Psychiatrie: »Schizophrenie gibt es nicht«
Stellen Sie sich vor, Sie sind jung und bekommen die Diagnose Schizophrenie. Das bedeutet: eine unheilbare Hirnerkrankung, wegen der Sie wahrscheinlich kein eigenes Auskommen haben werden, wegen der Sie den Rest Ihres Lebens Medikamente mit vielen Nebenwirkungen einnehmen müssen und ein erhöhtes Risiko haben, früh zu sterben.
Der reinste Unsinn, sagt der Psychiater und Epidemiologe Jim van Os von der Universität Utrecht. Van Os ist bekannt für sein Engagement für eine patientenorientierte Diagnostik. Nach 50 Jahren intensiver Forschung gebe es immer noch keine Hirnmarker und keinen Bluttest für Schizophrenie, sagt er. »Es gibt kein klar definiertes Krankheitsbild, nur verschiedene psychotische Symptome, die sich in Schweregrad und Dauer unterscheiden. Mit anderen Worten: Es handelt sich um ein Spektrum mit einem Mix von Symptomen, der bei jedem Menschen anders ausfällt.«
Warum kann ein Patient auf das Label »Schizophrenie« verzichten?
Wenn ich sage, dass Schizophrenie nicht existiert, ist das eine pragmatische Beobachtung. Der Begriff Schizophrenie ist verwirrend und medizinisch unbrauchbar. Das DSM-5, die US-amerikanische Psychiatrie-Bibel, zeichnet ein sehr pessimistisches Bild von Schizophrenie. Natürlich gibt es Betroffene, die einer Pflege bedürfen. Aber das DSM verwechselt Diagnose und Prognose: Um die Diagnose zu erhalten, muss die Symptomatik schon etwas chronifiziert sein. Medizinisch gesehen ist es jedoch keine gute Idee, die beiden zu vermischen. In den USA gilt Schizophrenie außerdem als Hirnerkrankung. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht falsch. Die Epidemiologie zeigt, dass es sich psychologisch gesehen um ein breites Phänomen handelt.
Nur 30 Prozent der Menschen mit Psychosen leiden unter einer Schizophrenie
Sinan Guloksuz, Jim van Os: The Slow Death of the Concept of Schizophrenia and the Painful Birth of the Psychosis Spectrum. Psychological Medicine 2018
Ihrer Meinung nach bevorzugen die Patienten selbst den Begriff »Psychoseanfälligkeit«.
In der Tat, und so sehe ich das auch. Jeder Mensch neigt in einem gewissen Maß zu Psychosen, der eine mehr, der andere weniger. 3,5 Prozent der Menschen leiden darunter; dann kann man von einem Psychose-Spektrum-Syndrom sprechen. Als Mitglied der Arbeitsgruppe Psychosen für das DSM-5 fand ich, dass die Experten der Autismus-Arbeitsgruppe zu einem interessanten Schluss gekommen waren: All die verschiedenen Autismusdiagnosen – Asperger und dergleichen – führen zu nichts. Aus wissenschaftlicher Sicht überschneiden sie sich, haben dieselben Ursachen und sind in Verlauf und Symptomen nicht voneinander zu unterscheiden. Mit anderen Worten: Es gibt keine klaren Grenzen. Warum sagt man dann nicht einfach, dass es ein Spektrum ist? Daher der Begriff Autismus-Spektrum-Störungen oder ASS. Auch bei den Psychosen wissen wir seit Langem, dass es sich um ein breites Spektrum mit vielen Erscheinungsformen handelt, die von genetischen, sozialen und Umweltfaktoren abhängen. Doch weil Psychiater alle Psychosen als Schizophrenie ansehen, konzentrieren sich rund 90 Prozent der wissenschaftlichen Studien einzig darauf. In der renommierten Fachzeitschrift »Science« beschreiben amerikanische Wissenschaftler Schizophrenie als eine »verheerende genetische Hirnerkrankung«. Man leide darunter für den Rest des Lebens. Das ist ziemlich fatalistisch und überdies wissenschaftlich falsch. Denn wir wissen aus vielen genetischen Studien, dass Tausende von Genvarianten zum Risiko einer Psychose und Schizophrenie beitragen. Einige Menschen haben ein sehr hohes erblich bedingtes Risiko, sind aber nicht behandlungsbedürftig oder haben nur eine sehr leichte Form. Sie nehmen zum Beispiel seltsame Dinge wahr. Doch das passiert ab und zu jedem. Wenn man Stimmen hört, ist das kein Grund zur Panik. Es ist eine sehr menschliche Erfahrung.
Seit zehn Jahren fordern Sie nunmehr, die Diagnose Schizophrenie abzuschaffen. Im Fernen Osten ist das inzwischen geschehen.
