Polarforschung: Ein Whiskey und der Klimawandel
Eine Luftblase perlt aus dem Eiswürfel und steigt taumelnd durch den goldfarbenen Whiskey auf. Claude Lorius vom Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS) in Frankreich hat solche Blasen schon oft beobachtet. An diesem Tag im Jahr 1965 aber kommt die Luft nicht aus irgendeinem Eiswürfel. Nein, die Forscher feiern einen großen Erfolg: Sie haben tief in den Eispanzer gebohrt, der sich mehrere tausend Meter hoch über der Antarktis auftürmt. Dort unten ist das Eis viele tausend Jahre alt, eine genaue Analyse könnte wichtige Informationen über Temperaturen und das Klima jener Zeit liefern. Auf diese erfolgreiche Bohrung stoßen die Forscher an – natürlich kühlen sie den Whiskey mit Eiswürfeln aus der Tiefe. Ein kleiner Luxus im sonst so rauen Leben in den eisigen Stürmen rund um den Südpol muss auch mal sein. Diese kleine Feier aber wird die Eis- und Klimaforschung für viele weitere Jahrzehnte beschäftigen. »Auch die Luftblase stammt doch aus der Zeit, als das Eis entstanden ist«, schildert Claude Lorius im Kinofilm »Himmel und Eis« seine damaligen Gedanken. Eine genaue Analyse dieser Bläschen könnte zeigen, wie die Luft einst zusammengesetzt war. »Solche Eisbohrkerne sind also Abbilder der Atmosphäre und bilden eine Art Archiv«, erklärt Frank Wilhelms, der am Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven heute genau solches alte Eis analysiert. In den folgenden zehn Jahren entwickelt der Franzose Lorius gemeinsam mit Forschern aus aller Welt eine Methode, mit der er schließlich zeigt, dass Kohlendioxid eine zentrale Rolle beim Klima und seinen Veränderungen spielt. Der Whiskey und das aus dem Eis der Vergangenheit aufsteigende Luftbläschen beschäftigt inzwischen die Weltpolitik und beeinflusst das Leben vieler Menschen im Klimawandel erheblich.
»Eisbohrkerne sind also Abbilder der Atmosphäre und bilden eine Art Archiv«
Frank Wilhelms
Diese Entwicklung kann Claude Lorius kaum ahnen, als er 1955 auf eine kleine Anzeige antwortet. Seine Bewerbung ist erfolgreich, mit zwei Kollegen soll der damals 23-jährige Jungforscher 1957 einen ganzen langen Winter in der winzigen Station Charcot in 2400 Meter Höhe in der Antarktis verbringen und dort das Eis untersuchen. Erst einmal aber müssen die Männer dort hinkommen. Liegt doch Charcot 320 Kilometer südlich der noch heute betriebenen französischen Station Dumont d'Urville an der Küste der Antarktis. Für solche Distanzen braucht der TGV heutzutage in Europa vielleicht zwei Stunden – 1957 sind die Forscher vier Wochen unterwegs. Schließlich fahren sie nicht auf Schienen, die Pistenraupen dröhnen vielmehr über tausende Meter dickes Eis, in dem riesige Gletscherspalten die Menschen und ihre Ausrüstung verschlingen könnten. Oft verbergen sich solche Abgründe unter lockerem Schnee, dessen Weiß sich kaum vom festen Eis unterscheidet. Also stapfen die Forscher selbst voraus, um das Gelände zum Beispiel mit langen Stangen zu erkunden. Bei minus 18 Grad Celsius ist das immer noch angenehmer, als in der Kabine der Fahrzeuge zu sitzen. Dort müssen die Fenster offen bleiben, weil sonst die Scheiben sofort beschlagen und den Fahrer in den Blindflugmodus zwingen. Und das bei Stürmen, die mit 200 Kilometern in der Stunde blasen und so die Wirkung der Minustemperaturen mehr als verdoppeln. Zehn Tage harren die Männer in diesem Sturm aus, ohne einen Meter weiterzukommen. Einen ihrer Schlitten mit etlichen Tonnen Ausrüstung müssen sie zurücklassen.
