Postpartale Depression: Stimmungstief statt Mutterglück
Als Britta Scheufens und ihr Mann endlich mit einer Schwangerschaft gesegnet werden, ist die Freude zunächst groß. Noch ahnen sie nicht, dass nun ein besonders schweres Kapitel in ihrem Leben beginnen wird. Während der Schwangerschaft eröffnet ihnen der Gynäkologe, dass ihre Tochter vielleicht kein Nasenbein ausgebildet habe. »Wir durchlitten sechs Wochen lähmender Panik, bis die Gewissheit kam, dass unsere Tochter doch gesund ist«, erzählt die 39-Jährige rückblickend. Hinzu kamen starke Schmerzen durch eine ungünstige Lage ihres Babys, so dass sie sich sechs Wochen kaum bewegen konnte. Selbst nachts beim Umdrehen auf die ein oder andere Seite habe sie oft vor Schmerz weinen müssen, erzählt sie. »Nach der Geburt war ich nicht überschäumend glücklich, sondern nur erleichtert.«
Nachdem sie und ihre Tochter aus dem Krankenhaus entlassen werden, wird immer deutlicher, dass Britta Scheufens keine Bindung zu ihrem Nachwuchs aufbauen kann. Auch die Unterstützung der Hebamme ändert daran nichts. Die darauf folgenden Wochen leidet Britta Scheufens zunehmend an Erschöpfung, Schlaflosigkeit und Ängsten. Häufig ist es so schlimm, dass sie nur am Weinen ist. Um den Säugling kümmert sich fast ausschließlich ihr Mann. Trotz der Strapazen hält er bedingungslos zu ihr. Nach vier Wochen, in denen beide fast kein Auge zudrücken, wird ihnen allerdings klar, dass kein Weg an einem stationären Aufenthalt vorbeiführt. Die Diagnose: Wochenbettdepression, auch postpartale Depression genannt, kurz PPD.
Fast ein Fünftel der Mütter betroffen
Psychiater verorten die PPD als eine spezielle Form einer Depression. Sie tritt in der Regel im Zeitraum ab dem elften Tag bis zum zwölften Monat nach der Geburt auf und wirkt sich oftmals nachteilig auf Kind und Familie aus. Studien zufolge leiden zwischen 15 und 18 Prozent aller Mütter daran, das ist fast jede siebte. Viele gehen jedoch davon aus, dass die Dunkelziffer noch deutlich höher liegt.
Die drei Hauptsymptome einer Wochenbettdepression sind gedrückte Stimmung, Antriebsmangel und Freudlosigkeit. Hinzu kommen bisweilen verminderte Konzentration, Schlafstörungen, Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit, Appetitstörungen, pessimistische Zukunftsperspektiven und Suizidgedanken (oder -handlungen). Häufig treten auch aggressive Zwangsgedanken auf, etwa: »Ich könnte das Kind aus dem Fenster werfen« oder »Ich würde es am liebsten so lange schütteln, bis es zu schreien aufhört«. Solche Gedanken werden im Rahmen einer Depression jedoch so gut wie nie in die Tat umgesetzt. Nur wenn sie im Rahmen einer seltenen postpartalen Psychose auftreten, besteht eine reale Gefahr für den Säugling.
Häufig wird als Auslöser der Wochenbettdepression eine nachgeburtliche Erschöpfung vermutet. Hierbei können allerdings viele Faktoren eine Rolle spielen: beispielsweise eine Unterfunktion der Schilddrüse, hormonelle Veränderungen, eine falsche Ernährungsweise oder Eisenmangel. In manchen Fällen ist der plötzliche Progesteronmangel nach der Geburt schuld. Neben physiologischen Gründen sind häufig auch psychische Ursachen und/oder das hohe Maß an Belastung verantwortlich. Manche Frauen hatten eine traumatische Entbindung, die sie nur schwer verarbeiten können. Bei anderen löst hingegen ein plötzlicher Trauerfall oder ein nachwirkendes Trauma aus früheren Tagen die Symptome aus. Andere sind mit der Mutterrolle und etwaigen weiteren Aufgaben – etwa im Beruf – überfordert. Damit kann ein hohes Stresslevel einhergehen. Viele fühlen sich ausgelaugt, auf Grund von Schlafmangel und dem hohen Maß an Verantwortung. Erhalten die Mütter dann wenig soziale Unterstützung, kann das ihre Situation noch verschärfen. Studien legen jedoch nahe, dass Faktoren wie vorangegangene Depressionen oder Hormonstörungen in der persönlichen oder familiären Geschichte einen bedeutenderen Risikofaktor darstellen als soziodemografische Merkmale und der Lebensstil der Mutter.
