Laborstudien: Die Psyche des Menschen ist komplexer
Oxytozin hat in den Medien nicht nur den Ruf des Kuschel- und Liebeshormons, sondern auch des Vertrauenshormons. Letzteres scheinen psychologische Studien eindrucksvoll zu belegen. Nach Einnahme von Oxytozin in Form eines synthetisch hergestellten Nasensprays vertrauen Probanden in ökonomischen Spielen um Geld einem unbekannten Spielpartner viel häufiger als Versuchspersonen, die nur ein Placebo erhalten hatten. Doch mittlerweile mehren sich die Zweifel, ob man den Befunden zum Vertrauenshormon selbst rundheraus vertrauen kann. So fand etwa ein Team um den Psychologen Anthony Lane von der Université catholique de Louvain keinen Unterschied zwischen Menschen, die einige Sprühstoßer des Vertrauenshormons erhalten hatten, und einer Kontrollgruppe. Und diese Studie, die 2015 im Fachblatt "PloS ONE" erschienen ist, ist längst nicht die einzige ihrer Art.
Wie kommt es zu den unterschiedlichen Ergebnissen? Unter natürlichen Bedingungen wird das Neuropeptid Oxytozin im Hypothalamus hergestellt und sowohl im Gehirn als auch ins periphere Nervensystem ausgeschüttet. Ganz anders sieht die Situation allerdings unter den künstlichen Bedingungen des Labors aus. Es ist unter Forschern umstritten, ob das Molekül mit dem schillernden Ruf als Nasenspray verabreicht überhaupt das Gehirn erreicht. Außerdem spielen beim Vertrauen immer noch zahlreiche andere Faktoren eine Rolle. Daher wird die Wirkung von Oxytozin auf Vertrauen von sehr vielen komplexen und individuellen Faktoren beeinflusst – sie hängt etwa davon ab, ob ein Proband soziale Zurückweisung fürchtet oder ob er eher Angst vor Bindungen hat.
Am Beispiel Oxytozin zeigt sich, was für viele Studien in der Psychologie gilt. Zwar scheinen sie direkt etwas über uns, unser Leben und Erleben auszusagen. Doch die psychologische Forschung findet oft nicht dort statt, wo man sie vielleicht vermuten würde: im realen Leben. Vielmehr entstehen Studien unter extrem künstlichen Bedingungen, die der Vielfalt des Wirklichkeit und der Menschen außerhalb des Labors nicht immer gerecht werden. Freilich haben Psychologen gute Gründe für ihr Vorgehen. Die alltägliche Wirklichkeit steckt voller Unwägbarkeiten und lässt sich nur bedingt berechnen. Im Labor hingegen haben Wissenschaftler idealerweise alle Versuchsbedingungen und Einflussfaktoren unter Kontrolle. Wollen sie etwa den Zusammenhang zwischen Oxytozin und Vertrauen prüfen, sollen sich zwei Gruppen von Versuchspersonen nach Möglichkeit nur in einem einzigen Kriterium unterscheiden: Die einen bekommen das Molekül, die anderen eben nicht.
Kontrolle versus Realitätsnähe
"Letztlich muss man immer abwägen", sagt der Sozial- und Wirtschaftspsychologe Stefan Schulz-Hardt von der Universität Göttingen. Wenn man Feldforschung nah an der Lebenswelt der Menschen betreibe, seien die Erkenntnisse eher ökologisch valide, will heißen über das Labor hinaus auch für das Alltagsgeschehen gültig. "Man muss damit aber auch die strenge experimentelle Kontrolle preisgeben." In der experimentellen Laborforschung hingegen habe man die größtmögliche Kontrolle, sei aber üblicherweise relativ weit von der alltäglichen Welt der Menschen entfernt. Dabei ist es längst nicht für alle Themen wichtig, dass Studien ökologisch valide sind. "Möchte ich etwa ganz grundlegende Gesetzmäßigkeiten von Denk- oder Wahrnehmungsprozessen untersuchen, dann brauche ich dafür keine echte Lebensumwelt", so Schulz-Hardt. Das könne man auch wunderbar im Labor erforschen. Denn wenn diese Prozesse tatsächlich so grundlegend sind, müssen sie sich auch im Labor zeigen. "Möchte ich hingegen einen Aspekt mit vorrangig praktischem Bezug untersuchen wie etwa den Einfluss der Pausenregelung auf die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter, dann muss eine Studie natürlich ökologisch valide sein."
