Psychologie: Phänomene der Warteschlange
Ein bis zwei Jahre unseres Lebens verbringen wir im Schnitt wartend: auf die Bahn, den Arzttermin oder den Pizzalieferanten. Für die meisten ist diese Untätigkeit eine Qual. Für manche sogar so sehr, dass sie bereit sind, hunderte von Euro zu zahlen, nur um nicht anstehen zu müssen. Ganze Geschäftsmodelle wie das "Priority Boarding" am Flughafen beruhen darauf.
Gerade Kinder können einen Aufschub der ersehnten Belohnung kaum ertragen. Das zeigte die berühmte Studienreihe des US-Psychologen Walter Mischel, die als "Marshmallow-Experiment" in die Geschichte einging. Mischel und sein Team boten Jungen und Mädchen im Alter von sechs Monaten bis fünf Jahren eine Süßigkeit an und stellten sie vor die Wahl: Entweder sie aßen diese sofort oder sie warteten 15 Minuten, bis der Versuchsleiter zurückkehrte und ihnen die doppelte Ration gab. Ein Viertel der kleinen Probanden schlug das Angebot aus und verputzte den Leckerbissen auf der Stelle. Von denen, die sich auf den Deal einließen, überstand ein Drittel die Wartezeit. Wie sich zeigte, hatten die Kinder, die der Versuchung widerstanden, im weiteren Leben einen Vorteil. Sie bekamen im Schnitt bessere Schulnoten, machten höhere Bildungsabschlüsse, waren geschickter im sozialen Umgang und bewältigten Stress eher.
Wartenkönnen ist also möglicherweise ein Indikator für Erfolg. Doch dafür braucht es neben Selbstkontrolle eine differenzierte Zeitwahrnehmung, die Kinder erst etwa ab dem dritten Lebensjahr entwickeln. Vorschulkinder handeln eher impulsiv und besitzen noch kaum hilfreiche Strategien, sich zurückzuhalten. Sie neigen dazu, sich auf das Objekt der Begierde und all seine verführerischen Eigenschaften zu konzentrieren. Mit fünf Jahren erkennen Kinder zunehmend, dass das kontraproduktiv ist, und versuchen sich stattdessen bewusst abzulenken. In der Pubertät reift die Willenskraft weiter und bleibt über das gesamte Leben relativ stabil.
Doch auch Erwachsene haben oft noch Probleme, sich zu gedulden. Wie unangenehm das Warten ist, hängt dabei gar nicht davon ab, wie lang es tatsächlich dauert, bis wir an der Reihe sind. Entscheidend ist, wie lang sich die Wartezeit anfühlt. Denn das Zeiterleben ist subjektiv: Einmal verfliegt die Zeit nur so, ein andermal kriecht sie dahin – und gerade an der Supermarktkasse scheinen die Uhren quälend langsam zu ticken. Ein Grund dafür ist die Langeweile. Wer beschäftigt ist, für den vergeht die Zeit buchstäblich schneller, wie eine Studie der Psychologin Madalina Sucala, heute an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York tätig, zeigte. Sie und ihr Team legten Studenten einen Text vor und baten sie, entweder nur alle Wörter mit dem Anfangsbuchstaben "S" zu markieren oder zusätzlich Synonyme für diese zu finden. Diejenigen mit der komplexeren Aufgabe unterschätzten anschließend, wie viele Minuten sie mit der Aufgabe verbracht hatten.
Supermarktkasse bietet zu wenig Ablenkung
Noch stärker war der Effekt, wenn die Probanden dabei unter Zeitdruck standen. Die Erklärung der Forscher: Wer in eine Tätigkeit versunken ist, hat weniger Aufmerksamkeitsressourcen zur Verfügung, um gleichzeitig die Zeit zu verfolgen. An der Supermarktkasse bleibt demnach genügend Kapazität, sich voll und ganz jeder verstreichenden Minute zu widmen. Was die neuronalen Grundlagen unserer inneren Uhr betrifft, sind bislang noch viele Fragen offen. Allerdings scheint der rechte Parietallappen eine wichtige Rolle bei der Zeitwahrnehmung zu spielen: Patienten mit Schädigungen in diesem Hirnareal können kurze Zeitspannen schlecht abschätzen.
Die Betreiber des George Bush Intercontinental Airport in Houston kämpften lange Zeit mit Beschwerden von Fluggästen, die Gepäckvergabe dauere zu lange. Daraufhin stellten sie neue Mitarbeiter ein, die Wartezeit sank – doch die Unzufriedenheit blieb. Wie sich herausstellte, erschien den Reisenden die Wartezeit so lang, weil die Rollbänder nur wenige Meter von der Ankunftshalle entfernt waren. Kurzerhand wurden diese ans andere Ende des Gebäudes verlegt, und die Beschwerden blieben aus. Offenbar laufen wir sogar lieber quer durch einen Flughafen als passiv abzuwarten – Hauptsache, wir sind beschäftigt.