Britta Scheufens glaubt, dass bei ihrer Wochenbettdepression Erschöpfung eine ausschlaggebende Rolle spielte: »Unsere Tochter schrie in den ersten Lebenswochen nachmittags bis weit in die Nacht hinein durch.« An Schlaf war also kaum zu denken. Auch war womöglich die Sorge während der Schwangerschaft um ihr Baby so stark gewesen, dass diese nach der Geburt eine depressive Störung befördert hat.
Den neurobiologischen Mechanismen auf der Spur
Was sich bei dieser Störung im Gehirn der Mütter abspielt, ist noch Gegenstand der Forschung. Klar ist aber, dass die Betroffenen ein einzigartiges neuronales Profil aufweisen, das sich von demjenigen unterscheidet, das bei einer Depression zu anderen Zeiten im Leben einer Frau auftritt. Zudem zeigen Untersuchungen, dass sich die neuronalen Systeme, die von postpartaler Depression betroffen sind, mit denjenigen überschneiden, die am mütterlichen Betreuungsverhalten beteiligt sind und mit diesen interagieren. Es gibt also ein kompliziertes Zusammenspiel zwischen der psychischen Gesundheit der Mutter, der Mutter-Kind-Beziehung und den neurobiologischen Mechanismen, die diese vermitteln, schreiben Jodi L. Pawluski und zwei weitere Kollegen in einer Übersichtsarbeit zum Thema aus dem Jahr 2017. Und daher seien bei Betroffenen auch die Mutter-Kind-Interaktionen oftmals gestört.
Die Psychiaterin und Neurologin Julia Sacher vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig fand gemeinsam mit Kollegen im Jahr 2014 heraus, dass bei Frauen mit postpartalen Depressionen das Enzym Monoaminoxidase A im Gehirn stark erhöht ist. Das Molekül ist beim Abbau von Serotonin, Dopamin und Noradrenalin beteiligt. Im Vergleich zu gesunden Frauen zeigten die Betroffenen um 21 Prozent höhere Werte. Sacher erklärte in einer Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts aus dem Jahr 2014: »Die Werte verhalten sich genau entgegengesetzt zum Östrogenspiegel. Wenn der nach der Geburt akut abfällt, steigt die Konzentration der Monoaminoxidase A extrem an«, so Sacher. Bei der Mehrheit der Frauen normalisieren sich die Werte rasch wieder. Bei manchen bleiben sie jedoch erhöht – und begünstigen damit das Entstehen einer Depression. »Man sollte also alles fördern, was die Monoaminoxidase A senkt, und alles vermeiden, was die Werte ansteigen lässt«, sagt Sacher. Chronischer Stress, Alkoholkonsum und Rauchen bewirken etwa einen Konzentrationsanstieg. Für Routineuntersuchungen eignet sich das Enzym indes nicht, da es sich nur mit aufwändiger Technik messen lässt.
Betroffene richtig therapieren
Britta Scheufens berät inzwischen selbst betroffene Frauen und Familien – und für diese hat sie stets eine gute Nachricht im Gepäck: »Eine postpartale Depression ist mit der richtigen Behandlung nahezu zu 100 Prozent heilbar.« Frauen sollten also ihren Psychiater unbedingt darüber informieren, dass ihre Erkrankung mit der Geburt begann. Denn lässt sich feststellen, dass die Ursache beispielsweise ein Eisenmangel oder ein prämenstruelles Syndrom (PMS) bei der Frau ist, können Ärzte die Ursache behandeln, anstatt über Jahre Antidepressiva oder Antipsychotika zu verschreiben. Auch ein möglicher Progesteronmangel lässt sich häufig durch Zäpfchen oder Kapseln mit natürlichem Progesteron aus Soja oder Yamswurzel beheben. Finden sich jedoch keine solche konkreten Ursachen, können den Betroffenen durchaus auch Antidepressiva helfen, etwa Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, kurz SSRI. Neben pharmakologischen Therapien haben sich auch psychotherapeutische Interventionen bewährt, besonders die kognitive Verhaltenstherapie. Viele Therapeuten lassen zusätzlich familiensystemische, körper-, trauma-, kunst- oder paartherapeutische Elemente einfließen.