Dann tauchen die Masten der Station Charcot auf. Jetzt heißt es Abschied nehmen. Die Begleiter fahren zurück nach Dumont d'Urville. Drei Männer bleiben zurück, teilen sich eine Baracke unter dem Schnee, die gerade einmal 24 Quadratmeter Fläche hat. Wenn dann auch noch die Energie knapp ist, müssen eben acht Grad Raumtemperatur reichen. Im Vergleich mit den eisigen Stürmen der Polarnacht ist das angenehm warm. Zehn lange Monate werden die Überwinterer keinen anderen Menschen sehen, müssen alle ihre Probleme selbst lösen. So merken sie eines Tages, dass ihre Vorräte im Schnee versinken. Also fällt die Wissenschaft erst einmal aus, die Männer schaufeln ums Überleben. Bis sie einen stabilen Stollen gegraben haben, in dem die Vorräte sicher lagern. Zeit, um sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen, haben die Männer kaum. »Wissenschaftler sind eben wahnsinnig neugierig«, meint Frank Wilhelms. Das Innere der Antarktis ist ja damals kaum erforscht, dem Forschergeist sind kaum Grenzen gesetzt. So schaut sich Claude Lorius an, wie sich Schneekristalle verändern, wenn der Schnee sich setzt und langsam vom lockeren Schnee zum harten Firn wird. Die Echos von Sprengungen im Schnee zeichnen die Konturen von Bergen und Tälern nach, die unter einer dicken Eisdecke verborgen liegen und die deshalb noch niemand gesehen hat. Dann ist es schon wieder höchste Zeit für Wetterdaten: Wie kalt ist es, wie stark bläst der Wind und einiges mehr. Erschöpft von der Forschung legen sich die Überwinterer irgendwann schlafen.
Das Antarktis-Virus packt die Forscher
Lang wird die Zeit ihnen kaum. Und doch sind sie heilfroh, als nach zehn Monaten Motoren auf dem Eis röhren. Die Ablösung kommt. Die Zeit, in der man jeden Tropfen Wasser aus Schnee mühselig schmelzen musste und zwangsläufig auf einige Körperhygiene wie Duschen oder gar ein Vollbad verzichtet wurde, geht zu Ende. Zurück in der Zivilisation aber spürt Claude Lorius eine Infektion. Ein Virus scheint ihn erwischt zu haben, das zwar den Körper verschont, aber in seinen Kopf eine tiefe Sehnsucht eingepflanzt hat, die ihn wie magisch in die Antarktis zurückzieht. Naturwissenschaftler können diesen Erreger nicht nachweisen, es gibt ihn schlicht nicht. Aber seine Wirkung spüren alle Antarktis-Heimkehrer: Allen Entbehrungen zum Trotz wollen sie wieder auf das Eis zurück. Auch AWI-Forscher Heinz Miller kennt diese Sehnsucht gut. Auf der neuseeländischen Station war er 1979 zum ersten Mal in der Antarktis. Seither ist er rund 30-mal in die Polargebiete zurückgekehrt, um das Eis zu analysieren.
Claude Lorius hat insgesamt 22 solcher Expeditionen gezählt, bereits 1959 ist er wieder in der Antarktis. Der 25-Jährige hat ja ein Jahr Antarktis-Erfahrung, und die kann im tiefen Süden über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Als Claude Lorius seinen 30. Geburtstag feiert, leitet er daher bereits ein kleines Forschungsteam. Inzwischen interessiert er sich auch brennend für eine neue Methode, mit der Willi Dansgaard von der Universität Kopenhagen gerade die Eisforscher verblüfft.
