Präsidentschaftswahl in den USA: »Die Verfassungsväter würden sich im Grab umdrehen«
Herr Bierling, die Gründerväter der Vereinigten Staaten hatten regelrecht Angst davor, dass sich die Macht bei einer Regierungsgewalt – zumal beim Präsidenten – konzentrieren könnte. Wie versuchten sie, das zu verhindern?
Indem sie ein Regierungssystem ersannen, in dem die einzelnen Gewalten nichts allein machen können, sondern sich durch »checks and balances« gegenseitig austarieren. Durchregieren war den Verfassungsvätern ein Graus, weil dies das höchste Gut, die individuelle Freiheit, gefährdete. Mäßigung sollte Grundlage aller staatlichen Machtausübung sein und durch die Verschränkung der Gewalten garantiert werden.
Worin äußert sich diese eingebaute Mäßigung?
Ein Beispiel: Alle Gesetze brauchen Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses. Der Präsident kann jedoch ein Veto dagegen einlegen. Dieses kann wiederum durch Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern überstimmt werden. Das zwang die längste Zeit Exekutive und Legislative sowie beide Parteien, Republikaner und Demokraten, zu Kompromissen.
Über welche Instrumente verfügte das frühe politische System der USA, um dauerhaft zu gewährleisten, dass regelmäßig freie Wahlen abgehalten werden und sich deren Ergebnisse dann in Politik niederschlagen?
Dafür gab es entsprechende Gesetze sowie die Verfassungsgerichte des Bundes und der Einzelstaaten. Ob Wahlen jedoch tatsächlich funktionieren, ist vor allem eine Frage ungeschriebener Regeln. Im Kern heißt Demokratie, die eigene Wahlniederlage anzuerkennen. Da setzten die Verfassungsväter, die auch alle der frühen Präsidenten stellten, die Maßstäbe. Fast alle waren bei der Vereidigung ihres jeweiligen Nachfolgers dabei und symbolisierten damit die friedliche Übergabe der Macht. Donald Trump war 2021 der erste Präsident seit 1869, der das nicht tat. Mehr noch: Er ließ am 6. Januar 2021 das Kapitol stürmen, um die formale Zertifizierung des Wahlergebnisses zu verhindern. Das hatte keiner seiner Vorgänger getan – und das disqualifiziert ihn mehr als alles andere als Präsidentschaftskandidaten.
Die Idee von Mäßigung und Ausgleich übernahmen die Verfassungsväter der USA von dem französischen Philosophen Montesquieu, der sie seiner Theorie der Gewaltenteilung zu Grunde gelegt hatte. Neben Montesquieu war Jean-Jacques Rousseau bedeutsam für das lange Funktionieren der amerikanischen Republik. In seinem 1762 erschienenen Werk »Vom Gesellschaftsvertrag« prägte er den Begriff der Zivilreligion als notwendiges geistiges Fundament einer modernen Gesellschaft. Wie äußert sich das am Beispiel der USA?
Wir müssen uns immer wieder vergegenwärtigen, wie radikal das war, was die Verfassungsväter der USA taten. Sie mussten gleichzeitig eine Nation und eine Demokratie aufbauen. Und das mit einem Staat, der keine gemeinsame Geschichte, keine festen Grenzen, keine verbindliche Konfession, nicht einmal eine einheitliche Sprache besaß. Deshalb mussten sie Symbole schaffen, die dieses heterogene Gebilde auch ideell zusammenhielten. Das Ergebnis war die Zivilreligion des »Amerikanismus«.
Worauf gründet diese Zivilreligion?
Sie basiert auf der Unabhängigkeitserklärung von 1776, der Verfassung von 1787 und der Bill of Rights, den ersten zehn Verfassungszusätzen, zwei Jahre darauf. Nicht umsonst sind diese Gründungsdokumente der USA in der Rotunde der Freiheitschartas im Nationalarchiv in Washington D.C. ausgestellt wie Devotionalien in der katholischen Kirche. Dazu kommen die Verehrung der Flagge und die mythische Überhöhung der Gründerväter. Im Letzten ist die Zivilreligion, wie der 2013 verstorbene Soziologe Robert Bellah einmal sagte, die Sammlung von Glaubensvorstellungen, Symbolen und Ritualen der amerikanischen Nation.
