Mathematische Unterhaltungen: Geometrie aus der Ich-Perspektive
»Zwei verschiedene Punkte in der Ebene bestimmen genau eine Gerade, nämlich ihre Verbindungsgerade.« Das stimmt immer; es handelt sich um einen elementaren Satz der klassischen euklidischen Geometrie. »Zwei verschiedene Geraden in der Ebene bestimmen genau einen Punkt, nämlich ihren Schnittpunkt.« Das stimmt nur fast immer; die beiden Geraden könnten ja parallel sein. Durch diese Ausnahme ist die ansonsten perfekte Symmetrie zwischen den Begriffen Punkt und Gerade gestört. Die geläufige Redensart »Parallelen treffen sich im Unendlichen« hilft in der euklidischen Geometrie nicht weiter, weil diese keinen Begriff vom Unendlichen hat.
Erst im 19. Jahrhundert unternahmen es einige Mathematiker, allen voran Gaspard Monge (1746–1818) und sein Schüler Jean-Victor Poncelet (1788–1867), die Redensart wörtlich zu nehmen und die Sache mit dem Unendlichen auf eine logisch einwandfreie Grundlage zu stellen. Schon 200 Jahre zuvor hatte Gérard Desargues (1591–1661) wesentliche Arbeiten zu diesem Thema geleistet, die allerdings in der Zwischenzeit in Vergessenheit geraten waren.
Ihr Werk heißt heute projektive Geometrie, weil es sich mit den Eigenschaften geometrischer Gegenstände befasst, die unter verschiedenen Projektionen unverändert bleiben. Dabei darf man sich unter einer Projektion das Bild vorstellen, das sich eine Kamera – oder auch das menschliche Auge – von den Verhältnissen in der Ebene von einem Standpunkt außerhalb derselben macht. In der Tat treffen sich dabei die Bilder paralleler Geraden, zum Beispiel Eisenbahnschienen, in einem endlichen Punkt. Im Gegensatz dazu geht es in der euklidischen Geometrie um Eigenschaften wie Längen und Winkel, die unter den Kongruenzabbildungen Parallelverschiebung, Drehung und Spiegelung erhalten bleiben.
Die Unendlichkeit als ferner Punkt
Das Problem mit dem nicht existierenden Schnittpunkt zweier Parallelen erledigen die projektiven Geometer auf eine typisch mathematische Weise: Sie beschließen, dass es ihn gibt, nennen ihn aus einleuchtenden Gründen einen unendlich fernen Punkt, vergewissern sich, dass dieser Beschluss nicht auf irgendwelche Widersprüche führt – und dann gibt es diesen Schnittpunkt eben, als abstrakten Gegenstand mit gewissen Eigenschaften. Die Idee ist etwas gewöhnungsbedürftig; aber von einem formalen Standpunkt aus betrachtet ist das Konzept vom unendlich fernen Punkt nur geringfügig weiter von der anschaulichen Realität abgehoben als das Konzept des gewöhnlichen Punkts. So etwas Ausdehnungsloses trifft man ja in der Wirklichkeit auch nicht an.
Alle Geraden, die zu ein und derselben Geraden parallel sind, treffen sich in demselben unendlich fernen Punkt. Der entspricht in der perspektivischen Zeichnung einem Fluchtpunkt. Und alle unendlich fernen Punkte zusammen bilden die unendlich ferne Gerade oder kurz Ferngerade. In perspektivischen Bildern tritt sie als Fluchtgerade auf. Fügt man diese Elemente zur gewöhnlichen euklidischen Ebene hinzu, erhält man die projektive Ebene. In ihr sind Punkte und Geraden so perfekt gleichberechtigt, dass man in jeder Aussage über sie die Wörter »Punkt« und »Gerade« vertauschen kann. Nach der Vertauschung ist der Satz so wahr wie zuvor. Das ist das berühmte Dualitätsprinzip.