Jedes Molekül Wasser besteht aus zwei Wasserstoff- und einem Sauerstoffatom. Von diesen beiden Elementen aber gibt es jeweils unterschiedliche Atomsorten, die sich nur in ihrer Masse unterscheiden und Isotope genannt werden. So ist Sauerstoff-18 mehr als zehn Prozent schwerer als das viel häufigere Sauerstoff-16. »Das Verhältnis zwischen diesen beiden Isotopen ändert sich jedoch mit der Temperatur und kann daher Hinweise auf das Klima der Vergangenheit geben«, erklärt AWI-Forscher Heinz Miller. Wird das Wasser an der Oberfläche der Meere wärmer, verdunsten von dort mehr Wassermoleküle mit dem schweren Sauerstoff-18. Fällt diese Feuchtigkeit als Schnee auf die Antarktis oder auf Grönland, ändert sich das Isotopenverhältnis ebenfalls mit der Temperatur. Ähnliches gilt für die Verhältnisse zwischen dem leichten Wasserstoff und seinem doppelt so schweren Schwesterisotop, das Deuterium genannt wird. Bestimmen die Forscher in einer Probe den Gehalt beider Sauerstoff- und beider Wasserstoffisotope gleichermaßen, können sie aus der Kombination beider Verhältnisse auch auf die Temperaturen der Meeresregion schließen, in der dieses Eis einst verdunstete.
Diese Isotopenanalyse misst wie ein Thermometer die Temperaturen – nur eben nicht heute, sondern in der Zeit, in der das Wasser einst in den Meeren verdunstete, als Schnee auf die Antarktis oder auf Grönland fiel und dort langsam zu Eis zusammengedrückt wurde. Das dicke Eis in den Polgebieten ist also ein Klimaarchiv, das Claude Lorius und viele seiner Kollegen wie zum Beispiel der weitere Eisanalysen-Pionier Hans Oeschger von der Universität Bern aufschlagen können. Leider kommt Claude Lorius in den ersten Jahren mit dieser Methode zunächst nur bis zu den allerersten Seiten des Klimaarchivs, weil er zunächst ausschließlich den Firn ganz oben untersucht.
Bohren im Eis unter Lebensgefahr
Altes Eis können die Forscher dagegen nur gewinnen, wenn sie Geräte einsetzen, die sich ähnlich wie in Fels auch in Eis bohren. Vor einem Einsatz fernab jeder professionellen Werkstatt in der Antarktis erprobt Claude Lorius diese Methode erst einmal auf den Gletschern der Alpen. Immer wieder passen sie das Bohren ans Eis an, gewinnen zunehmend Erfahrung, bis sie dann auch in der Antarktis loslegen. Am 15. Januar 1975 neigt sich der kurze Sommer dem Ende zu. Die Forscher packen ihre Proben und alle Notizen in das C-130-Hercules-Transportflugzeug, das sie nach dem Start auf Kufen zur McMurdo-Station der USA an die Küste bringen soll. Auch die Forscher sind an Bord, drei oder vier Kilometer gleitet die schwere Maschine über das Eis. Gerade als sie nach dem ersten Abheben noch einmal kurz den Boden berührt, passiert es. Eine der Hilfsraketen, ohne deren zusätzlichen Schub eine Hercules in der dünnen Luft in der Höhe von mehr als 3200 Metern nicht starten kann, löst sich, rast in eine Turbine und setzt diese in Brand. Ein Stück des Propellers donnert durch die Scheiben ins Cockpit, verletzt wird zum Glück niemand. Kurzerhand schicken die USA zwei weitere C-130, um die Forscher abzuholen. Wieder nehmen die Männer alles an Bord, setzen sich für den Start hin – der erneut schiefgeht. Diesmal verzichten die Piloten auf die Hilfsraketen, das Flugzeug kommt kaum vom Boden weg, gerät ins Schleudern. Dabei bricht eine Kufe ab, wieder dämpft der Schnee die Bruchlandung, wieder bleiben alle Männer unverletzt. Erst der dritte Versuch mit einer dritten Maschine klappt dann. Raue Kehlen brüllen ein »Hurra«, gefolgt von einem »Fuck you Dome C«.