»Die Verfassungsväter hatten panische Angst vor einer Ballung von Macht«
Die US-Verfassung sieht die Volksvertretung, den Kongress, als wichtigste Gewalt im Regierungssystem vor. Heute aber ist der Präsident zur dominanten Regierungsgewalt geworden. Wie kam es dazu?
Die Verfassungsväter hatten panische Angst vor einer Ballung von Macht. Ihre erste Verfassung, die Konföderationsartikel von 1781, sahen nicht einmal eine Exekutive vor. Als das jedoch Entscheidungsunfähigkeit und Führungslosigkeit produzierte, schrieben sie eine zweite Verfassung, die bis heute gilt. Diese schuf ein Präsidentenamt, das aber erst in Artikel II der Verfassung, nach dem Kongress, angelegt ist und wenig kraftvoll sein sollte. Und tatsächlich hielt das amerikanische Parlament bis in die 1930er Jahre die Regierungszügel in der Hand.
Was geschah dann?
Angesichts von Weltwirtschaftskrise, Zweitem Weltkrieg und Kaltem Krieg brauchte das Land eine entschlossene Führung und schnelle Entscheidungen, die nur ein Präsident garantieren konnte. Anfang der 1970er Jahre klagte der Historiker Arthur Schlesinger schon über eine »imperiale Präsidentschaft« vor allem in der Außenpolitik. Seither ist das Amt nur noch mächtiger geworden. Nach 9/11 übertrug der Kongress dem Präsidenten im »Krieg gegen den Terror« weitere Kompetenzen, etwa bei der Überwachung von elektronischer Kommunikation oder der Ausschaltung von Terroristen. Donald Trump fantasiert sogar, Artikel II der US-Verfassung gebe dem Präsidenten die Macht, alles zu tun, was er wolle. Da drehen sich die Verfassungsväter im Grab um, denn genau das wollten sie verhindern.
Führende Politiker der Demokratischen wie der Republikanischen Partei haben seit den 1970ern eine »Radikalisierungsspirale« in Gang gesetzt, schreiben Sie in Ihrem neuen Buch »Die Unvereinigten Staaten«. Viele in Deutschland denken hier an Republikaner wie Richard Nixon oder Newt Gingrich, der als Sprecher des Repräsentantenhauses in Fundamentalopposition zu Präsident Clinton ging, und nicht zuletzt an Donald Trump. Inwiefern haben aber auch Demokraten zu der Radikalisierung beigetragen?
Zunächst: Die parteipolitische Polarisierung in den USA war noch nie so dramatisch wie heute. Beide Parteien waren bis in die 1980er Jahre »große Zelte« und hatten konservative und liberale Wähler und auch Politiker. Damals war ein Republikaner in Massachusetts linker als ein Demokrat in Texas. Erst danach sortierten sich beide Lager nach weltanschaulichen Präferenzen. Heute sind die Demokraten links, die Republikaner rechts, und zwar egal wo.
Wer hat sich dabei mehr von der politischen Mitte wegbewegt?
Insgesamt sind die Republikaner stärker nach rechts gerückt als die Demokraten nach links. Aber weil sie nach den Demokraten fragen: Sie haben viele ihre ländlichen, schlechter ausgebildeten weißen Wähler an die Republikaner verloren, Leute, die gewerkschaftsgebunden sind und malochen müssen. Sie dachten, die sind ein Auslaufmodel. Hillary Clinton hat sie im Wahlkampf 2016 als »deplorables«, als Bemitleidenswerte, bezeichnet. Gleichzeitig fokussierte sich die Partei stärker auf die Minderheiten, insbesondere die Schwarzen und Hispanics, sowie auf die akademischen Eliten. Damit bekamen etwa Klimaschutz-, Me-too- und Wokeness-Bewegung Aufschwung, die im Mittleren Westen oder auf dem Land mehrheitlich Kopfschütteln auslösen.
Nachdem seine Demokraten ihre Kongress-Mehrheit bei den Zwischenwahlen verloren hatten, verkündete Barack Obama 2014 in seiner Rede zur Lage der Nation, dass er künftig wo immer möglich an der Legislative vorbei regieren würde. Donald Trump ging anschließend noch weiter. Seinem Amtsverständnis zufolge ist der Präsident gegenüber keiner Instanz Rechenschaft schuldig. Das Oberste Gericht gab ihm hier sogar Rückendeckung. Einem Urteil vom Juli 2024 zufolge genießen ehemalige Präsidenten für offizielle Handlungen im Amt absolute Immunität. Was bedeutet das für die Amtspraxis der Zukunft?
