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Riemannsche Vermutung: Endlich ein Durchbruch beim wohl größten Problem der Mathematik

Seit mehr als 160 Jahren versuchen Zahlentheoretiker, eine Vermutung über die Verteilung von Primzahlen zu beweisen. Nun gibt es erstmals seit langer Zeit einen nennenswerten Fortschritt.
Darstellung der riemannschen Zetafunktion
Im Zentrum der riemannschen Vermutung steckt die Zetafunktion – eine komplexe Funktion, die sich am besten durch ein buntes Farbschema darstellen lässt.

Es ist die wichtigste offene Frage der Zahlentheorie – wenn nicht sogar der gesamten Mathematik. Die riemannsche Vermutung beschäftigt die Fachwelt seit mehr als 160 Jahren. Es ist das einzige Problem, das sowohl in David Hilberts wegweisender Rede aus dem Jahr 1900 auftaucht als auch unter den 100 Jahre später formulierten »Millennium-Problemen«, deren Lösung mit einem Preisgeld von einer Million US-Dollar dotiert ist.

Allerdings ist die riemannsche Vermutung eine harte Nuss: Trotz des großen Interesses und des attraktiven Preisgelds gab es lediglich kleine Fortschritte auf diesem Gebiet. Doch jetzt haben die Mathematiker Larry Guth vom Massachusetts Institute of Technology und James Maynard von der University of Oxford nach Jahrzehnten ein Aufsehen erregendes, neues Ergebnis veröffentlicht. »Die Autoren verbessern ein Resultat, das mehr als 50 Jahre lang unüberwindbar schien«, sagt der Zahlentheoretiker Valentin Blomer von der Universität Bonn. Das sei »ein bemerkenswerter Durchbruch«, schreibt der Mathematiker und Fields-Medaillist Terence Tao auf »Mastodon«, »auch wenn sie noch weit davon entfernt sind, die Vermutung vollständig zu beweisen«.

Das Interesse an der Vermutung rührt daher, dass sie die Grundbausteine der natürlichen Zahlen betrifft. Sie beschäftigt sich mit Primzahlen, jenen Werten, die nur durch eins und sich selbst teilbar sind. Beispiele dafür sind 2, 3, 5, 7, 11, 13 und so weiter. Jede andere Zahl, etwa 15, lässt sich eindeutig in ein Produkt aus Primzahlen zerlegen: 15 = 3 · 5. Das Problem: Die Primzahlen scheinen keinem einfachen Muster zu folgen, sie tauchen augenscheinlich wahllos unter den natürlichen Zahlen auf. Die riemannsche Vermutung beschäftigt sich mit dieser Eigenheit. Sie erklärt, wie genau die Primzahlen auf dem Zahlenstrahl verteilt sind – zumindest aus statistischer Sicht.

Ein Periodensystem für Zahlen

Eine Lösung der berühmten Vermutung würde Mathematikern also nichts Geringeres als eine Art »Periodensystem der Zahlen« liefern. Und so, wie die Grundbausteine der Materie (etwa Quarks, Elektronen oder Photonen) dabei helfen, das Universum und unsere Welt zu verstehen, spielen auch Primzahlen eine wichtige Rolle – und das nicht nur in der Zahlentheorie, sondern in so gut wie allen Bereichen der Mathematik. Inzwischen gibt es zahlreiche Theoreme, die sich auf die riemannsche Vermutung stützen. Mit einem Beweis dieser Vermutung würden somit etliche andere Sätze bewiesen werden. Das motivierte in der Vergangenheit (und tut es noch heute) viele Fachleute, sich dem hartnäckigen Problem zu widmen.

Das Interesse an Primzahlen reicht Jahrtausende zurück. Euklid bewies bereits 300 v. Chr., dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Und obwohl das Interesse an Primzahlen bestehen blieb, dauerte es bis ins 18. Jahrhundert, bis weitere nennenswerte Erkenntnisse zu diesen Grundbausteinen erzielt wurden. So erkannte Gauß als 15-Jähriger, dass die Anzahl der Primzahlen entlang des Zahlenstrahls abnimmt: Der so genannte Primzahlsatz (der erst 100 Jahre später bewiesen wurde) besagt, dass im Intervall von 0 bis n etwa nln(n) Primzahlen auftauchen.

Die genaue Anzahl an Primzahlen kann jedoch von der durch den Primzahlsatz gegebenen Abschätzung abweichen. Zum Beispiel: Laut Primzahlsatz gibt es im Intervall zwischen 1 und 100 zirka 100ln(100) ≈ 22 Primzahlen, in Wirklichkeit findet man aber 25; es gibt also eine Abweichung von 3. Die riemannsche Vermutung besagt, dass diese Abweichung nicht beliebig groß werden kann. Genauer: Die Differenz skaliert höchstens mit der Wurzel von n (√n); also mit der Wurzel der Länge des betrachteten Intervalls.