Seit AWI-Forscher Heinz Miller eine ganze Generation später 1989 an seiner ersten Eisbohr-Expedition in Grönland teilnimmt, blieben ihm solche Schrecksekunden zum Glück erspart. Einfach ist die Forschung im uralten Eis aber immer noch nicht. Miller erinnert sich gut an die Bohrung im Königin-Maud-Land, die 2001 beginnt. Fünf Jahre lang haben die Forscher ab 1995 die Region erkundet, um die beste Bohrstelle zu entdecken. Dort bauen sie dann in zwei Jahren die Kohnen-Station, die aus einer Reihe von Wohn- und Arbeitscontainern auf Stelzen besteht. Für die Bohrung selbst hebt eine Schneefräse dazu einen 100 Meter langen, sechs Meter breiten und sechs Meter tiefen Graben aus, der anschließend mit einem Dach überdeckt wird. In einem Teil wird gebohrt, im anderen sind die Labors untergebracht, in denen die Bohrkerne für den Transport in die Heimat vorbereitet werden. Auch eine Drehbank bauen die Forscher auf – schließlich ist die nächste Werkstatt tausende Kilometer entfernt, und die Eisforscher schlüpfen mehr als einmal in die Rolle eines Feinmechanikers oder Schweißers.
Klein sind die Geräte nicht gerade, mit denen die Forscher dem Eis seine Geheimnisse entlocken. Da gibt es einen richtigen Bohrturm, der allerdings eingeklappt werden kann. Dazu kommen Tische, Pumpen, die Lüftung – in dem überdachten Graben in der dünnen Luft in beinahe 3000 Meter Höhe steht auf dem festen Schnee ein kleiner Maschinenpark. Damit bohren die Forscher ungefähr 110 Meter in die Tiefe, bis sie auf festes Eis stoßen. Die Bohrung kleiden sie mit einem Rohr aus, das am Eis festfriert. Durch dieses Rohr lassen sie später den Bohrer in die Tiefe, um in das feste Eis zu bohren. Der Bohrer selbst rotiert und schneidet dabei mit seinen scharfen Messern am Bohrkopf einen Ring in das Eis. Nach rund 20 Minuten ist der Ring drei Meter tief, das frei geschnittene Eis steckt in einem Zylinder, und das beim Schneiden entstandene Bohrklein wird in einen zusätzlichen Behälter gepumpt.
Drei Tonnen wiegt allein die Winde, die den Bohrkopf an einem Kabel, das gleichzeitig den benötigten Strom zum Bohrkopf leitet, langsam in das Bohrloch hinunterlässt und später wieder hochzieht. Gesteuert wird sie über eine gut geheizte Elektronik, die auch in der Kälte der Antarktis zuverlässig funktioniert. In den Labors im Schneegraben werden die darin steckenden Bohrkerne dann herausgeholt und zu ein Meter langen Stücken geschnitten. Diese werden dann erst mit Forschungsflugzeugen an die Küste geflogen und von dort mit dem Forschungseisbrecher Polarstern gut gekühlt quer durch die Tropen nach Bremerhaven transportiert.
Schichtbetrieb im kurzen Antarktis-Sommer
Drei Fachleute bedienen den Bohrer in der Kälte der Schneegrube. Nach acht Stunden kommt die Ablösung, gebohrt wird rund um die Uhr in drei Schichten. Man muss schließlich die Zeit nutzen, weil nur im kurzen Antarktis-Sommer gebohrt wird, der von November bis Anfang Februar dauert. Das klappt nur, wenn die Techniker und Forscher gut versorgt sind. Also müssen Pistenbullys das Forschungsequipment, Lebensmittel und Ersatzteile in Containern verpackt auf Schlittenzügen von der Küste zur Kohnen-Station ziehen. Und Vorräte brauchen die Frauen und Männer reichlich. Schließlich gehören zum Team auf der Kohnen-Station nicht nur Techniker und Wissenschaftler, sondern auch ein Koch und ein Arzt. »Insgesamt leben und arbeiten dort im Sommer 30 bis 40 Personen«, erklärt Heinz Miller.
