich in dem neuzeitlichen Buch »Les vrais pourtraits et vies des hommes illustres« aus dem Jahr 1584.

Seine Naturbeschreibung beginnt mit dem Großen und Ganzen, dem Kosmos, und führt über drei Dutzend Bücher zu den kleinsten Gaben der Natur, den Perlen und Mineralen. Das erste der insgesamt 37 Bücher beinhaltet ein nicht nur für damalige Verhältnisse außergewöhnliches Inhalts- und Quellenverzeichnis. Damit wollte er den zitierten Autoren »wissenschaftliche Zinsen« zahlen, sie gebührend erwähnt haben. Dazwischen finden sich Beschreibungen der Menschen und Völker, Angaben zur Geografie der Welt und die Eigenheiten von Gewässern. Wetterkundliche Erkenntnisse fanden ebenso Eingang wie Angaben zu Pflanzen und ihrer Heilkraft, von Ackerbau ist die Rede und von wundersamen Menschen am Rande der bekannten Welt, von Staaten bildenden Elefanten und der sozialen Kompetenz der Delfine. Alle bekannten Erscheinungsformen der Natur finden Beachtung.

Ein Loblied auf die Natur

»Plinius hat einen irritierend breiten Naturbegriff«, sagt Wolkenhauer. »Ob Künste, Architektur oder Technik, alles, was der Mensch aus den Gaben der Natur macht, alle seine Hervorbringungen sind für ihn Teil der Natur.« Selbst Kulturtechniken galten für ihn als natürlich. So findet sich etwa auch eine Geschichte der römischen Zeitmessung – schließlich ist die Zeit für Plinius eines der größten Geschenke der Natur. »Es ist der umfangreichste antike Text zum Thema«, so die Philologin. »Dank ihm ist die Entwicklung verschiedener Verfahren der Zeitmessung im antiken Mittelmeerraum nachvollziehbar.«

»Wir vergiften auch die Flüsse und die Elemente der Natur, und selbst das, wovon wir leben, richten wir zu Grunde«Plinius der Ältere

Vor allem aber ist die »Naturalis historia« ein Loblied auf die Natur und zugleich eine tiefe Verbeugung vor ihr. Für ihren von der stoischen Philosophie und ihrem Pantheismus geprägten Autor ist sie eine Gottheit, ja die höchste Göttin. Neben ihr verblasst die übrige Götterwelt, sind Jupiter, Hera und wie sie alle heißen, nur Nomenklatur, bloß Namen auf einer Liste.

»Ich vermute, dass das auch für seine etwas gebildeteren Zeitgenossen gilt«, sagt Anja Wolkenhauer. »Die personifizierten Götter waren etwas für Literaten und Kinder.« Die Natur aber sei die »Mutter aller Dinge«, und alles, was sie hervorbringt, ist grundsätzlich schön und gut, weil zum Wohl des Menschen eingerichtet. Zuweilen erscheint diese gute Mutter, wie Plinius festhält, zwar als Stiefmutter der Menschen, wirft sie doch von allen Lebewesen nur diese bei der Geburt »nackt aufs bloße Erdreich« hin, unfähig zu gehen, wehrlos – »in stetem Weinen liegt das Tier, das die anderen beherrschen soll«.

Doch grundsätzlich sei die Natur den Menschen wohlgesonnen. Freigiebig umsorgt sie die Menschheit, lässt alles wachsen und gedeihen, was diese zum Leben braucht. Es wäre alles wunderbar eingerichtet, wenn sich diese nur an die natürliche Ordnung hielte. »Wie unschuldig, wie glückselig, wie köstlich wäre das Leben, wenn die Menschen nichts von anderswoher als von oberhalb der Erdoberfläche begehren würden; kurz gesagt: nichts außer dem, was sie um sich herum haben.«

Der Mensch in seiner Gier aber begnügt sich nicht damit. Gleichsam in den Eingeweiden der Mutter wühlend treibt er Stollen in die Erde, um seinen Hunger »nach Reichtümern, Gold, Silber, Elektrum und Erz« zu stillen. Doch damit nicht genug: »Wir vergiften auch die Flüsse und die Elemente der Natur, und selbst das, wovon wir leben, richten wir zu Grunde.« Beinahe prophetisch, jedenfalls verstörend aktuell angesichts des gegenwärtigen Zustands der Welt, warnte Plinius vor fast 2000 Jahren davor, »welches Ende bevorsteht, wenn nach Jahrhunderten die Erde erschöpft ist«.

Wirklich so gelassen angesichts der Katastrophe?

