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Seltene Sehstörung: Gesichter, die zu Fratzen werden

Die Prosopometamorphopsie ist eine äußerst seltene Störung der visuellen Wahrnehmung: Den Betroffenen erscheinen Gesichter oft auf bizarre Weise deformiert – so als würden sie durch ein Zerrglas blicken. Was steckt dahinter?
Gesicht einer jungen Frau, deren Mund hinter einem Glas verzerrt erscheint
Menschen mit Prosopometamorphopsie sehen Teile des Gesichts wie durch ein Zerrglas. (Symbolbild)

Es kommt nicht selten vor, dass Veronica Smith das Gesicht ihres Partners betrachtet und plötzlich sieht, wie sich seine Gesichtszüge verändern: Seine Augen rücken erst näher zusammen und dann weiter auseinander, die Kieferpartie wird breiter und schmaler, die Haut bewegt sich und schimmert. Die 32-Jährige erlebt dieses Phänomen, seit sie vier oder fünf Jahre alt ist. Es tritt zwar nur sporadisch auf, wenn sie das Gesicht einer anderen Person betrachtet. Aber ihr eigenes Gesicht sieht sie regelmäßig so. »Ich erlebe das fast immer, wenn ich mein eigenes Gesicht im Spiegel betrachte. Das macht es mir wirklich schwer, mich zum Ausgehen fertig zu machen, weil ich denke, dass ich merkwürdig aussehe«, erklärt Smith. »Bei anderen Menschen fällt es mir leichter, die Verzerrungen als solche zu erkennen, weil ich weiß, wie sie wirklich aussehen.«

Veronica Smith leidet an einer seltenen Erkrankung namens Prosopometamorphopsie (PMO), bei der Gesichter oder Teile von Gesichtern in Form, Textur, Position oder Farbe bizarr verändert erscheinen. Der Begriff »Prosopometamorphopsie« ist angelehnt an die altgriechischen Wörter für Gesicht (»prósopon«), Verwandlung (»metamórfosis«) und Sehen (»ópsis«). Die Störung ist verwandt mit dem Alice-im-Wunderland-Syndrom. Bei dieser Form von Metamorphopsie verändert sich die Wahrnehmung des eigenen Körpers, anderer Menschen oder Objekte meist derart, dass sie kleiner oder größer erscheinen, ähnlich wie es das Mädchen Alice im Kinderbuchklassiker »Alice im Wunderland« erlebt.

Bei der Prosopometamorphopsie beschränkt sich das ungewöhnliche Erleben jedoch auf das Gesicht. Laut Brad Duchaine, Professor für Psychologie und Hirnforschung am Dartmouth College in Hanover, USA, nehmen manche Betroffene das gesamte Gesicht verändert wahr (bilaterale PMO), andere nur die linke oder die rechte Gesichtshälfte (Hemi-PMO). »Es überrascht nicht, dass sie die Wahrnehmungsverzerrungen als äußerst belastend empfinden«, sagt er.

Bis 2021 wurden in der medizinischen Literatur etwas mehr als 80 Fälle beschrieben. Die erste Beschreibung stammt aus dem Jahr 1947. »Über die Erkrankung ist jedoch nur wenig bekannt«, berichtet Duchaine. »Die Fälle wurden in der Regel von Neurologen dokumentiert, die weder über Fachwissen im Bereich der visuellen Neurowissenschaften noch über die Zeit zu einer eingehenden Untersuchung verfügten.«

25 Jahre lang hatte Duchaine sich in seiner Forschung auf die Gesichtsblindheit (Prosopagnosie) konzentriert. Doch nachdem er Mitautor einer 2020 veröffentlichten Studie über Hemi-PMO war, verlagerte er einen Großteil der Arbeit seines Labors auf die noch weitgehend unbekannte Prosopometamorphopsie. Seit 2021 informiert er auf einer Website darüber. Bis heute haben sich 60 Personen bei ihm gemeldet und entsprechende Symptome beschrieben. Duchaine und sein Team haben viele von ihnen untersucht, darunter Veronica Smith. Sie wollen die gestörte Wahrnehmung besser verstehen, auch um mehr darüber zu erfahren, wie die Gesichtsverarbeitung normalerweise funktioniert.

Pablo Picasso: »Head of a Woman« | Das Bild stammt aus dem Jahr 1953 und wurde 2017 im Rahmen einer Ausstellung in der Mayoral Gallery in London fotografiert. Pablo Picasso malte Gesichter häufig in einer Weise, die an eine verbreitete Form von Prosopometamorphopsie erinnert: vertikal in zwei Hälften geteilt. Deshalb wird spekuliert, Picasso könne unter der Störung gelitten haben.

Nicht nur Duchaine ist von der ungewöhnlichen Sehstörung fasziniert. Jan Dirk Blom, Professor für klinische Psychopathologie an der Universität Leiden in den Niederlanden, hat dazu 2014 eine Forschungsarbeit verfasst, unter anderen zusammen mit dem inzwischen verstorbenen Neurologen und Schriftsteller Oliver Sacks. Laut Blom ist die Untersuchung der PMO wichtig, weil sie Hinweise auf jene Teile des Gehirns liefern könnte, die bei der neuronalen Repräsentation von Gesichtern eine Rolle spielen. Die meisten Mediziner hätten allerdings noch nie von PMO gehört oder sie verstünden das Phänomen nicht. Deshalb würden manche Betroffene falsch diagnostiziert und behandelt. »Sie brauchen aber dringend den Kontakt zu anderen Betroffenen, damit sie Erfahrungen austauschen können und sich weniger isoliert und fremd fühlen«, sagt Blom.