Die riemannsche Vermutung sagt demnach nicht genau vorher, wo sich Primzahlen befinden. Denn diese sind zufällig auf dem Zahlenstrahl verteilt. Sie folgen dabei aber gewissen Regeln: Ihre Dichte nimmt dem Primzahlsatz gemäß ab. Sollte die riemannsche Vermutung wahr sein, dann sind die Primzahlen gemäß dieser Dichte gleichmäßig verteilt. Es gibt also keine größeren Bereiche, in denen sich überhaupt keine Primzahlen finden, während andere voll von ihnen sind. Das kann man sich wie die Verteilung von Molekülen in der Luft eines Raums vorstellen. Insgesamt ist die Dichte am Boden zwar etwas höher als an der Decke, doch die Teilchen sind – dieser Dichteverteilung folgend – dennoch gleichmäßig verstreut, nirgends herrscht ein Vakuum. Ob Primzahlen tatsächlich denselben Regeln folgen wie Moleküle, ist wegen eines fehlenden Beweises der riemannschen Vermutung noch offen. Es könnte also durchaus Intervalle geben, in denen die Anzahl der Primzahlen stark von dem Primzahlsatz abweicht.

Eine seltsame Verbindung

Der deutsche Mathematiker Bernhard Riemann formulierte die nach ihm benannte Vermutung im Jahr 1859, in einer bloß sechsseitigen Veröffentlichung (seinem einzigen Beitrag im Bereich der Zahlentheorie). Auf den ersten Blick hat seine Arbeit nur wenig mit Primzahlen zu tun: Er beschäftigte sich mit einer bestimmten Funktion, der so genannten Zetafunktion ζ(s). Dabei handelt es sich um eine unendliche lange Summe, welche die Kehrwerte von natürlichen Zahlen addiert, die mit s potenziert sind:

\[ \zeta(s) = \sum_{n=1}^\infty \frac{1}{n^s} = \frac{1}{1^s} + \frac{1}{2^s} + \frac{1}{3^s} + \frac{1}{4^s} +... \]

Bereits vor Riemanns Arbeit war bekannt, dass solche Zetafunktionen mit Primzahlen zusammenhängen. So lässt sich die Zetafunktion auch folgendermaßen in Abhängigkeit aller Primzahlen p ausdrücken:

\[ \zeta(s) = \prod_{p} \frac{1}{1- p^{-s}} = \frac{1}{1-2^{-s}} \cdot \frac{1}{1-3^{-s}} \cdot \frac{1}{1-5^{-s}} \cdot \frac{1}{1-7^{-s}} \cdot... \]

Die volle Tragweite dieser Verbindung zwischen Primzahlen und der Zetafunktion erkannte Riemann aber, als er für s nicht nur reelle Werte, sondern auch komplexe Zahlen einsetzte. Diese enthalten sowohl einen reellen Anteil als auch Wurzeln aus negativen Zahlen, den so genannten Imaginärteil. Man kann sich komplexe Zahlen als zweidimensionales Konstrukt vorstellen; sie markieren nicht einen Punkt auf dem Zahlenstrahl, sondern in der Ebene: Die x-Koordinate entspricht dem Realteil, die y-Koordinate dem Imaginärteil.

Komplexe Ebene

Die komplexe Zetafunktion, die Riemann untersuchte, lässt sich als Landschaft über der komplexen Ebene visualisieren. Und wie sich herausstellt, gibt es inmitten der Berge und Täler bestimmte Punkte, die eine wichtige Rolle in Bezug auf Primzahlen spielen. Es sind jene Punkte, an denen die Zetafunktion null wird (so genannte Nullstellen), bei denen also die Landschaft gewissermaßen auf Meereshöhe absinkt.

Zetafunktion | Die Farben stehen für die Werte der komplexen Zetafunktion, wobei die weißen Punkte ihre Nullstellen kennzeichnen.

Riemann konnte schnell folgern, dass die Zetafunktion keine Nullstellen besitzt, wenn der Realteil größer als 1 ist. Das heißt, der Bereich der Landschaft, der rechts der Geraden x = 1 liegt, sinkt niemals auf Höhe des Meeresspiegels ab. Auch für negative Werte des Realteils sind die Nullstellen der Zetafunktion bekannt: Sie liegen auf der reellen Achse bei x = -2, -4, -6, und so weiter. Was Riemann – und alle Mathematikerinnen und Mathematiker seither – interessierte, sind die Nullstellen der Zetafunktion im »kritischen Streifen«, also zwischen 0 ≤ x ≤ 1.

Kritischer Streifen | Im kritischen Streifen (dunkles blau) kann die riemannsche Zetafunktion »nichttriviale« Nullstellen aufweisen. Die riemannsche Vermutung besagt, dass diese sich ausschließlich auf der Geraden x=½ befinden (gestrichelte Linie).

Wie Riemann bereits wusste, hat die Zetafunktion innerhalb des kritischen Streifens unendlich viele Nullstellen. Doch wie er beobachtete, scheinen alle auf der Gerade x = ½ zu liegen. Und genau das ist die riemannsche Vermutung: Alle Nullstellen der Zetafunktion innerhalb des kritischen Streifens haben einen Realteil von x = ½. Sollte diese Aussage richtig sein, folgt daraus, dass die Verteilung der Primzahlen niemals allzu stark vom Primzahlsatz abweicht.