Besorgnis erregend ist allerdings, dass der potenziell suizidalen Erkrankung offenbar immer noch viel zu selten Beachtung geschenkt wird. Dieser Meinung ist etwa Sabine Surholt, 1. Vorsitzende des bundesweiten Netzwerks Schatten & Licht e. V.: »Leider erfragen noch immer zu wenige Kinderärzte, Gynäkologen und Hebammen bei den Eltern: ›Wie geht es Ihnen denn selbst?‹« Die Psychologin und systemische Therapeutin Natalie Samimi bemängelt, dass im Rahmen der medizinischen Abklärung die hilfreichen Diagnosefragen der anerkannten »Edinburgh-Postnatal-Depression-Scale« kaum zum Einsatz kämen. Den Grund hierfür sieht Samimi darin, dass Ärzte und Psychiater annähmen, sie würden das komplexe Muster einer Wochenbettdepression schon bemerken. Das gelingt jedoch nicht so einfach: »Nicht umsonst wird das Erkrankungsbild im Englischen auch als ›smiling depression‹ bezeichnet – weil viele Mütter ihre depressiven Symptome verbergen und stattdessen so tun, als ginge es ihnen gut«, berichtet die Psychologin. Entsprechend ist es häufig schwierig, die Erkrankung ohne ausführliche Diagnostik festzustellen. Schließlich fehlt hier zu Lande ein standardmäßiges Screening aller frischgebackenen Mütter und Väter, wie es etwa in England oder den Niederlanden gemacht wird.
»Nicht umsonst wird das Erkrankungsbild im Englischen auch als ›smiling depression‹ bezeichnet – weil viele Mütter ihre depressiven Symptome verbergen und stattdessen so tun, als ginge es ihnen gut«Natalie Samimi, Psychologin und systemische Therapeutin
Und selbst wenn die Symptome von den Ärzten erkannt werden, wird selten ein Bezug zum Mutterwerden hergestellt. Luc Turmes, ärztlicher Leiter der LWL-Klinik Herten für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, schätzt, dass Neurologen, Gynäkologen und Psychiater den zeitlichen Zusammenhang der Symptome zur Geburt nur in rund zehn Prozent der Fälle erkennen. Der Fachmann leitet eine der insgesamt sechs Mutter-Kind-Stationen in Deutschland, die nicht bloß die Mutter, sondern auch ihr neugeborenes Baby bei einer Wochenbettdepression aufnehmen. Schon lange macht Turmes darauf aufmerksam, dass der Bedarf an Mutter-Kind-Einheiten in Deutschland lediglich zu rund einem Fünftel gedeckt ist, etwa in einem Bericht in der Zeitschrift »Der Nervenarzt« von 2007.
An dieser Versorgungslücke wird deutlich, dass die Thematik in Deutschland recht stiefmütterlich behandelt wird. Turmes hat einen Verdacht, woran das liegt: Eine Mutter, die gemeinsam mit ihrem Kind stationär aufgenommen wird, koste seinen Krankenhausträger zusätzlich 300 Euro pro Tag, berichtet er. In der Regel seien also zusätzlich 20 000 bis 30 000 Euro einzuplanen. Selbst bei günstigster Mischkalkulation lohnt sich eine solche Behandlung für den Krankenhausträger nicht. Seine Station finanziert sich deshalb zusätzlich durch den privaten Förderverein »Bei aller Liebe e. V.«. Laut Turmes gebe es aber Wege, dieses gesundheitspolitische Debakel zu bekämpfen. »Das Geld, das hier zu Lande zur präventiven Gesundheitsvorbeugung in Sportprogramme investiert wird, ist zwar nützlich, doch würde dasselbe Budget alle notwendigen Mutter-Kind-Einheiten mehr als ausreichend finanzieren«, sagt Turmes. Dass eine bessere Versorgung der betroffenen Mütter sich auch langfristig für eine Gesellschaft lohnen würde, ist bekannt: »Wir wissen aus Studien, dass Jugendliche, die später in psychiatrischen Einrichtungen betreut werden, zu 45 Prozent Eltern mit einer psychischen Erkrankung haben.«
Auch gesellschaftlicher Druck kann ein Auslöser sein
Gleichwohl sind es nicht nur eine ärztliche Ohnmacht, den Patienten zur Sprechstunde zu bewegen, und die Versorgungslücke, die verhindern, dass etliche PPD-Betroffene eine angemessene medizinische Betreuung und Behandlung erhalten. Vielmehr ist die Erkrankung weiterhin tabuisiert – trotz der hohen Prävalenz. Das führt dazu, dass viele nicht über ihre Erkrankung sprechen. Denn die eigenen Empfindungen stehen hier im krassen Gegensatz zu den Erwartungen des Umfelds. Statt über den Nachwuchs glücklich zu sein, fühlt man sich traurig, niedergeschlagen, ängstlich und erschöpft. Es entsteht ein erheblicher Konflikt zwischen dem äußeren Ideal und dem eigenen Empfinden. Betroffene fühlen sich als Versager, als Rabenmutter, wie der Volksmund sagen würde. Zudem werden Depressionen generell mit klassische Außenseiterthemen in Verbindung gebracht, wie Schwäche im Gegensatz zu Stärke oder Instabilität im Gegensatz zu Leistungsfähigkeit.