Eigentlich nicht viel – sofern keine Präsidenten mit autoritären Gelüsten ins Weiße Haus einziehen. »Normale« Präsidenten, also alle vor Trump, hielten sich an die ungeschriebenen Regeln und Normen der Verfassungspraxis. Auch Kamala Harris würde das wohl tun. Aber für die Trumps der USA ist das geradezu eine Einladung, die Grenzen präsidentieller Macht auszudehnen. Das Verfassungsgericht hat ihnen dafür eine Carte blanche erteilt.
Wie sein Kabinett und seine Regierung zu funktionieren haben, kann jeder Präsident der USA einfach vorgeben. Keine Geschäftsordnung der Regierung und kein Koalitionsvertrag binden ihn – anders als in Deutschland. Aber bedeutet das allein schon, dass der Präsident autoritär oder gar diktatorisch regieren kann?
Nein, weil er ja durch die »checks and balances« eingebunden ist, vor allem durch einen mächtigen Kongress, der sich als eigene Regierungsgewalt versteht – oder besser: verstand. In Zeiten extremer parteipolitischer Polarisierung sieht sich die Präsidentenpartei jetzt nämlich primär als Erfüllungsgehilfen des Weißen Hauses: Hat sie die Mehrheit im Kongress, winkt sie alles durch, was ihr Präsident will. Ist sie in der Minderheit, kann der Präsident kaum mehr überparteiliche Koalitionen für Gesetze schmieden und regiert zunehmend mit Direkten und Notfallmaßnahmen. Der deutsch-spanische Politikwissenschaftler Juan Linz, der Doyen des Regierungsvergleichs, hat sich schon in den 1990er Jahren gewundert, dass das amerikanische Präsidialsystem nicht in Autoritarismus abdriftet wie viele von ihm untersuchte Präsidialsysteme in Lateinamerika und Asien. Er vermutete, das habe mit der Heterogenität der beiden großen Parteien zu tun, die immer wieder Kompromisse ermöglicht. Da hatte Linz den richtigen Riecher. Heute durchlaufen die USA Linz‘ Ernstfall – und die Demokratie ist so gefährdet wie nie zuvor.
Kommen wir auf die Ursachen der Polarisierung zu sprechen. Sie analysieren in Ihrem neuen Buch drei zentrale Konfliktfelder, die seit rund einem halben Jahrhundert aus einer »Konsensnation« eine »Kulturkampfnation« gemacht haben: Race, Religion und Lebensqualität. Was hat es damit jeweils auf sich?
Die parteipolitische Polarisierung hat das Funktionieren der amerikanischen Demokratie grundsätzlich verändert. Alte Einführungswerke in das Regierungssystem der USA können Sie getrost in die blaue Tonne geben, sie erklären fast nichts mehr. Diese Polarisierung reicht bis in die 1960er Jahre zurück, als Emanzipationsbewegungen wie das Civil Rights Movement, das Women’s Liberation Movement oder das Gay Rights Movement die starre Gesellschaft der 1950er Jahre aufbrechen ließen. Seither hat sich der Wandlungsprozess in Gesellschaft und Wirtschaft und bei den Werten dramatisch beschleunigt, gerade in den vergangenen 20 Jahren durch Technologierevolution, wirtschaftliche Konkurrenz mit China und Massenimmigration.
»Die Demokratische Partei, die einmal eine der kleinen Leute war, warf sie in ihrem Wokeness-Wahn unter den Bus, wie die Amerikaner sagen«
Mit welchen Folgen?
Diese Entwicklungen schufen viele Gewinner: Schwarze, die endlich überall wählen durften und weniger Diskriminierung im Alltag erfuhren. Frauen, die nicht mehr nur auf Hausarbeit festgelegt waren. Junge, die an Colleges und Universitäten studieren konnten. Säkulare, die den Vorschriften der Kirchen entflohen. Gutausgebildete, die kreative neue Jobs fanden und ihr Gehalt in Aktien anlegten. Diese Profiteure des Wandels tendieren eher zur politischen Linken und zu den Demokraten. Doch es gibt auch viele Menschen, die sich von diesen rapiden Veränderungen überfahren fühlen: schlechter ausgebildete Weiße. Leute in prekären Industriejobs. Farmer, deren Kinder zum Studieren in die Großstadt gehen und nie wieder oder völlig neu sozialisiert zurückkehren. Gläubige, die sich in einer zunehmend areligiösen Welt immer weniger zurechtfinden. Sie haben Angst vor dem Wandel, und die Demokratische Partei, die einmal eine der kleinen Leute war, warf sie in ihrem Wokeness-Wahn unter den Bus, wie die Amerikaner sagen. Und dann hat Trump diesen »forgotten people«, wie er sie immer nennt, eine Stimme verliehen und ist mit ihrer Hilfe wie ein Tsunami zuerst über die Republikanische Partei und dann über die amerikanische Politik hereingebrochen. Er setzt auf Hass auf die Eliten und Einwanderer, weil das seine Anhänger mobilisiert und ihnen einfache Sündenböcke bietet.