In Japan, Südkorea und Hongkong haben Scham und Stigmatisierung eine viel größere Bedeutung. Der Begriff Schizophrenie verweist auf einen gespaltenen Geist. In Japan war die Diagnose Schizophrenie zu einem verkappten Auftrag zum Suizid geworden. Implizit bedeutete die Diagnose für die Betroffenen, dass sie nicht mehr willkommen waren und von ihnen erwartet wurde, dass sie sich das Leben nehmen. Schließlich wurde der Begriff auf Druck des Gesundheitsministeriums geändert: Sie haben ein Syndrom daraus gemacht, das eine Anfälligkeit für Psychosen ausdrückt. Das mindert die Hoffnungslosigkeit der Betroffenen und mit der Diagnose verbundene Selbsttötungsgedanken.
Warum zählen Wissenschaftler Schizophrenie zu den genetisch bedingten Hirnerkrankungen?
Die Biopsychiatrie in den USA hat in allen möglichen Studien nach Zusammenhängen zwischen Hirnphysiologie und dem Auftreten einer Schizophrenie gesucht. Was ist dabei herausgekommen? Nichts. Zumindest nichts Relevantes. Die Patienten, die im Hirnscanner untersucht wurden, lebten isoliert, sie rauchten, ernährten sich ungesund, waren übergewichtig und hatten keinen Job. Man stellte fest, dass sie ein um zwei bis drei Prozent kleineres Hirnvolumen hatten. Was für eine Erkenntnis! Interessant war der Befund, dass ihre Eltern, Brüder und Schwestern womöglich ebenfalls ein etwas kleineres Gehirn als der Durchschnitt haben. Aber die Familienmitglieder teilen auch belastende Umweltfaktoren wie Traumata und Vernachlässigung. Es wurden also einige biologische und genetische Merkmale gefunden, doch daraus kann man nicht schließen, dass es sich um eine Hirnerkrankung handelt.
Sie schlagen vor, von einem Syndrom zu sprechen.
In der Heilkunde bedeutet ein Syndrom so viel wie: Man weiß es nicht so genau. Es handelt sich um eine Gruppe von Symptomen und Erscheinungsformen, die Dutzende verschiedene Erkrankungen umfassen können. Jeder bekommt innerhalb dieses Syndroms eine persönliche Diagnose, je nach Beschwerdebild. Es kann sich von Patient zu Patient stark unterscheiden. Deshalb ist es sinnvoll, alle Arten von psychotischen Störungen zu einem Syndrom zu bündeln, sie zu erfassen, zu ordnen und weiter zu untersuchen. Eigentlich sind alle psychologischen Leiden eng miteinander verwandt. In der Genetik kann man das sehr gut erkennen. Die Merkmale einer Schizophrenie überschneiden sich mit denen von ADHS, Depression und Autismus. Der umfassende Begriff eines Syndroms fängt das sehr gut auf. Es bildet den Ausgangspunkt für die Forschung, zum Beispiel, um innerhalb des Syndroms Untergruppen zu entdecken. Darüber hinaus zwingt die breite Formulierung eines Syndroms den Arzt zu einer weiterführenden individuellen Diagnostik. In den Niederlanden zahlt die Krankenversicherung erst, wenn ein Patient eine psychiatrische Diagnose bekommen hat. In Belgien ist das anders. Hier hat der Hohe Gesundheitsrat einen Ausschuss eingerichtet, dem unter anderem ich als externer Berater angehört habe. Wir haben empfohlen, auf die DSM-Diagnosen zu verzichten. In den Niederlanden ist das nicht möglich, da das DSM zu einem politischen Instrument im Gesundheitssystem geworden ist. Die Diagnose öffnet die Tür zu diesem System.
Es ist ungewöhnlich, dass eine Gruppe von Wissenschaftlern die DSM-Diagnostik so explizit in Frage stellt. Haben Sie und Ihre Kollegen in diesem Ausschuss Pionierarbeit geleistet?
Ich denke schon. Was ich interessant fand, war der interdisziplinäre Ansatz; es waren auch Philosophen dabei. Dem Gesundheitsrat ging es nicht allein um medizinische Fragen. Bis vor Kurzem herrschte hier der Standpunkt der biologischen Psychiatrie vor, die implizit auf einem Modell basiert, wonach das Gehirn den Geist verursacht. Das ist völlig veraltet, wie die Philosophie des Geistes erklärt. Wir wissen heute, dass dieses Modell enorm zur Stigmatisierung beiträgt. Das macht das Problem nur noch schlimmer. Deshalb sagten die Belgier: Wir brauchen Philosophen; ihre Perspektive ist sehr wichtig für ein stärker wissenschaftsbasiertes Modell.
Für eine patientenzentrierte Psychiatrie
2016 beauftragte die belgische Regierung eine Expertengruppe aus Forschung und Praxis, die psychiatrische Diagnostik zu prüfen. Deren Fazit 2019: Die kategoriale Diagnostik habe sich weder als zuverlässig noch als valide oder prognostisch aussagekräftig erwiesen. Die Störungskategorien seien nicht naturgegeben, Symptome und Leiden vielmehr vor dem Hintergrund der Biografie und existenzieller oder sozialer Probleme zu verstehen. Sie fordern, bei Diagnose und Behandlung zu berücksichtigen, wie die Betroffenen ihre Symptome wahrnehmen und welchen Sinn sie ihnen zuschreiben.