Aber was heißt hier Sommer? Wenn die Sonne am Mittag hoch am Himmel steht, steigen die Temperaturen vielleicht auf minus 20 Grad Celsius. Nähert sich die Sonne am Polartag dem Horizont, kann es leicht zehn Grad kälter werden. Um sich warm zu halten, kleiden die Forscher sich daher nach dem Zwiebelprinzip und tragen mehrere Kleidungsstücke wie Schalen übereinander. Ihre Handschuhe nehmen die Forscher nur dann kurz ab, wenn besonderes Fingerspitzengefühl gefragt ist. »So ausgerüstet halten wir die Kälte der Antarktis gut aus«, berichtet Heinz Miller. Zumindes, solange es windstill ist. Kritisch wird es, wenn eine steife Brise weht oder gar der Sturm heult. »Besonders dann passen wir gut auf unsere Kollegen auf«, erklärt Heinz Miller. Werden zum Beispiel die Wangen blass, droht eine Erfrierung. Weil man das selbst kaum spürt, warnt dann der Kollege, und statt der Arbeit in der Kälte ist eine Pause in der warmen Kohnen-Station angesagt. Mit solchen einfachen Vorsichtsmaßnahmen und natürlich einer Technik, die möglichst selten ausfällt, hat Miller seine mehr als 30 Polarexpeditionen bisher gut überstanden. Und auch die beiden Polarflugzeuge vom Typ Basler BT-67, in denen das Personal von Basisstationen in der Antarktis zur Kohnen-Station fliegt, haben bisher noch keine Bruchlandung im ewigen Eis hingelegt.
Manchmal aber versagt die Technik doch. Als zehn europäische Länder 1995 das EPICA-Projekt (European Project for Ice Coring in Antarctica) beschließen, steht neben der vom AWI durchgeführten Bohrung im Königin-Maud-Land eine weitere auf dem Dome C auf dem Programm, auf dem Claude Lorius die beiden Flugzeughavarien erlebte. Die Bohrung klappt anfangs ganz gut. In 780 Meter Tiefe aber bleibt der Bohrer stecken. Auch mit all den Tricks, die eine erfahrene Bohrmannschaft kennt, lässt sich das Gerät nicht mehr lösen und hochziehen. Weshalb der Bohrer stecken blieb, ist bis heute nicht geklärt. Die Forscher müssen jedenfalls eine neue Bohrung beginnen.
Eine andere Havarie geht im Königin-Maud-Land glimpflicher aus. Als die Forscher im zweiten Jahr im November die Bohrung wieder beginnen, will das Gerät einfach nicht weiter in die Tiefe vordringen. Immerhin können die Techniker den Bohrer wieder hochziehen. Den Fehler entdecken sie nicht. Erneut versuchen sie zu bohren, und wieder geht es nicht weiter. Nach langer Suche finden die Techniker schließlich einen Bolzen aus Messing. Seine genaue Herkunft ist bis heute ungeklärt. Sicher aber ist, dass er das Weiterbohren verhindert hat. Als er entfernt ist, bohren die Forscher dann normal weiter. Und haben eine wichtige Lektion gelernt: »Für solche Bohrungen im tiefen Eis sollte man nur Materialien aus Eisen verwenden, die sich mit einem Magneten wieder herausfischen lassen«, erklärt Heinz Miller. Die Bohrung auf Dome C erreicht im zweiten Anlauf übrigens später eine Tiefe von 3270 Metern und damit ein Alter von rund 900 000 Jahren. Bislang wurde kein älteres Eis in einem durchgehenden Bohrkern geborgen.
Salzringe zur Altersbestimmung wie Jahresringe an Bäumen
Obwohl das Antarktis-Virus sie immer wieder in die Polargebiete zieht, verbringen Forscher wie Heinz Miller doch auch sehr viel Zeit in Bremerhaven. Das ist nicht nur gut fürs Familienleben, das von den monatelangen Expeditionen ziemlich strapaziert werden kann. Es ist auch gut für die eigentliche Forschung: Die genauen Analysen der Eisbohrkerne aus der Antarktis und aus Grönland machen die Forscher in den AWI-Labors. Zunächst einmal stellen sie das Alter des untersuchten Eises möglichst genau fest. Bei jüngeren Proben nutzen die Forscher dazu zum Beispiel Seesalz, das von den Winden aufs Eis getragen wird. Und das vor allem im Winter, wenn eine Fläche von der Größe Europas vor den Küsten der Antarktis von Eis bedeckt ist. Dort sind auch kleine Flüssigkeitströpfchen eingeschlossen, in denen das Salz des gefrierenden Wassers sich konzentriert. Aus diesen Tröpfchen blühen mit der Zeit Salzkristalle aus, die anschließend auf der Oberfläche des Meereises liegen. Winde tragen dieses Salz dann zum Eispanzer hinauf. Bewiesen ist diese Theorie noch nicht, aber sie scheint sehr plausibel. Denn das Seesalz finden die Forscher vor allem in den Eisschichten, die einst im Winter entstanden sind. Diese Schichten können sie im jüngeren Eis dann wie die Jahresringe von Bäumen gut auszählen und so das Alter der Schicht auf das Jahr genau bestimmen.