Wie gut wir Verzögerungen aushalten, hängt aber nicht zuletzt von unserer seelischen Verfassung ab. Anspannung lässt die Wartezeit länger erscheinen. Dazu gehört die Angst, sich an der falschen Schlange angestellt zu haben, was bekanntlich meist der Fall ist. Hinter diesem ärgerlichen Phänomen steckt schlicht, dass bei mehr als zwei Kassen die Wahrscheinlichkeit steigt, nicht gerade die gewählt zu haben, die am zügigsten vorankommt.
Gesellschaftliche Phänomene im Mikrokosmos von Warteschlangen
Wir haben keinen Einfluss darauf, wie schnell wir bedient werden, und reagieren in dieser machtlosen Position äußerst empfindlich auf Ungerechtigkeit: Überholt uns jemand an einer anderen Kassenschlange, der sich später angestellt hat, zerrt das an den Nerven. Es gibt jedoch durchaus Möglichkeiten, das Anstehen fairer zu organisieren: statt mehrerer paralleler Schlangen eine lange, die mehrere Schalter speist, wie man es etwa von der Post kennt. So wird garantiert, dass immer derjenige zuerst an die Reihe kommt, der früher da war. Das vermeidet Stress und macht das Anstehen weniger unangenehm.
Was passiert, wenn jemand die soziale Norm beim Schlangestehen verletzt, untersuchte 1986 der Sozialpsychologe Stanley Milgram, der einige Jahre zuvor die Öffentlichkeit mit seinem Experiment schockierte, das zeigte, wie leicht Menschen bereit sind, anderen im Namen des Gehorsams zu schaden. Diesmal bat Milgram seine Assistenten, sich in verschiedensten New Yorker Warteschlangen dreist vorzudrängeln. Sie reihten sich mit den Worten "Entschuldigen Sie, ich möchte hier rein" vor der vierten Person ein und gingen nach einer Minute wieder, sofern sie nicht vorher vertrieben wurden. Überraschenderweise reagierten die Wartenden überwiegend recht kleinlaut. In zehn Prozent der Fälle versperrten sie dem Eindringling den Weg, lediglich in der Hälfte der Fälle protestierte überhaupt jemand: manchmal nur mit einer Geste oder einem bösen Blick. Anders sah es aus, wenn sich ein zweiter Vordrängler dazugesellte. Dann schnellte die Protestrate auf 91 Prozent. Einen Abweichler scheint die Gruppe zu tolerieren, mehrere jedoch nicht. Milgram fand, dass sich gesellschaftliche Phänomene gut im Mikrokosmos von Warteschlangen beobachten lassen.
Auch Betreiber von Freizeitparks wissen, wie ungern Menschen warten – vor allem mit dem Nachwuchs im Schlepptau. Deshalb installieren sie vor jeder Attraktion eine Tafel, die angibt, wie lange es voraussichtlich bis zur Achterbahnfahrt dauern wird. Das reduziert Unsicherheit und lässt die Wartezeit kürzer erscheinen. Und noch einen Trick nutzen Disneyland & Co: Die Anzeige übertreibt leicht. Steht auf der Tafel 45 Minuten, kann man eher einer halben Stunde rechnen. So sind die Besucher am Ende positiv überrascht und besteigen die Achterbahn gut gelaunt. Diese letzten Momente sind es, die unseren Eindruck von einem Erlebnis bestimmen. Das ist eine entscheidende Einsicht aus der Arbeit des israelisch-US-amerikanischen Psychologen Daniel Kahnemann. Er fand heraus, dass keineswegs jeder Moment gleichwertig in unsere nachträgliche Gesamtbeurteilung eingeht. Stattdessen bestimmen einzelne mentale Schnappschüsse das Bild, das unser Gedächtnis zusammensetzt.
Warten ist auch ein kulturelles Phänomen
Menschen sind sogar bereit, mehr Schmerzen zu ertragen, solange sich ihre Situation am Ende verbessert: Kahnemann und Kollegen ließen Probanden zwei Versionen einer unangenehmen Aufgabe durchführen. Zuerst sollten sie eine Hand für 60 Sekunden in 14 Grad kaltes Wasser tauchen. Im zweiten Durchgang hielten sie die andere Hand für 90 Sekunden in das gleiche Becken, welches der Versuchsleiter jedoch in den letzten 30 Sekunden unbemerkt auf minimal angenehmere 15 Grad erwärmte. Vor die Wahl gestellt, welche Version sie wiederholen wollten, entschied sich die Mehrzahl der Versuchspersonen für die zweite – weil ihnen dieser Durchgang im Nachhinein weniger schlimm erschien.
Dass uns das Warten so schwerfällt, ist indes auch ein kulturelles Phänomen. In anderen Teilen der Welt hat man weniger Probleme damit, Verzögerungen hinzunehmen. Die moderne westliche Zeitvorstellung ist eng mit dem Kapitalismus verwoben. Zeit ist Geld – das wusste angeblich sogar schon Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA. Tatsächlich unterscheidet sich das Konzept von Zeit in unterschiedlichen Kulturen frappant.