Der biomedizinische Ansatz reduziert Menschen auf eine Art Maschine, so lautet die Kritik. Für das Problem X wäre das Medikament Y die einzig mögliche Lösung.
Dem halte ich entgegen, dass Psychiatrie die Wissenschaft des Nichtwissens ist. Deshalb ist sie keineswegs schlecht. Sie ist nur sehr kompliziert. Der Hohe Gesundheitsrat hat dem nachdrücklich Rechnung getragen und die Betroffenen, die Psychiatrieerfahrenen, ebenfalls eingeladen. In den Niederlanden und in Belgien haben wir PsychoseNet ins Leben gerufen, eine digitale Community, in der erfahrene Betroffene, Interessenvertreter und Fachleute einander unterstützen.
Die Wissenschaft des Nichtwissens …? Finden Sie sich damit ab, dass die Psychiatrie kaum etwas weiß?
Nein. Zweifelsohne werden wir eines Tages mehr wissen. Wir brauchen einen multidisziplinären Ansatz. Für unsere Forschung haben wir Experten aus der Quantenmechanik hinzugezogen, weil wir vermuten, dass Bewusstsein, Selbstreflexion und die Beziehung zwischen Gehirn und Geist damit zu tun haben. Die Forschung in der Psychiatrie konzentriert sich auf das physikalisch Messbare, das Geistige zählt nicht dazu. Doch werden Beschwerden auf ebendieser Ebene erfahren. Was genau ist dieser immaterielle Geist? Wenn du herausfinden willst, wie sich die materielle zur immateriellem Welt verhält, ist es am besten, den Geist als eine emergente Eigenschaft zu beschreiben (die Eigenschaft eines komplexen Systems, über das dessen einzelne Teile nicht verfügen – die Redaktion). Gibt es einen freien Willen oder nicht? Das ist eine Frage, die Philosophen und andere Wissenschaftler heiß diskutieren. Im immateriellen Geist sind eine Menge Dinge miteinander verbunden, wobei das eine Gefühl zum anderen führen kann. Das Gleiche gilt für die Gedanken. Das Immaterielle verursacht etwas anderes Immaterielles. Leider wird diese Betrachtungsweise in der Forschung kaum ernst genommen.
Kann man etwas Immaterielles denn überhaupt erforschen?
Das glaube ich schon. Die Quantenmechanik bietet viele Möglichkeiten, emergente Phänomene zu untersuchen. Wir haben nur noch nicht damit begonnen. Inzwischen wissen wir, dass bei einer Psychose die normale geistige Aktivität auf Hochtouren läuft. Wer Wahnvorstellungen und Halluzinationen hat, schreibt den Dingen in seiner Umgebung eine viel zu persönliche Bedeutung zu. Wer traumatisiert ist, betrachtet die Welt durch eine Brille des Misstrauens und sieht mehr, als es andere tun. Jeder von uns kennt Menschen, die in alles etwas hineindeuten. Aber die meisten von ihnen hindert das nicht daran, ihren Alltag zu meistern. Bei einigen geht es jedoch so weit, dass sie den Kontakt mit der geteilten Wirklichkeit verlieren. Sie schauen fern und meinen, an einer Flutkatastrophe in Bangladesch schuld zu sein. »Sie haben eigentlich mit mir gesprochen«, denken sie. Das ist unheimlich, da passt etwas nicht mehr, es entsteht ein sozialer Konflikt. Und das heißt Psychose. Die Interpretation der Realität läuft aus dem Ruder; sie wird zu sehr durch die Brille der eigenen Emotionen gesehen. Die persönlichen Gefühle bestimmen die Konstruktion der Wirklichkeit. Das ist also keine Krankheit, sondern ein Kontinuum. Deshalb sollten wir aufhören, den Begriff »Schizophrenie« zu gebrauchen.
Bekommen Patienten mit einer psychotischen Störung in der Regel die richtige Therapie?
Oft ist das nicht der Fall. Glücklicherweise kann man beobachten, dass sich das Therapiekonzept verändert. In Norwegen zum Beispiel kann man wählen – sofern man zu eigenen Entscheidungen in der Lage ist –, ob man mit Antipsychotika behandelt werden will. In den Niederlanden ist es selbstverständlich, bei Psychosen Antipsychotika zu geben. Wenn Sie als Arzt akzeptieren, dass ein Patient keine Pillen will, wird Ihnen dort medizinisches Fehlverhalten vorgeworfen. Aber aus der Forschung wissen wir, dass eine Menge psychische Leiden einen existenziellen Ursprung haben. Sie können ein Signal dafür sein, dass man im Leben die falsche Wahl getroffen hat: falscher Partner, falscher Job, manchmal die falsche Gesellschaft … und dass man etwas in seinem Leben ändern muss. Dann muss man ein psychisches Leiden auch auf dieser existenziellen Ebene lösen.
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