Im Jahr 77, die »Naturkunde« war vermutlich weitgehend fertig gestellt, trat er in Misenum seinen Posten als Kommandant des größten römischen Flottenverbands an. Dort hielt er sich zu Beginn des verheerenden Vulkanausbruchs auf, und dort schiffte er sich ein, zunächst um das Ereignis zu erforschen, dann um Hilfsbedürftige zu retten. Wagemutig ohnegleichen, wie sein Neffe mehrmals betont. Für Rectina kam jede Hilfe zu spät, doch selbst als schon Asche und Lava auf die Schiffe fiel, habe Plinius befohlen, Stabiae anzusteuern, um die dort auf Rettung hoffenden Menschen über den Seeweg zu evakuieren.

Schutz Suchende | In Bootshäusern in Herculaneum unterhalb des Vesuvs entdeckte man die Überreste von hunderten Menschen. Sie hatten beim Vulkanausbruch 79 n. Chr. in den Räumlichkeiten Schutz gesucht, waren aber durch eine heiße Wolke aus Gas und Asche, die den Berg herabrauschte, in Sekundenschnelle verbrannt worden.

Der Vulkanausbruch verursachte jedoch einen Kamineffekt: Die gesamte Luft der Umgebung wurde zum Vesuv hingezogen. Plinius kam dadurch zwar schnell nach Stabiae, hatte aber keine Chance, aus dem Hafen des Städtchens wieder aufs offene Meer und in Sicherheit zu segeln. Die Eingeschlossenen mussten mitsamt ihren vermeintlichen Rettern auf einen Wetterumschwung hoffend unter dem Vulkan ausharren, aus dem schon »aus vielen Stellen riesige Feuer und hohe Brände« loderten. Der Gelehrte jedoch behielt auch da noch einen kühlen Kopf, nahm zunächst ein Bad und »nach dem Bad legt er sich zu Tisch und speist, entweder wirklich gelassen oder, was ebenso großartig wäre, vorgeblich gelassen«, berichtet sein Neffe. Nach dem Abendmahl, bei dem sich Plinius bemühte, die Sorgen der anderen Anwesenden zu zerstreuen, ging er zu Bett – »und schlief wirklich tief und fest«.

»In dieser Passage wird besonders deutlich, dass Plinius der Jüngere, der ja nicht wirklich wissen konnte, wie sein Onkel sich verhalten hat, keinen Bericht geschrieben hat, sondern eine Interpretation«, sagt Philologin Wolkenhauer. »Er charakterisiert seinen Onkel als stoischen Weisen, der sich von äußeren Ereignissen nicht in seiner Ruhe und Gefasstheit stören lässt.« Diese Schilderung sei vielleicht der wichtigste Grund dafür, dass der ältere Plinius in allen folgenden Jahrhunderten als Weiser und Vorbild der Ataraxie, der philosophischen Unerschütterlichkeit angesichts von Schicksalsschlägen, galt.

Erst am frühen Morgen des nächsten Tages soll sich Plinius gemeinsam mit den anderen entschieden haben, endlich die Schiffe zu besteigen und die Flucht zu ergreifen. Zu spät, wie sich erweisen sollte: Am Strand angelangt brach er tot zusammen. Die genaue Ursache ist unklar. Womöglich war der Asthmatiker erstickt, vielleicht erlag er den giftigen Schwefeldämpfen oder aber der korpulente Mann erlitt einen Herzinfarkt. Warum auch immer: Folgt man den Worten seines Neffen, war er letztlich ein Opfer sowohl seines Forscherdrangs als auch seines Wagemuts geworden.

Auf ganzer Linie versagt?

Der jüngere Plinius hatte mit seinem Schreiben ein rhetorisches Meisterwerk geschaffen, einen parteiischen und ausgefeilten Text, von dem er wollte, dass Tacitus ihn der Nachwelt überliefert. Sein Onkel sollte als großartiger Mann, Wissenschaftler und stoischer Weiser erscheinen. Umberto Eco (1932–2016) schlug in einem 1979 erschienenen Essay überspitzt eine alternative Lesart dieses Briefs vor. Demnach sei der Ältere keineswegs ein unerschrockener Held der Wissenschaft gewesen, sondern habe auf ganzer Linie versagt. »Wenn wir die nackte Fabel betrachten, haben wir einen Admiral mit der Mentalität eines Schiffskochs, der in keiner Weise der Lage gewachsen ist, gänzlich unfähig, Hilfe zu organisieren, und der am Ende die Flotte in einem kritischen Augenblick führerlos lässt«, meinte der italienische Schriftsteller, Philosoph und Semiotiker. »Er befindet sich ohne Zweifel in einer sehr schwierigen Lage, aber er reagiert in der denkbar schlechtesten Weise. Militärisch und administrativ betrachtet gehörte er vor ein Kriegsgericht. Ein Glück, dass er stirbt und der Tod ihn erlöst.«

Zu welchem Urteil Tacitus gelangte, wissen wir nicht. Jener Teil der »Historien«, für den er des jüngeren Plinius Bericht erbeten hatte, ist nicht erhalten.

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