Infektionskrankheiten: Polio-Bekämpfung in der Sackgasse?
Mitte des 20. Jahrhunderts war die Poliomyelitis, auch Kinderlähmung genannt, eine der gefürchtetsten Krankheiten der Welt. Das Virus kann Motoneurone in Rückenmark und Hirnstamm zerstören und verursacht dann schwere Lähmungen der Gliedmaßen, im Gesicht und in der Brustmuskulatur. Seit Jahrtausenden begleitet der Erreger die Menschheit, und erst mit der Entwicklung verschiedener Impfstoffe, besonders der Sabin-Vakzine von 1957, verlor das Poliovirus in weiten Teilen der Welt seinen Schrecken. Mitte der 1970er Jahre war es in Europa und Nordamerika ausgerottet.
Angespornt von den erfolgreichen Bekämpfungsprogrammen begann die Weltgesundheitsorganisation 1988 ein gezieltes Programm, den Polyomyelitis-Erreger bis zum Jahr 2000 weltweit auszurotten. Obwohl sie dieses Ziel verfehlten, gelang es den Impfteams bis dahin, die Seuche auch in Südamerika und Asien zurückzudrängen. Weitere zehn Jahre später steht die Kampagne vor ihrer erfolgreichen Vollendung: Nahezu überall auf der Welt ist die Kinderlähmung ausgelöscht, lediglich in drei Ländern zirkuliert das Virus noch – Nigeria, Pakistan und Afghanistan.
Nun bringen sich die Seuchenbekämpfer in Position, um der Krankheit den Todesstoß zu versetzen. Doch das Virus komplett zu vernichten, erweist sich als schwierig, und die Seuchenbekämpfer sehen sich inzwischen mit einer Reihe von unerwarteten Hindernissen konfrontiert, die das gesamte Programm gefährden könnten. [1]
Lebendimpfstoff als Risikofaktor
Zum einen enthält der Impfstoff lebende Viren eines abgeschwächten Stamms, die im Darm mit dem Immunsystem in Kontakt treten und so die Immunität auslösen. Doch Lebendimpfstoffe haben eine Reihe von Nachteilen: Sie können durch unsachgemäße Lagerung an Aktivität verlieren und damit den Erfolg ganzer Impfkampagnen gefährden, wie es in der Vergangenheit schon häufiger vorkam. In einigen Regionen erwiesen sie sich sogar bei sachgemäßer Anwendung als nicht wirksam genug, so zum Beispiel in Nordindien, wo sich die Seuchenbekämpfer lange sehr schwer taten. Dort erkrankten sogar Kinder, die bis zu zehn Dosen der Vakzine erhalten hatten. Die Gründe dafür sind bis heute unbekannt, beide Effekte erhöhen jedoch die Gefahr, dass einzelne Bevölkerungsgruppen auch nach einer flächendeckenden Impfkampagne unzulänglich geschützt sind
Mit den sehr geringen Fallzahlen kurz vor der Ausrottung der Krankheit gewinnt eine weitere, gravierende Nebenwirkung des Impfstoffs an Bedeutung. Es ist schon lange bekannt, dass die für die Impfung verwendete Variante des Erregers dank zusätzlicher Mutationen die Krankheit selbst beim Geimpften oder sogar bei Personen in seiner Umgebung auslösen kann. Der abgeschwächte Erreger vermehrt sich im Darm der geimpften Person, und dabei können die Mutationen, die seine Gefährlichkeit reduzieren, rückgängig gemacht werden. Inzwischen stammen die meisten Ausbrüche außerhalb der verbleibenden Endemiegebiete nicht mehr vom Wildtypvirus, sondern haben ihren Ursprung in dem abgeschwächten Virus des Impfstoffs selbst. Das passiert bei einem häufig verwendeten Stamm etwa in einem von 500 000 Fällen, bei anderen Impfstoffstämmen sogar noch viel seltener. Sind Teile der Bevölkerung ungeschützt, kann daraus ein neuer Ausbruch entstehen oder sich das Virus sogar wieder ausbreiten.
