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Prävention: Genom-Screening bei Neugeborenen auf dem Vormarsch

Gentests können schon im Babyalter ein Risiko für genetisch bedingte Erkrankungen identifizieren. Ein Forschungsteam hat das Erbgut tausender Säuglinge analysiert – und einigen damit vielleicht das Leben gerettet. Doch viele Fragen bleiben offen.
Ein kleines Baby mit Mützchen auf dem Kopf schläft im Bettchen auf der Säuglingsstation.
Die Untersuchung von Säuglingen auf Gendefekte ist auf dem Vormarsch. Es gibt allerdings auch ethische Bedenken.

Per Genomsequenzierung lassen sich Kinder identifizieren, die wahrscheinlich eine bestimmte genetisch bedingte Krankheit entwickeln. Eine DNA-Probe kann dabei Aufschluss über hunderte drohende Erkrankungen geben; das sind weit mehr als die bisher üblichen Neugeborenen-Reihentests erfassen. Das Screening des Genoms könnte die bisherigen Standard-Tests ergänzen und die gesundheitliche Versorgung verbessern. Zu diesem Schluss kommt ein rund 50-köpfiges US-amerikanisches Forschungsteam, das die ersten Ergebnisse einer Untersuchung von 4000 Säuglingen veröffentlicht hat.

Das dahinterstehende Projekt GUARDIAN ist weltweit eines der ersten, das die Sequenzierung des Erbguts bei Neugeborenen in großem Maßstab vorantreibt. Bis zu 100 000 Säuglinge sollen in naher Zukunft auf Risiken für schwere Erkrankungen getestet werden, die oft schon in den ersten Lebensjahren ausbrechen. »So können wir nicht nur bei einigen wenigen, sondern bei einer bedeutenden Anzahl von Kindern präventiv aktiv werden«, hofft der Pädiater Joshua Milner von der Columbia University, einer der Studienautoren. Man wolle frühzeitig therapieren. Sonst sei das Zeitfenster für die beste Behandlung der Krankheit womöglich schon geschlossen, sagt seine Kollegin Wendy Chung, die die Studie in New York initiierte. Laut Milner steht man damit vor einer Revolution in der Kindermedizin.

»Das genomische Neugeborenenscreening wird unweigerlich an Bedeutung gewinnen, und das nicht nur in den USA und Europa, sondern weltweit«Heiko Brennenstuhl, Facharzt für Kinderheilkunde

»Das genomische Neugeborenenscreening wird unweigerlich an Bedeutung gewinnen, und das nicht nur in den USA und Europa, sondern weltweit«, bestätigt der Kinderarzt Heiko Brennenstuhl vom Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Heidelberg gegenüber unserer Redaktion. Er leitet die dortige Arbeitsgruppe »Genomisches Neugeborenenscreening« und war nicht an der Studie beteiligt. Molekulargenetische Methoden werden bereits jetzt in vielen Ländern, so auch in Deutschland, im regulären Neugeborenenscreening für einzelne Erkrankungen verwendet. Hier zu Lande unterliegen genetische Untersuchungen den Regelungen des deutschen Gendiagnostikgesetzes.

Der Fokus des Genom-Screenings in den USA lag auf 156 seltenen, aber behandelbaren Krankheiten, die bei einer entsprechenden Genvariante mit großer Wahrscheinlichkeit ausbrechen. Mehr als 70 Prozent der angesprochenen Eltern, die zur Entbindung in das New Yorker Krankenhaus kamen, nahmen das kostenlose Angebot an. Von diesen stimmten 90 Prozent zusätzlich der Suche nach weiteren rund 100 Genvarianten zu, die zu neuronalen Entwicklungsstörungen führen. Letztere sind nicht wirklich behandelbar, geschweige denn heilbar. Allerdings könnten die bei solchen Erkrankungen drohenden epileptische Anfälle durch frühe Interventionen vielleicht besser kontrolliert werden, argumentieren die Autoren.

Das deutsche Gendiagnostikgesetz fordert, dass ausschließlich auf Krankheiten gescreent wird, die nach dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft und Technik vermeidbar oder therapierbar sind oder präventiv angegangen werden können, erklärt Brennenstuhl. »Was als behandelbar gilt, ist allerdings nicht definiert. Das lässt Spielraum für Interpretationen«, sagt er. Die Aufnahme unheilbarer Krankheiten in Reihenuntersuchungen hält man am Heidelberger Institut für Humangenetik zumindest für fragwürdig: »Wenn sich keine unmittelbaren gesundheitlichen Vorteile ergeben, ist ein Screening kritisch zu hinterfragen.«

Lebensrettende Maßnahmen

Unter den ersten 4000 Neugeborenen identifizierten die Fachleute von der Columbia University 120 gefährdete Babys, von denen das US-Standard-Screening mit Biomarkern für rund 60 Erkrankungen nur 10 entdeckte. Die meisten, insgesamt 92 Kinder, litten an Genveränderungen, die einen gefährlichen Mangel eines Enzyms (G6PD) bedingen, andere etwa an solchen, die zu Kleinwuchs führen. Bei einem Säugling fand sich eine seltene Genvariante, die einen schwere Immundefekt verursacht. So konnte früh eine mutmaßlich lebensrettende Knochenmarkstransplantation durchgeführt werden.

Das sind beeindruckenden Beispiele, doch hat ein genetisches Screening auch seine Fallstricke. 25 Elternpaare erhielten etwa zunächst ein falsch positives Ergebnis für ihr Kind, das heißt, die schlechte Prognose erwies sich nachträglich als Irrtum. Laut dem Humangenetiker Jonathan S. Berg von der University of North Carolina sind noch viele Fragen offen, wie er im Editorial der Ausgabe darlegt. Die Abgrenzung »gutartiger« Genvarianten, die eher nicht zur Erkrankung führen, von solchen, die höchstwahrscheinlich einen Ausbruch nach sich ziehen, sei nicht immer einfach, vor allem – mangels Daten – bei Personen nicht eurasischer, also etwa afrikanischer Abstammung.

Zum Zeitpunkt der Untersuchung kann bei den meisten Babys noch keine klinische Erkrankung diagnostiziert werden. »Es bleibt schwierig vorherzusagen, wie sich ein genetischer Zustand bei einem Menschen als Krankheit manifestiert«, schreibt Berg. So besteht oft eine Restunsicherheit, ob ein Kind von vorsorglich ergriffenen, womöglich kostspieligen oder belastenden Maßnahmen profitiert. Auch Brennenstuhl sieht für das genomische Neugeborenenscreening noch viel Forschungsbedarf: »Die zentrale Herausforderung liegt dabei nicht in der technischen Umsetzbarkeit, sondern in der Schaffung eines Systems, das sowohl medizinisch nachhaltig als auch ethisch durchdacht und sozial gerecht ist.«

  • Quellen
Ziegler A. et al.: Expanded newborn screening using genome sequencing for early actionable conditions. JAMA, 2024

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