Der US-amerikanische Anthropologe und Ethnologe Edward T. Hall (1914-2009) trug entscheidend dazu bei, diese Unterschiede aufzudecken. Dazu beobachtete und befragte er Einheimische, analysierte Schriftstücke und Institutionen verschiedener Kulturen und verglich diese als einer der ersten seines Fachs im Hinblick auf deren Umgang mit Zeit. Für die Deutschen vergeht die Zeit nach Halls Theorie linear: Sie ist begrenzt und kann somit auch "verschwendet" werden. Das Geschehen läuft Schritt für Schritt nacheinander ab, und produktive Phasen und Pausen werden streng voneinander getrennt. Die meist individualistisch geprägten Kulturen mit einem linearen Zeitkonzept legen demnach Wert auf Pünktlichkeit, mögen keine Unterbrechungen, planen ihren Alltag sehr genau und beschränken sich gerne auf eine Tätigkeit auf einmal. Das ist möglicherweise mit ein Grund, warum uns erzwungene Pausen so sehr belasten: Sie drohen, diesen strengen Zeitplan durcheinanderzubringen.
Was uns selbstverständlich erscheint, kommt Menschen aus traditionell-kollektivistischen Regionen Südamerikas, Asiens oder Afrikas wahrscheinlich allzu rigide vor. Menschen aus diesen Kulturkreisen versuchen laut Hall meist, mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen, unterscheiden dafür aber weniger zwischen Arbeit und Freizeit oder unproduktiven und produktiven Phasen. Einige Anthropologen führen das darauf zurück, dass in deren Vorstellung die Zeit nicht unbedingt linear, sondern vielmehr zirkulär verginge.
Das Leben als ein endloser Kreislauf
Wie die natürlichen Kreisläufe von Tag und Nacht oder Ebbe und Flut kehre sie verlässlich wieder: Auf jeden Abend folgt ein neuer Morgen. Wer ein solches Zeitkonzept habe, orientiere sich verstärkt an wiederkehrenden Routinen und sozialen Ereignissen wie Festen und Bräuchen. Die in diesen Gegenden vorherrschenden Religionen beinhalten häufig eine zyklische Sicht auf das Leben, etwa "samsara", den endlosen Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt im Buddhismus und Hinduismus. Diese grobe Einteilung der Vielfalt an Kulturen ist allerdings umstritten.
Viele Erkenntnisse über den kulturellen Umgang mit Zeit, die Hall und seine Kollegen mit heuristischen Methoden gewannen, konnten jedoch mittlerweile empirisch abgesichert werden. In einer vergleichenden Studie zwischen US-Amerikanern und Brasilianern zeigte der Sozialpsychologe Robert Levine von der California State University in Fresno, dass Brasilianer tatsächlich eher dazu neigen, zu Verabredungen zu spät zu kommen, umgekehrt aber auch verständnisvoller sind, wenn jemand sie warten lässt. Außerdem offenbarte die Studie, dass sowohl die öffentlichen als auch Armbanduhren in dem südamerikanischen Land ungenauer gehen als in den USA und dass die Brasilianer im Vergleich die Tageszeit schlechter abschätzen können. Zwar könnte die laxe Einstellung zur Pünktlichkeit auch auf die ungenaue Zeitmessung zurückzuführen sein, allerdings ist es plausibler, dass die Brasilianer ihre Uhren nicht genauer stellen, weil sie kulturell bedingt weniger Wert auf einen streng getakteten Tagesablauf legen, so die Autoren.
Dass in manchen Nationen weniger Eile herrscht, illustrierte Levine in einer Landkarte der Zeit. Er maß das Lebenstempo in 31 Ländern, indem er unter anderem erhob, wie schnell sich Fußgänger durch die Innenstadt bewegen, wie lange Postangestellte brauchen, um eine Briefmarke zu verkaufen, und erneut, wie genau die öffentlichen Uhren ticken. Ganz an der Spitze der Gehetzten: die Schweiz. Obwohl diese Werte als absolutes Maß für das Lebenstempo nicht ganz stichhaltig sind, so zeigt sich doch ein klarer Trend von Westeuropa über Japan und die USA zu afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern. Je florierender die Wirtschaft und individualistischer die Kultur, desto schneller der Alltag also.
Wer der allgegenwärtigen Hektik entgegenwirken will, sollte beim nächsten Schlangestehen tief durchatmen und sich ablenken – vielleicht sogar mit einem Gespräch mit dem Hintermann. Denn auch das ist wissenschaftlich belegt: Gemeinsam wartet es sich besser als allein. So ließ ein Team um Shumin Feng vom Harbin Institute of Technology in China 234 Menschen an verschiedenen Bushaltestellen einen Fragebogen ausfüllen und einschätzen, wie lange sie glaubten, bisher gewartet zu haben. Mit Hilfe der Angaben zu Alter, Stimmung, Ziel der Fahrt et cetera wollten die Forscher Faktoren ermitteln, die das Warten erträglicher machen. Es zeigte sich: Wer einen Begleiter dabeihatte, mit dem er sich unterhalten konnte, empfand die Wartezeit im Schnitt als kürzer.
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