Auf der Jagd nach den Nullstellen

Inzwischen wurden Abermilliarden Nullstellen der Zetafunktion untersucht, mehr als 1013 Stück – und alle liegen auf der Geraden x = ½. Doch ein stichhaltiger Beweis ist das nicht. Man müsste nur eine einzige Nullstelle finden, die von diesem Schema abweicht, um die riemannsche Vermutung zu widerlegen. Daher sucht man nach einem Beweis, der eindeutig belegt, dass es im kritischen Streifen keine Nullstellen außerhalb von x = ½ gibt.

Da ein solcher Beweis aber bisher außer Reichweite lag, schlugen Forschende einen anderen Weg ein: Sie versuchen zu zeigen, dass es maximal eine gewisse Anzahl N an Nullstellen außerhalb dieser Geraden x = ½ gibt. Die Hoffnung besteht darin, N so weit zu senken, bis man irgendwann bei N = 0 angelangt ist und damit die riemannsche Vermutung bewiesen hat. Doch auch dieser Weg stellt sich als extrem schwierig heraus. 1940 konnte der Mathematiker Albert Ingham zeigen, dass es zwischen 0,75 ≤ x ≤ 1 höchstens y3/5+c Nullstellen mit einem Imaginärteil von höchstens y gibt – wobei c eine Konstante zwischen 0 und 9 ist.

In den folgenden 80 Jahren ließ sich diese Abschätzung kaum verbessern, den letzten Fortschritt lieferte Martin Huxley 1972. »Das hat uns in der analytischen Zahlentheorie in vielerlei Hinsicht eingeschränkt«, schreibt Tao in seinem Social-Media-Beitrag. Zum Beispiel war man, wenn man den Primzahlsatz auf kurze Intervalle der Art [xx + xθ] anwenden wollte, durch die Abschätzung von Ingham auf θ > ⅙ beschränkt. Falls die riemannsche Vermutung hingegen wahr sein sollte, dann gilt der Primzahlsatz für θ = 0, also jedes noch so kleine Intervall (da für θ = 0 [xx + xθ] = [xx + 1] gilt).

»Je schlimmer die möglichen Verletzungen der riemannschen Vermutung sind, desto seltener kommen sie vor«Valentin Blomer, Zahlentheoretiker

Doch nun ist es Maynard, der 2022 mit der renommierten Fields-Medaille ausgezeichnet wurde, zusammen mit Guth erstmals gelungen, die Abschätzung von Ingham merklich zu verbessern: Demnach hat die Zetafunktion im Bereich 0,75 ≤ x ≤ 1 höchstens y0,52 + c Nullstellen mit einem Imaginärteil von höchstens y. »Die Autoren zeigen in einem quantitativen Sinn, dass Nullstellen der riemannschen Zetafunktion seltener werden, je weiter sie von der kritischen Geraden entfernt liegen«, sagt der Zahlentheoretiker Valentin Blomer. »Mit anderen Worten: Je schlimmer die möglichen Verletzungen der riemannschen Vermutung sind, desto seltener kommen sie vor.«

»Dies führt zu vielen entsprechenden Verbesserungen in der analytischen Zahlentheorie«, schreibt Tao. So lässt sich damit die Größe der Intervalle, für die der Primzahlsatz gilt, verkleinern. Der Satz ist für [xx + x2/15] gültig – aus θ > ⅙ = 0,166… wird θ > 215 = 0,133…

»Die Arbeit liefert eine ganze Reihe neuer Ideen«Valentin Blomer, Zahlentheoretiker

Die beiden Mathematiker haben für ihr Resultat zunächst bekannte Methoden aus der Fourier-Analysis eingesetzt. Dabei handelt es sich um ähnliche Techniken, die auch genutzt werden, um einen Klang in seine Obertöne zu zerlegen. »Die ersten paar Schritte sind Standard, und viele analytische Zahlentheoretiker, mich eingeschlossen, die versucht haben, die Ingham-Schranke zu brechen, werden sie wiedererkennen«, führt Tao aus, doch dann »machen sie eine Reihe von cleveren und unerwarteten Manövern.« Dem stimmt Blomer zu: »Die Arbeit liefert eine ganze Reihe neuer Ideen, die – wie die Autoren zu Recht sagen – vermutlich auch auf andere Probleme angewendet werden können. Vom Standpunkt der Forschung ist das der entscheidendste Beitrag der Arbeit.«

Auch wenn Maynard und Guth die riemannsche Vermutung also nicht gelöst haben, so haben sie zumindest neue Denkanstöße gegeben, um das 160 Jahre alte Rätsel anzugehen. Und wer weiß: Vielleicht steckt in ihren Bemühungen der Schlüssel, der die Tür zur Vermutung endlich öffnen wird.

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  • Quellen
Guth, L., Maynard, J.: New large value estimates for Dirichlet polynomials. ArXiv: 2405.20552, 2024

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