Hinzu kommt, dass die Mehrzahl der Polioinfektionen symptomlos verläuft oder nur mit leichten, grippeähnlichen Beschwerden einhergeht, was die Kontrolle einzelner Nachzüglerfälle immens erschwert. Die schweren Erkrankungen mit ihren typischen Lähmungen treten bei Erwachsenen in einem von 75 Fällen auf, bei Kindern sogar nur in einem von 1000 – ansteckend aber sind alle Infizierten. Gerade bei kleinen Fallzahlen kann das Virus deswegen eine Ansteckungskette aufrechterhalten, ohne dass es jemand bemerkt. Und auch wenn definitiv keine menschlichen Fälle in der Region mehr bekannt sind – die Krankheit kann immer noch in unentdeckten Reservoirs schlummern.
Zum Beispiel im Wasser. Auch außerhalb des Menschen überlebt der Erreger geraume Zeit, wie es scheint. 2001 zum Beispiel fand ein internationales Forscherteam in Ägypten nahezu flächendeckend Polioviren im Abwasser [2], obwohl in der Region nur zwei isolierte Fälle bei Menschen identifiziert wurden. Das gleiche Ergebnis meldeten Wissenschaftler auch aus anderen Ländern – selbst wenn das Virus an einem Ort im Menschen eliminiert ist, kann es aus Fäkalien wieder auf Menschen überspringen.
Und solange die hochansteckende Krankheit noch irgendwo ein Reservoir besitzt, ist die ganze Welt bedroht. Das zeigt ein Ausbruch aus dem Jahr 2011 2001, bei dem Poliostämme aus Nordnigeria nach Jemen und Indonesien gelangten und dort Menschen identifizierten. Es dauerte Jahre, das Virus in den zuvor poliofreien Ländern wieder zu besiegen.
Die Schwierigkeiten sind vor allem ein Warnsignal
Kurz vor dem endgültigen Erfolg der Ausrottungskampagne zeigt sich, wie viel die Forscher über diesen Erreger tatsächlich noch nicht wissen. Je stärker das Virus zurückgedrängt wird, desto wichtiger werden die marginalen Fälle aus untypischen Ansteckungsketten, aus dem Boden, durch einzelne, symptomlose Träger oder die Vakzine selbst, bei denen der genaue Hintergrund der Ansteckung oft weit gehend unbekannt oder gar völlig rätselhaft ist.
Immer mehr Wissenschaftler kommen nun zu dem Schluss, dass diese Wissenslücken erst geschlossen werden müssen, bevor Polio endgültig besiegt werden kann. So sollen neue, moderne Lebendimpfstoffe die Gefahr minimieren, dass die abschwächenden Mutationen rückgängig gemacht werden. Forscher untersuchen derzeit, welche Auswirkungen der Selektionsdruck im menschlichen Darm auf die Wahrscheinlichkeit einer gefährlichen Mutation beim abgeschwächten Impfvirus hat – womöglich führt dieser Effekt dazu, dass stärker abgeschwächte Viren sogar gefährlicher sind. Auch wie sich solche angeleiteten Viren in bereits geimpften Populationen etablieren können, wie es zum Beispiel 2002 in Haiti geschah, ist noch unklar. Forscher vermuten, dass dazu ein Teil der Bevölkerung ungeschützt sein muss, ganz sicher sind sie aber nicht.
Dass Nachkommen des Impferregers nicht nur isolierte Erkrankungen, sondern ganze Ausbrüche verursachen, ist zwar selten, aber für einen endgültigen Sieg über das Virus von großer potenzieller Tragweite – und das große ungelöste Problem der Seuchenbekämpfer: Wann aufhören? Und wie?
Denn sobald man die Impfprogramme herunterfährt und die Zahl der ungeschützten Menschen steigt, steigt auch das Risiko, dass ein mutierter Impfstamm sich im ungeimpften Teil der Bevölkerung festsetzt und Ausbrüche verursacht, woraufhin wieder alle Menschen geimpft werden müssten, um diese Ausbrüche einzudämmen. Und so weiter: Die Impfstrategie scheint in einer Sackgasse zu stecken.
Bereits 2006 vertraten mehrere Experten in der Zeitschrift "Science" die These, Polio endgültig zu beseitigen sei angesichts dieser Schwierigkeiten unrealistisch [3] und man solle sich darauf konzentrieren, die Krankheit effektiv zu kontrollieren. So schnell aber, das scheint sicher, werden die Seuchenbekämpfer nicht aufgeben. Schon gar nicht so kurz vor dem Ziel.
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