Viele Menschen mit PMO können zusehen, wie sich die Gesichtszüge verändern. Andere sehen Gesichtszüge, die herabhängen oder sich verdrehen, sie sehen Haut, die wie Baumrinde aussieht, Gesichtsteile, die sich in geometrische Formen verwandeln, oder ein Gesicht, das sich über die Gesichter anderer Personen legt. In einigen Fällen können die Züge sogar dämonisch erscheinen. Ein Mann, der vor einigen Jahren mit PMO aufgewacht ist, dachte laut Duchaine, er sei in der Hölle gelandet.

Was die Sehstörung verursacht

Bislang hat der Hirnforscher keine spezifische Ursache von PMO gefunden. Er glaubt, dass es eine Vielzahl davon gibt. Bei jedem vierten Betroffenen, der sich an ihn gewendet hat, vermutet er einen Zusammenhang mit Migräne. Veronica Smith leidet seit jeher unter Migränekopfschmerzen und sagt, dass innerhalb eines Jahres sowohl die Migräneanfälle als auch die Häufigkeit und Intensität der Sehstörung zugenommen haben.

So wie es offenbar nicht nur eine Ursache gibt, existiert bisher auch nicht die eine bewährte Behandlung. Psychopharmaka wurden ausprobiert, allerdings ohne großen Erfolg. »Bei Menschen, die noch nicht lange unter Migräne leiden, verschwinden die Störungen oft von selbst. Daher ist es in solchen Fällen schwer zu sagen, ob neu verordnete Medikamente zum Verschwinden der Verzerrungen beigetragen haben«, so Duchaine.

Um zu Grunde liegende neurologische Störungen zu finden, wird das Blut analysiert und das Gehirn per Magnetresonanztomografie (MRT) und per Elektroenzephalografie (EEG) untersucht. »Je nachdem, was wir finden – zum Beispiel Epilepsie, einen Hirninfarkt, eine Hirnzyste –, wenden wir bei der Behandlung unterschiedliche Leitlinien an«, sagt Blom. »Mit anderen Worten: Es gibt nicht ein bestimmtes Medikament, das wir für alle Fälle von PMO für wirksam halten.« Er hofft, dass er und seine Kollegen eines Tages in der Lage sein werden, evidenzbasierte Leitlinien zu entwickeln.

2023 war Duchaine Mitautor einer Übersichtsarbeit, die anhand von PMO grundlegende theoretische Fragen zur Gesichtswahrnehmung erörterte, darunter, wie Gesichter im Gehirn repräsentiert werden und welche Rolle die beiden Gesichtshälften dabei spielen. 51 Fälle von PMO wurden in der Studie untersucht; zu 48 von ihnen lagen strukturelle Hirnscans vor – und bei 44 zeigten die Scans Schäden an visuellen Hirnregionen.

»Die Literatur beschreibt fast ausschließlich Personen, die eine Hirnschädigung erlitten haben. Aber das könnte auch schlicht daran liegen, dass diese Menschen eher in neurologischen Kliniken vorstellig werden«, erklärt Duchaine. »Wenn dagegen Betroffene über das Internet auf uns zukommen, berichten nur wenige von einer Hirnschädigung, die mit dem Auftreten ihrer Sehstörung zusammenfiel.«

Von den 60 Personen mit PMO, die sich an Duchaine gewandt haben, kann bloß eine Hand voll ein Ereignis benennen, das wahrscheinlich zum Ausbruch ihrer Störung geführt hat. Laut Duchaine gibt es dafür zwei mögliche Erklärungen. Entweder haben viele von ihnen Läsionen, die noch nicht entdeckt wurden. Oder es gibt tatsächlich viele Menschen mit PMO, die keine Läsionen haben, und Duchaine hat sie gefunden, weil sich seine Forschung nicht auf neurologische Erkrankungen beschränkt. Im Gehirn von Veronica Smith beispielsweise zeigten die Scans keine Anomalien.

Duchaine vermutet, dass einige der Fälle eine Variante von PMO darstellen. Dazu zählt er zum Beispiel Veronica Smith sowie einen Teenager, der sich laut seiner Mutter schon als Kind mit Gesichtern schwertat. Diese Form der Prosopometamorphopsie könnte aus Problemen bei der Entwicklung der Gesichtswahrnehmung resultieren.

Video-Tipp

Der Psychologe Antônio Mello aus dem Team von Brad Duchaine schildert auf Youtube, wie es ihnen gelang, einen Fall von Prosopometamorphopsie zu visualisieren.

Duchaine und seinem Team ist es in vielen Fällen gelungen, die Störung zu mildern, darunter bei vier Betroffenen, deren Verzerrungen sich durch Farben beeinflussen ließen. Bei Veronica Smith etwa sind die Verzerrungen weniger stark, wenn sie durch orangefarbene Brillengläser blickt. In anderen Fällen lassen sich die Verzerrungen reduzieren oder verschwinden sogar, wenn die Person, deren Gesicht verzerrt erscheint, selbst eine Brille aufsetzt.

Dass sich bereits 60 Betroffene an Duchaine gewandt haben, deutet für ihn darauf hin, dass die Sehstörung häufiger ist als lange angenommen. Er hofft, mit seinen Veröffentlichungen noch mehr Menschen mit PMO zu erreichen, um sie untersuchen und ihnen vielleicht auch etwas Linderung verschaffen zu können. »Sie sind irgendwo da draußen«, sagt er.

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