Neben der Vertauschung sind ein paar sprachliche Anpassungen angesagt. Die duale Version von »drei Punkte liegen auf einer Geraden« wäre »drei Geraden liegen auf einem Punkt«, was man nicht unmittelbar als »drei Geraden gehen durch einen Punkt« versteht. Gegen die Verwirrung helfen »geschlechtsneutrale« Bezeichnungen. Zum Beispiel würde das obige Aussagenpaar lauten: »Drei Punkte inzidieren mit einer Geraden« und »drei Geraden inzidieren mit einem Punkt.«
In der einmal etablierten projektiven Ebene spielen die unendlich ferne Gerade und die unendlich fernen Punkte keine Sonderrolle mehr. Vielmehr ist man frei, eine beliebige Gerade der projektiven Ebene zur Ferngerade zu erklären und damit die klassische euklidische Geometrie aus der projektiven herzuleiten. Letztere wird also zum allgemeinen und die euklidische Geometrie zum Spezialfall – den man gleichwohl nicht missen möchte, denn Längen und Winkel, das tägliche Brot der Geometrie, sind in der projektiven Geometrie nicht definiert. Aber: Wer in die Niederungen der euklidischen Geometrie hinabsteigt, gibt damit insbesondere das Dualitätsprinzip auf.
Der Verlust ist vermeidbar! Ganz im Sinn des Dualitätsprinzips ergänzt man den einen Willkürakt – ernenne eine beliebige Gerade zur Ferngeraden – durch einen dazu dualen: Ernenne einen beliebigen Punkt, der nicht gerade auf der Ferngerade liegt, zum »Nahpunkt« oder auch »absoluten Mittelpunkt«.
Mit ihm lässt sich zum Beispiel die Aussage »zwei Geraden sind parallel« dualisieren. Zwei Geraden heißen parallel, wenn ihr Schnittpunkt auf der unendlich fernen Gerade liegt. Zwei Punkte heißen parallel, wenn die von beiden bestimmte Gerade durch den Nahpunkt verläuft. Um Sprachverwirrung zu vermeiden, verwendet man an Stelle von »parallel« das Wort »zentriert«.
Auch die Winkelmessung zwischen Geraden lässt sich dualisieren. Dabei ergibt sich, dass als Winkel zwischen Punkten der Winkel zu nehmen ist, unter dem sie vom absoluten Mittelpunkt aus gesehen werden. Ein Winkel zwischen zwei Geraden wird also von deren Schnittpunkt aus gemessen, ein Winkel zwischen zwei Punkten vom absoluten Mittelpunkt aus.
Eine duale Betrachtungsweise
Damit steht nun auch im Rahmen der wohlbekannten euklidischen Geometrie das mächtige Werkzeug der Dualisierung zur Verfügung. Mit seiner Hilfe kann man aus bekannten Sätzen neue machen, und zwar ohne sie eigens beweisen zu müssen. Der Beweis ergibt sich ohne Weiteres aus dem Dualitätsprinzip.
Ein klassischer Satz aus der Schulgeometrie lautet: In jedem Dreieck schneiden sich die drei Höhen in einem Punkt. Um diesen zu dualisieren, sind ein paar Vorbereitungen erforderlich. Begrenzte Teilstücke von Geraden sind weitaus mühsamer zu dualisieren als die Geraden selbst, und es entstehen ungewohnte Objekte, mit denen in diesem Kontext nichts anzufangen ist. Besser stellen wir uns die Seiten eines Dreiecks als Geraden vor, indem wir sie über die Eckpunkte hinaus ins Unendliche verlängern. Entsprechend ist eine Höhe eine Gerade, die durch einen Eckpunkt geht und orthogonal (rechtwinklig) zur gegenüberliegenden Dreiecksseite ist.
Das Duale zu einem Dreieck ist ein Dreiseit. Das sieht auf den ersten Blick genauso aus wie ein Dreieck, nur wird es durch seine Seiten definiert, und die Ecken ergeben sich erst danach als deren Schnittpunkte.