Hinzu kommt: »Psychiatrische Erkrankungen im Allgemeinen sind eng mit dem Gefühl der Scham und der Schuld verwoben. Wer sich schämt, spricht nicht«, berichtet Turmes. Dabei sei ihm zufolge eines klar – eine psychische Erkrankung könne jeden treffen. Sabine Surholt vom Netzwerk Schatten & Licht e. V plädiert diesbezüglich für mehr Aufklärung: »Es ist wichtig zu wissen, dass keine Mutter etwas für ihre Wochenbettdepression kann«, sagt sie. Ein grundlegendes Problem von psychischen Erkrankungen sieht Turmes in Folgendem: »Auf der einen Seite ist die Stigmatisierung der Erkrankung sehr hoch, auf der anderen Seite gestehen sich die Betroffenen oftmals nur sehr schwer ein, dass sie psychisch krank sind.« Aber diesbezüglich ändert sich gerade etwas in unserer Gesellschaft: Berühmte Persönlichkeiten sprechen zunehmend über ihre psychischen Störungen – darunter sind auch durchaus prominente Mütter, die ihre Wochenbettdepression öffentlich gemacht haben. So erzählten etwa die britische Sängerin Adele sowie die US-amerikanischen Schauspielerinnen Hayden Pannetiere und Gwyneth Paltrow, dass sie nach der Geburt lang andauernde Verzweiflung statt Mutterglück erlebt hätten.
PPD auch in der Lehre nur ein Randthema
Offenbar ist die Wochenbettdepression jedoch nicht nur im gesellschaftlichen Diskurs wenig vertreten, sondern auch in der Lehre. Das zumindest erlebte die Psychologin und ausgebildete Hebamme Natalie Samimi: »Weder in meiner Universitätslehre im Bereich Psychologie noch in der Hebammenlehre fand die PPD trotz der hohen Prävalenz je eine Abbildung.« Zwar würden »psychische Störungen in der Peripartalzeit«, also in der Zeit während und in den Monaten nach der Schwangerschaft, im Rahmen des in Deutschland 2020 neu eingeführten Hebammenstudiums nun behandelt – allerdings vergleichsweise kurz. »Auch in den internationalen Diagnoseleitlinien zu psychischen Störungen gibt es die Diagnose ›postpartale Depression‹ nicht«, sagt Samini. Eine Diagnose ist aber notwendig, damit die Krankenkassen die Behandlung übernehmen. »Die Wochenbettdepression lässt sich daher nur als allgemeine Depression oder Angststörung therapieren. Somit wird der spezifische Kontext der Frau, des Partners sowie der Familie nicht berücksichtigt«, kritisiert Samimi.
Britta Scheufens jedenfalls hat der einwöchige stationäre Aufenthalt geholfen. Als sie die Diagnose »postpartale Depression« erhielt und eine handfeste Bezeichnung für ihren Zustand hatte, sei das befreiend gewesen. »Zum ersten Mal sagte mir jemand, dass ich nichts dafür kann und davon viele Mütter betroffen wären«, sagt sie heute. Ihre anschließenden Versuche, einen geeigneten Therapeuten zu finden, waren jedoch nicht erfolgreich: »Keine Kapazitäten« oder »Wir möchten das Krankheitsbild nicht behandeln« lauteten die Begründungen. Unterstützung bekam Britta Scheufens stattdessen von einer Psychologin einer sozialen Einrichtung sowie aus ihrem persönlichen Umfeld. »Meine gute Freundin, die zugleich Therapeutin ist, war die größte Hilfe, die ich hatte«, urteilt sie rückblickend über ihre Genesung.
Heute habe sie ihre Erkrankung gut verarbeitet, sagt Britta Scheufens. Dazu hat sicherlich auch das Schreiben über ihre Erfahrungen beigetragen. Im Buch »Zurück ins Leben« erzählt sie unter anderem, dass mit einem Baby eben nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen ist. Ihre Geschichte solle anderen Müttern Mut machen, sich Hilfe zu holen und behandeln zu lassen. Denn Möglichkeiten dazu sind vorhanden, wenn auch deren Auffinden weiterhin mit Eigeninitiative und etwas Kraftaufwand verbunden sind.
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