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Polarforschung: Alter See unter tiefem Eis

Ein russisches Forscherteam erschließt eines der letzten unberührten Gebiete der Erde: Unter kilometertiefem Eis der Antarktis liegt der Wostoksee, der Klimaforscher, Geowissenschaftler und Biologen gleichermaßen interessiert. Doch die Bohrung birgt Risiken.
Wostoksee
Einer der lebensfeindlichsten Orte der Erde ist ein Eldorado für die Wissenschaft. Rund 1300 Kilometer vom geografischen Südpol entfernt und 3488 Meter über dem Meer liegt die russische Forschungsstation Wostok. Forscher kämpfen hier mit Sauerstoffarmut, extrem geringer Luftfeuchtigkeit und einer Durchschnittstemperatur von minus 60 Grad Celsius. Doch ihr Einsatz lohnt sich: Denn der 3,6 Kilometer mächtige ostantarktische Eisschild ist das genaueste Klimaarchiv des Planeten, das Informationen der letzten 420 000 Jahre speichert. Und unter dem Eis erstreckt sich der Wostoksee, der bei Klimaforschern, Geowissenschaftlern und selbst bei Biologen das Herz höher schlagen lässt. Das subglaziale Gewässer ist mit Ausmaßen von 250 mal 50 Kilometern etwa so groß wie Schleswig-Holstein und wurde noch nie direkt erkundet.

Diesen Zustand wollen russische Forscher nun endlich beenden. Denn es gilt als nationales Prestigeprojekt, den größten von mehr als 150 subglazialen Seen in der Antarktis erstmalig anzubohren und zu erforschen. Wissenschaftler glauben, dass das Gewässer seit beinahe 15 Millionen Jahren völlig von der Außenwelt abgeschlossen ist – und hier bisher unbekannte Mikroorganismen leben, die sich an Dunkelheit, extreme Nährstoffarmut und einen Druck von 350 Atmosphären anpassen mussten. Am Grund des Sees befinden sich außerdem Sedimentschichten, die bis in dessen Bildungszeit im späten Eozän zurückreichen: Hier ist also das Klimageschehen der Antarktis seit Beginn ihrer Vergletscherung vor 35 Millionen Jahren gespeichert.

Polarstation Wostok | Die Sowjetunion richtete die Forschungsstation Wostok 1957 ein. Sie besteht aus einem kleinen Kraftwerk, Unterkünften und einer Wetterstation. Bohrkerne werden in Kellern aufbewahrt, die in das Eis gegraben wurden.
Glattes Eis und wenig Leben

Die ersten Anzeichen für die Existenz des Gewässers unter dem antarktischen Eisschild fanden schottische Forscher 1974. Bei der radargestützten Vermessung der Oberfläche entdeckten sie eine große und besonders ebene Fläche auf dem Gletscher. Sie entsteht, weil sich das antarktische Kontinentaleis langsam hangabwärts bewegt. Auf der Seeoberfläche schwimmen sie eben auf, was die Eisoberfläche begradigt. Später folgten Schwerefeldanalysen und genaue Satellitendaten, nach denen man die bekannten Ausmaße des Sees immer wieder nach oben revidieren musste. Neuesten Abschätzungen zufolge ist er bis zu 1100 Meter tief und enthält 5000 Kubikkilometer Wasser – 100-mal mehr als der Bodensee.

Im Jahr 1996 ging ein russisch-französisches Forscherteam erstmals mit dem See auf Tuchfühlung. Zuerst förderten sie den "Bohrkern 5G", in dem über unterschiedliche Isotopengehalte die atmosphärische Temperatur sowie die Konzentration der Treibhausgase CO2 und Methan über die letzten vier Eiszeitzyklen hinweg erhalten sind. Doch ab einer Tiefe von 3539 Metern förderte die Bohrmannschaft plötzlich ein völlig andersartiges Eis zu Tage, das nicht wie in einem Gletscher üblich über Jahrtausende zusammengepresst worden war. Sie hatten so genanntes "akkretiertes Eis" erreicht – Seewasser fror an dieser Stelle in einer rund 200 Meter dicken Schicht an der Gletscherbasis an. Von hier sollte der Bohrmeißel direkt in den See vorstoßen; er wurde aber auf Druck der Unterzeichnerstaaten des Antarktisvertrags gestoppt: Die Gefahr sei zu groß, das bisher unberührte Habitat zu kontaminieren.