Traditionell betreibt man Geometrie aus einer »göttlichen« Perspektive
Da eine Höhe eine Gerade ist, ist ihr Duales ein Punkt, der in der klassischen Geometrie keine Rolle spielt und entsprechend keinen eingeführten Namen hat; nennen wir ihn »Höhenpunkt«. Dieser liegt auf einer Seite und ist zur gegenüberliegenden Ecke orthogonal. Tatsächlich gilt die duale Version des Satzes von den Höhen im Dreieck: Die Höhenpunkte jedes Dreiseits liegen auf einer Geraden. Bemerkenswerterweise gilt dieser Satz, obgleich die Lage der Höhenpunkte und damit die der sie verbindenden Gerade nicht festliegt, sondern von der Wahl des absoluten Mittelpunkts abhängt.
Daran muss man sich in der so erweiterten Geometrie gewöhnen: Ob zwei Punkte zueinander parallel oder orthogonal sind, wo die Gerade durch die Höhenpunkte liegt, und viele weitere Einzelheiten hängen von der Position des absoluten Mittelpunkts ab. Den kann man dorthin legen, wo es einem beliebt oder zweckmäßig erscheint. Um die Bewegung des Mondes oder eines Satelliten zu beschreiben, wird man vielleicht den Erdmittelpunkt wählen. Im Übrigen dürfte das eigene Auge in der Regel eine gute Wahl sein.
Diese Abhängigkeit bringt ein durchaus ungewohntes Element der Subjektivität ein. Traditionell betreibt man Geometrie aus einer »göttlichen« Perspektive: Man sieht alles, und es kommt nicht darauf an, wie zum Beispiel ein Dreieck in der Ebene orientiert ist. Nun ist auf einmal der Standpunkt des Beobachters von wesentlicher Bedeutung. Offiziell heißt das Gebiet allerdings nicht »subjektive Geometrie«, sondern »polareuklidische Geometrie«. Daneben gibt es noch die »dualeuklidische Geometrie«, die zwar einen Nahpunkt, aber keine Ferngerade kennt; in der Literatur werden diese Bezeichnungen nicht einheitlich verwendet.
Eine kaum bekannte Form der Geometrie
Bislang ist der Kreis der Menschen, die sich mit dieser neuen Geometrie beschäftigen, recht überschaubar. Der Schweizer Mathematiker Louis Locher-Ernst (1906–1962), langjähriger Direktor des Technikums Winterthur und zugleich Leiter der mathematisch-astronomischen Sektion am Goetheanum in Dornach, hat ab den 1930er Jahren die Grundzüge der polareuklidischen Geometrie aufgestellt. Ein halbes Jahrhundert später hat Immo Diener (Jahrgang 1953) diese Ideen aufgegriffen und bis zum heutigen Stand weiterentwickelt. Diener hatte lange Jahre an der Universität Göttingen auf verschiedenen Teilgebieten der Mathematik gearbeitet, bis er 1999 Lehrer an einer Waldorfschule wurde. Der Affinität beider Autoren zur Anthroposophie zum Trotz handelt es sich bei der polareuklidischen Geometrie nicht etwa um anthroposophische Mathematik. Vielmehr ist sie, wie jede gute Wissenschaft, vom weltanschaulichen Hintergrund der sie Betreibenden unabhängig.
Die projektive Geometrie wird auch als »Geometrie nur mit dem Lineal« bezeichnet, denn für ihre Konstruktionen wird kein Zirkel benötigt. Diese Abneigung gegen das zweite Instrument der klassischen griechischen Geometrie schlägt bis in die polareuklidische Geometrie durch. Im Gegensatz zu Punkten und Geraden hat sie Kreise zunächst nicht im Sortiment, und es ist nicht von vornherein klar, wie man einen Kreis dualisiert.
Zu diesem Zweck ist es hilfreich, sich an den Satz des Thales zu erinnern: »Der Winkel im Halbkreis ist ein rechter.« Von diesem Satz gilt auch die Umkehrung: Man wähle zwei Punkte A und B, zeichne eine Gerade durch A und eine zu ihr orthogonale durch B; dann ist ihr Schnittpunkt ein Punkt des Kreises mit dem Durchmesser AB. Alle Schnittpunkte solcher Geradenpaare zusammen bilden die Punktmenge, die wir als den Kreis kennen.