Das funktioniert aber nur in den oberen Schichten. Je tiefer das Eis liegt, umso stärker drücken es die darüberliegenden Massen zusammen, gleichzeitig fließt das Eis auch zur Seite weg und landet irgendwann im Meer. Je weiter der Bohrer also in die Tiefe dringt, umso dünner werden die Schichten. Salz-Jahresringe können daher in einiger Tiefe nicht mehr ausgezählt werden, und die Forscher müssen auf andere Methoden zurückgreifen. Eine arbeitet zum Beispiel mit dem radioaktiven Isotop des Edelgases Krypton. Dieses Krypton-81 entsteht in der Atmosphäre durch die kosmische Strahlung und hat eine Halbwertszeit von 229 000 Jahren. Da sich in der Atmosphäre ein Gleichgewicht mit einer bestimmten Krypton-81-Konzentration einstellt, in den Tiefen des Eises jedoch kein neues Krypton-81 nachgeliefert wird, bestimmen die Forscher, welche Minimengen dieses Isotops noch übrig sind. Daraus wiederum können sie auch das Alter von Eis bestimmen, das mehr als eine Million Jahre alt ist.
Längst bohren die Forscher aber nicht nur ins Eis, um mit einer Isotopenanalyse die Temperaturen der Vergangenheit zu messen. So wird auf das Eis nicht nur Meersalz geweht, sondern auch Staub, der sich in den Bohrkernen wiederfindet. In den kalten Zeiten, als eine Eisdecke über Nordeuropa bis in die Gegend des heutigen Berlin und Hamburg vorrückte, finden die Forscher allerdings 100- bis 1000-mal mehr Staub als heute. Offensichtlich verringerten die niedrigen Temperaturen damals die Verdunstung aus den Meeren so stark, dass in weiten Landgebieten wie in Patagonien viel weniger Niederschlag als heute fiel und diese Regionen zumindest in den Wintermonaten völlig austrockneten. Der Wind blies dann gewaltige Staubmengen weg, von denen ein Teil bis in die Antarktis geweht wurde. »Wir analysieren auch die Kristallstruktur in den Eisbohrkernen«, erzählt Heinz Miller. Daraus wiederum schließen die Forscher, wie gut oder schlecht das Eis fließt.
Bleikonzentration im Eis geht zurück dank bleifreiem Benzin
Ebenfalls im Blickpunkt stehen die Bleikonzentrationen, die im Eis Grönlands drastisch zurückgehen, als in Kalifornien und später auch in anderen Ländern bleifreies Benzin eingeführt wird. Offensichtlich wurden die im Motor entstandenen Bleiverbindungen nicht nur an den Straßenrändern abgelagert, sondern in der Atmosphäre bis nach Grönland getragen. »Dort im Eis konnten wir dann zeigen, dass die Einführung von bleifreiem Benzin die Umweltbelastung mit diesem Schwermetall deutlich verringert«, fasst Heinz Miller ein weiteres Ergebnis der Eisbohrkernanalysen zusammen. Noch höher war die Bleibelastung allerdings, als die Römer vor 2000 Jahren Bleierze über offenem Feuer verhütteten und dabei riesige Mengen von Bleiverbindungen in die Luft gelangten.
»Im Eis konnten wir zeigen, dass die Einführung von bleifreiem Benzin die Umweltbelastung mit diesem Schwermetall deutlich verringert«
Heinz Miller
Messen die Forscher, wie gut eine Eisschicht elektrischen Strom leitet, können sie daraus auf große Vulkanausbrüche schließen. Diese blasen meist reichlich Schwefeldioxid in die Luft, das sich dort zu Säuren umsetzt. Die wiederum lagern sich im Eis ab und erhöhen seine Leitfähigkeit deutlich. Die Forscher lesen darüber hinaus aus dem Eis auch ab, wie das Leben in den umliegenden Ozeanen boomt oder schwächelt: Wachsen dort die Algen gut, blühen sie nach einiger Zeit und geben dabei das Biomolekül Dimethylsulfid in die Atmosphäre ab. Das reagiert in der Luft und landet letztlich als Methansulfonsäure im Eis der Polargebiete. Daraus wiederum schließen die Forscher auf die Bioaktivität in den Ozeanen in der Zeit, als dieses Eis sich gebildet hat.