Deshalb untersuchten die Forscher vorerst nur das akkretierte Eis. Die Proben wurden auf mehrere Institute verteilt, um nachträgliche Verunreinigungen leichter zu entdecken. Doch die ersten Ergebnisse waren ernüchternd: Mikrobiologen um David Karl von der University of Hawaii und John Priscu von der Montana State University fanden zwar Hinweise auf nicht näher bestimmbare Mikroben. Doch ihr Anteil war mit 250 Zellen pro Milliliter extrem gering. Selbst in nährstoffarmen Habitaten der Tiefsee sei dieser Wert deutlich größer, so die Amerikaner. Russische Forscher erhielten bei späteren Vergleichsmessungen sogar nur Werte um 20 Zellen pro Milliliter, was sie auf unberücksichtigte Verunreinigungen durch die anderen Autoren zurückführten. Obwohl ihre eigenen Proben "im Wesentlichen frei von mikrobieller DNA" seien, identifizierten sie als einzige Art ein Wärme liebendes Proteobakterium [1]. Vielleicht stammte es aus tiefen Spalten unterhalb des Sees, dessen mittlere Temperatur druckbedingt bei etwa minus zwei Grad Celsius liegt – oder es handelte sich schlicht um eine weitere Verunreinigung.

Neuer Anlauf

"Das russische Team hat Pläne, um den Wostoksee zu schützen", beteuerte der Direktor des russischen Antarktisprogramms Valery Lukin auf einer Tagung der American Geophysical Union im März 2010. Denn die Bohrmannschaften arbeiteten nur bis knapp über dem See mit konventionellen Methoden: Sie füllen das Loch mit einem Gemisch aus Diesel und dem Lösungsmittel Freon. Das erhält den hohen Druck aufrecht, damit die umgebenen Eismassen nicht die Bohrung zusammendrücken. Da sich jedoch diverse Mikroorganismen von Kohlenwasserstoffverbindungen ernähren und den See verunreinigen könnten, ersetzt es Lukins Team in der letzten Phase durch steriles Silikonöl. Auf den finalen Metern arbeitet sich dann ein Hitzebohrer zum Wostoksee vor. Hier sei man erneut sehr vorsichtig, so Lukin. Da das Gewässer unter hohem Druck steht, werde keine Bohrspülung in den See strömen, sondern nur Wasser aus dem See in das Bohrloch. Das wolle man wieder erstarren lassen, um es dann im kommenden antarktischen Sommer genau zu untersuchen [2].

Wostoksee | Die Eisoberfläche erscheint auf Radaraufnahmen völlig glatt. Im linken Bereich befindet sich die Wostokstation.
Dennoch stehen viele Wissenschaftler der russischen Bohrung kritisch gegenüber. "Verunreinigungen können selbst dann in den See gelangen, wenn das Vorhaben wie geplant gelingt", befürchtet Malte Thoma vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. "Das kilometertiefe Bohrloch lässt sich beim Abpumpen der Bohrspülung nur schwer von allen Dieselrückständen befreien, die vielleicht von Mikroben kontaminiert sind. Und die würden dann in den See einwandern." Außerdem sei es wie beim akkretierten Eis schwer zu sagen, ob das erneut gefrorene Wasser Organismen aus dem See enthält – oder über die Spülung eingeschleppte Mikroben.

"Anstatt gleich in den größten subglazialen See einzudringen, sollten wir die sterile Bohrtechnik zuerst an einem der kleineren Gewässer erproben", fordert Geowissenschaftler Martin Siegert von der University of Bristol. Genau das plane sein Team, das voraussichtlich Ende 2012 den Ellsworthsee in der Ostantarktis erschließen wird. Es arbeite auf der gesamten Tiefe mit einem sauberen Heißwasserbohrer und werde den See mit einem Tauchroboter erkunden. Sogar Bohrkerne würden die Forscher mit modernen Geräten aus dem Sediment am Grund fördern, um die Klimageschichte der Antarktis zu erkunden.

Doch egal ob der große Wostok- oder der kleine Ellsworthsee durch unachtsame Bohrmannschaften kontaminiert wird: Der Schaden für das subglaziale Ökosystem der Antarktis könnte in beiden Fällen gravierend sein. Denn der Glaube an jeweils völlig isolierte Gewässer unter dem antarktischen Eis bröckelt. Ein Forscherteam um den britischen Physiker Duncan Wingham entdeckte 2006, dass sich das Eis über zwei kleinen Seen der Ostantarktis kurzzeitig anhob und später wieder absenkte. Offenbar hatte Wasser die mächtigen Eismassen kurzerhand "hochgestemmt", woraufhin der erste See überlief. Innerhalb von 16 Monaten tauschten die Seen schätzungsweise 1,8 Kubikkilometer Wasser über eine Distanz von 290 Kilometern aus [3].

Ein solches Verhalten wurde beim Wostoksee zwar bisher nicht beobachtet, wäre aber nicht unmöglich. Außerdem befindet er sich im Zentrum des ostantarktischen Eisschilds und könnte sein Wasser an diverse Seen in der Umgebung verteilen. Eingeschleppte Organismen in einem einzelnen Gewässer würden sich also mit der Zeit ausbreiten – und in einer Kettenreaktion gleich mehrere Ökosysteme "infizieren".

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