Das lässt sich dualisieren. Aus dem Punktepaar A, B wird ein Geradenpaar a, b, aus dem Schnittpunkt zweier zueinander orthogonaler Geraden wird die Gerade, die durch zwei zueinander orthogonale Punkte auf den Geraden a und b geht – wieder ist »orthogonal« mit Bezug auf den absoluten Mittelpunkt zu verstehen. Aus der Menge aller Punkte des Kreises wird eine Geradenschar. Und die hüllt eine Kurve ein, die man als das Duale zum Kreis bezeichnen kann.
Es stellt sich heraus, dass das Duale zu einem Kreis ein Kegelschnitt ist, genauer: die Menge der Tangenten an einen Kegelschnitt. Typischerweise ist dieser eine Ellipse, aber wenn er die unendlich ferne Gerade berührt, wird er zur Parabel; wenn er sie schneidet, zur Hyperbel. In jedem Fall ist der absolute Mittelpunkt ein Brennpunkt des Kegelschnitts.
Wieder können wir mit Hilfe der Dualisierung aus einem bekannten Satz einen neuen machen und bekommen dessen Beweis quasi gratis mitgeliefert. So wird aus einer offensichtlichen Tatsache über Winkel zwischen Kreistangenten und -sekanten eine überhaupt nicht offensichtliche über die Winkel zwischen Tangenten und Verbindungslinien zu einem Brennpunkt einer Ellipse. Diese wiederum lässt sich in der Sprache der euklidischen Geometrie ausdrücken. Man muss nur das Wort »absoluter Mittelpunkt« durch »Brennpunkt der Ellipse« ersetzen.
Eine der einfachsten Operationen der euklidischen Geometrie erlebt unter der Dualisierung eine überraschende Verwandlung: Eine Parallelverschiebung ist durch zwei Punkte A und B definiert. Und zwar macht sie aus einem Punkt C den vierten Punkt des Parallelogramms mit den Seiten AB und AC. Unter der Dualisierung wird daraus eine Abbildung, die durch zwei verschiedene Geraden a und b definiert wird und aus einer Geraden c die vierte Seite eines Vierseits macht, das seinerseits das Duale eines Parallelogramms ist.
Am Ende eines längeren Gedankengangs stellt sich heraus: Man darf sich eine Sammellinse vorstellen, deren Mittelpunkt im absoluten Mittelpunkt liegt. Die definierenden Geraden a und b entsprechen zwei Lichtstrahlen (man muss beide Strahlen zu Geraden verlängern). Und zwar ist a ein auf die Linse einfallender und b der zugehörige gebrochene Lichtstrahl. Zu jeder weiteren Geraden c bestimmt dann die dualisierte Parallelverschiebung den Weg, den entlang c einfallendes Licht nach der Brechung durch die Linse nimmt. Alle geometrischen Konstruktionen der Strahlenoptik finden sich in dieser Beschreibung wieder, bis hin zu der Linsenformel 1⁄f = 1⁄g + 1⁄b, welche die Brennweite f mit der Gegenstandsweite g und der Bildweite b in Beziehung setzt.
Mit weiteren Überraschungen ist zu rechnen. Die beiden einsamen Pioniere Locher-Ernst und Diener haben die polareuklidische Geometrie zwar schon recht weit getrieben, aber das Gebiet ist alles andere als erschöpft.
Insbesondere gibt es auch die dreidimensionale Variante der Dualität. Dort stehen die Punkte nicht mit Geraden, sondern mit ganzen Ebenen in einer Wechselbeziehung; aus Geraden werden wieder Geraden. Zwei Ebenen schneiden sich stets in einer Geraden; falls sie parallel sind, ist es eine unendlich ferne Gerade. Von denen gibt es nunmehr unendlich viele, und sie bilden zusammen die unendlich ferne Ebene. Ihr duales Gegenstück ist nach wie vor der absolute Mittelpunkt. Mit diesen Setzungen entwickelt sich die dreidimensionale polareuklidische Geometrie mit einigen Überraschungen, aber doch im Wesentlichen parallel (im übertragenen Sinn) zu der ebenen Version. Und hier ist das letzte Wort sicher noch nicht gesprochen.
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