Der starke Föderalismus begünstigt das Auseinanderdriften der Nation. In einem dunkelroten, tief republikanisch geprägten Staat wie Mississippi oder einem dunkelblauen, klar demokratisch dominierten wie Kalifornien zu leben, bringt große Unterschiede mit sich, wenn es um Krankenversicherung, Mindestlohn, Waffenrecht, Abtreibung oder Klimaschutz geht. Besteht die Möglichkeit, dass sich blaue oder rote Staaten von den Vereinigten Staaten lossagen?
Nein, das wäre Verfassungsbruch, und das ist den Südstaaten im Bürgerkrieg von 1861 bis1865 nicht gut bekommen. Aber Sie haben Recht: Die Staaten driften im Zuge der parteipolitischen Polarisierung immer weiter auseinander. Ob Sie ein Sturmgewehr kaufen dürfen oder Marihuana, ob Sie eine Abtreibung durchführen lassen können oder Ihnen nach einem Mord die Todesstrafe droht, ja sogar die Art und Weise, wie Sie wählen, hängt davon ab, ob Sie in einem demokratisch oder republikanisch dominierten Staat leben. Der Grund: Heute gibt es mehr Staaten als je zuvor mit Trifectas, in denen eine Partei Gouverneursamt und beide Kongresskammern dominiert, und mit Supermehrheiten, in denen eine Partei über zwei Drittel der Sitze im Parlament verfügt. In 44 von 50 Staaten können die Parteien alles im Alleingang durchsetzen und sogar das Wahlsystem über die Wahlkreisgrenzziehung, das so genannte Gerrymandering, manipulieren.
»Wahrscheinlich haben wir die wüstesten Auswüchse der Kulturkämpfe und der Identitätspolitik hinter uns«
In Ihrem Buch machen Sie sich Gedanken darüber, wie die Amerikaner ihr politisches System weiterentwickeln könnten, um der gesellschaftlichen und politischen Polarisierung entgegenzusteuern. Mit Blick auf den Wahlausgang: Was wären hier die realistischsten Optionen?
Helfen würden natürlich Wahlniederlagen besonders spalterischer Politiker, allen voran Trump. Sie haben die kulturkämpferischen Themen wie Abtreibung, Waffenkontrolle oder Wokeness in die Bevölkerung hineingeprügelt, weil das Loyalität und Wahlbeteiligung hochjubelte. Fallen solche Politiker als Stichwortgeber aus, beruhigt sich die Lage wieder etwas. Die Amerikaner sind nämlich weniger gespalten, als die Politiker ihre Wähler und uns Beobachter glauben machen wollen. Es gibt breite Übereinstimmung bei den Bürgern zu Themen wie gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Infrastrukturmaßnahmen, Wiederansiedelung von Industrien, Protektionismus oder Gegnerschaft zu China.
Welches sind die spaltenden Themen?
Selbst bei Themen wie Abtreibung und illegale Immigration liegen die meisten Amerikaner nicht so weit auseinander. Die Gemäßigtsten sind dabei Minderheiten-Wähler, also Bürger hispanischer, afrikanischer und asiatischer Herkunft. Sie haben Alltagsprobleme in Bereichen wie Jobsicherheit, gute Schulen oder Aufbau eines Unternehmens. An Kulturkämpfen sind sie weniger interessiert. Und diese Wählergruppe wächst demografisch rapide. Da im Zweiparteiensystem Demokraten und Republikaner dort sein müssen, wo die Wähler sind, dürfte das mittel- und langfristig zu einer Entspannung führen. Wahrscheinlich haben wir die wüstesten Auswüchse der Kulturkämpfe und der Identitätspolitik hinter uns.
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