Bereits Anfang der 1960er Jahre staunen Claude Lorius und Kollegen aus aller Welt, dass der Firn der Antarktis relativ stark radioaktiv strahlt. Diese Strahlung kann nur aus den Spaltprodukten stammen, die bei oberirdischen Atomwaffenversuchen in riesigen Mengen in die Atmosphäre geschleudert und schließlich bis in die Antarktis getragen werden, in der nie Atomwaffentests gemacht wurden. Dieses Ergebnis war einer der Puzzlesteine, die Großbritannien, die USA und die Sowjetunion 1963 dazu brachten, in einem Vertrag alle Atomwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser zu verbieten.
Zwei Jahre später beobachtet Claude Lorius dann das Luftbläschen aus ferner Vergangenheit, das aus dem Eis einer Bohrung durch seinen Whiskey perlt. »Eine Analyse dieser alten Luft müsste ja zeigen, wie sich die Atmosphäre damals zusammensetzte«, schießt es dem Forscher durch den Kopf. Der Gedanke lässt ihn nicht mehr los. In den folgenden zehn Jahren entwickeln er und einige Kollegen in anderen Instituten in aller Welt Methoden, wie sich diese im Eis eingeschlossene Luft analysieren lässt. Vor allem interessieren die Forscher so genannte Spurengase wie Methan und Kohlendioxid. Schließlich diskutieren die Wissenschaftler auf ihren Kongressen und Seminaren bereits in den 1970er Jahren, ob die Aktivitäten der Menschheit das Klima beeinflussen. Dazu aber zählt auch das Verbrennen von Kohle, Erdöl und Erdgas, das riesige Mengen Kohlendioxid in die Luft bläst. Oder das Anlegen von Reisfeldern und das Halten von Rindern, die Methan in die Atmosphäre abgeben. Beide Gase heizen nach den unumstößlichen Gesetzen der Physik die Luft auf.
Wie war das Klima, als die Menschen es noch nicht beeinflusst haben?
Um diesen Einfluss zu verstehen, braucht Claude Lorius aber Eisproben aus einer Zeit, in der Menschen das Klima noch nicht beeinflusst haben. Also aus der Zeit, bevor die Menschen Reis anbauten und damit Methan freisetzten. Das aber ist mindestens 7000 Jahre her, vielleicht auch wenige Jahrtausende mehr. Obendrein zeigen erste Analysen seiner Bohrungen, die gerade einmal 40 000 Jahre und damit bis in die letzte Eiszeit zurückreichen, dass in kalten Perioden viel weniger Kohlendioxid und auch weniger Methan in der Luft ist als in wärmeren Epochen vor 10 000 Jahren.
Die genauen Hintergründe solcher Schwankungen verstehen die Forscher nur, wenn sie weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Schließlich wechseln sich seit bald einer Million Jahren kalte Epochen, in denen die Gletscher der Arktis bis nach Mitteleuropa vorstoßen, mit warmen Epochen, von denen die letzte seit mehr als 10 000 Jahren das Klima prägt, in einem regelmäßigen Rhythmus ab: Rund 90 000 Jahre dauert die im Volksmund auch »Eiszeit« genannte kalte Periode, der etwa 15 000 Jahre mit deutlich höheren Temperaturen und Niederschlägen folgen. Wenn die Treibhausgase wie Kohlendioxid und Methan tatsächlich das Klima maßgeblich beeinflussen, sollten ihre Konzentrationen in allen warmen Epochen deutlich höher gelegen haben als in den Kaltzeiten.
Um das zu beweisen, braucht Claude Lorius viel älteres Eis aus tieferen Schichten. Und die bohren sowjetische Wissenschaftler am Kältepol der Erde bei ihrer Station Wostok an, die seit 1957 in Betrieb ist. 2000 Meter erreichen die Forscher dort, 402 000 Jahre alt ist das Eis in dieser Tiefe. Wie hoch wird wohl die Konzentration in den Proben sein? In der Antarktis arbeiten die Forscher ohnehin eng zusammen, der Kalte Krieg im Rest der Welt hat den Südpol nie erreicht. Lorius ist bei den sowjetischen Wissenschaftlern hochwillkommen, später wird er sogar als einer von ganz wenigen ausländischen Forschern in die Akademie der Wissenschaften des Landes aufgenommen. Claude Lorius arbeitet in der kerosingeschwängerten Luft der Bohrung mit – die Russen verwenden damals den Flugzeugtreibstoff, um ihre Bohrer zu spülen. Natürlich kann er Eisproben aus verschiedenen Tiefen haben, er muss sie sich in der Station Wostok nur aussuchen. Und sie dann nach Grenoble transportieren. Den ersten Abschnitt dieser langen Reise übernehmen die Flugzeuge der US-Amerikaner und fliegen die ausgewählten Eisproben an die Küste. Dort werden sie auf ein sowjetisches Schiff geladen und nach Europa gefahren. Die letzte Etappe der mehr als 15 000 Kilometer langen Strecke bis nach Grenoble übernimmt ein französischer Kühlwagen. Mitten im Kalten Krieg kooperieren die USA und Frankreich, die in dieser Zeit ein eher kühles politisches Verhältnis pflegen, mit ihrem größten Widersacher, der Sowjetunion.
In Grenoble steigen dann aus dem bis zu 402 000 Jahre alten Eis wieder einmal Luftblasen auf. Und deren Analyse lässt keinen Zweifel mehr: Immer wenn das Klima auf der Erde kalt war, war viel weniger Kohlendioxid in der Luft als in wärmeren Epochen. Weil in den Kaltzeiten gigantische Wassermengen als Eis in höheren Breiten lagen, sank der Meeresspiegel um bis zu 130 Meter ab. Stieg der Kohlendioxidgehalt der Luft an, wurde es nicht nur wärmer, auch der Meeresspiegel stieg, weil das Eis schmolz. Diese Zusammenhänge gelten in früheren Zeiten ebenso, das zeigt die EPICA-Bohrung auf Dome C, in der mehr als 800 000 Jahre analysiert wurden. Mehr noch: In der Schweiz und in Dänemark weisen Hans Oeschger und Willi Dansgaard mit Analysen im Grönland-Eis nach, dass solche Klimaänderungen sehr schnell ablaufen können. 23-mal wurde es in der letzten Kaltzeit innerhalb von allenfalls 30 Jahren auf der Nordhalbkugel drastisch wärmer.
»Jetzt wissen die Menschen Bescheid – was werden sie tun?«
Claude Lorius
Gleichzeitig meldeten Klimastationen, zum Beispiel auf Hawaii, dass sich in der Atmosphäre immer mehr Kohlendioxid anreichert. Waren in der Eiszeit noch 160 Teilchen unter einer Million Teilchen in der Luft Kohlendioxid, lag dieser Wert zu Beginn der industriellen Revolution bei 280. Seither steigt er kontinuierlich an, im März 2015 erreichte er die 400ermarke. Niemals in den letzten 650 000 Jahren lagen die Konzentrationen von Kohlendioxid und Methan in der Luft höher als heute, zeigen AWI-Forscher mit den Eisbohrkernen von EPICA auf Dome C.
Die aus dem Whiskey von Claude Lorius aufsteigende Luftblase und die daraus entwickelte Analysemethode von Eisbohrkernen zeigt also eindeutig, dass Kohlendioxid das Klima sehr stark beeinflusst und die moderne Zivilisation mit dem Verbrennen von Öl, Kohle und Erdgas die Temperaturen auf der Erde kräftig in die Höhe treibt. Am Ende des Kinofilms über seine Forschung meint Claude Lorius mit Blick auf den Klimaschutz: »Jetzt wissen die Menschen Bescheid – was werden sie tun?«
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