Ganz realen Bezug hat eine Forschungsrichtung, die sogar auf unsere Gesellschaft Einfluss hat. Denn wenn wieder einmal ein Jugendlicher zum Amokläufer mutiert, ist in der medialen und politischen Diskussion ein Mitschuldiger schnell ausgemacht: der Konsum von gewalttätigen Videospielen, die der Täter auf seinem Rechner hatte. Immerhin kann sich die öffentliche Diskussion bei solchen Amokläufen von Jugendlichen auf einen scheinbar zuverlässigen Kronzeugen verlassen, die psychologische Forschung selbst. Schließlich gehen einige Psychologen tatsächlich davon aus, dass brutale Videospiele einer der Risikofaktoren für Aggressionen und Gewalttätigkeit sind.
Nun sollte man meinen, diese Wissenschaftler hätten vielleicht einen Zusammenhang zwischen Videospielkonsum und realem gewalttätigem Verhalten aufgespürt. Oder wenigstens im Labor aggressives Verhalten realistisch nachgestellt. Doch weit gefehlt! Aus ethischen Gründen können Forscher Menschen natürlich nicht in eine Situation bringen, in der sie wie im realen Leben aggressiv miteinander umgehen und sich ernsthaft Schaden zufügen. Der am häufigsten verwendete Test, um Aggressionen im Labor zu messen, ist daher ein Reaktionszeitspiel. Die Aufgabe des Probanden ist es, beim Anblick eines Signals auf dem Bildschirm möglichst schnell die Leertaste drücken. Die Versuchsperson tritt dabei gegen einen vermeintlichen Gegner im Nebenraum an, der in Wirklichkeit gar nicht existiert. Tatsächlich spielt die Person gegen ein Computerprogramm, das schon vor Spielbeginn über Sieg und Niederlage entschieden hat. Der Gewinner einer Runde kann dann den Verlierer mit einem unangenehmen Geräusch wie dem Kratzen von Nägeln über eine Schiefertafel oder ein lautes Fiepen "bestrafen". Je lauter und länger der Proband den unbekannten Spielpartner bestraft, desto aggressiver ist er selbst vermeintlich. Und verhält er sich nach dem Spielen eines gewalttätigen Videogames in diesem Sinn "aggressiver", scheint der Fall klar.
"Man muss mit vorschnellen Verallgemeinerungen zum Thema Videospiele und Aggression vorsichtig sein, die ansonsten auf wackligen Füßen stehen"Malte Elson
"Aus meiner Sicht bleibt allerdings fraglich, ob das Reaktionszeitspiel ein gutes Maß für Aggressionen darstellt", sagt der Psychologe Malte Elson von der Universität Bochum. Denn der Test habe wenig Ähnlichkeit mit Situationen aus dem Alltag. Das fange schon damit an, dass man im realen Leben in den meisten Fällen das Opfer des eigenen aggressiven Verhaltens sieht. Außerdem seien die Geräusche im Labor zwar ganz schön unangenehm. "Aber es ist dennoch keine Form von Aggression, an die man denkt, wenn Forscher in Studien und in den Medien davon sprechen, dass Videospiele gewalttätig machen."
Malte Elson hat zudem in einer Studie von 2014 herausgefunden, dass die Berechnungen des "Aggressionswerts" im Labor in mehr als 100 Studien sehr unterschiedlich ausgefallen sind. Mit Kollegen hat er sich dann daran gemacht, die Datensätze aus einigen Studien zu dem Thema mit den verschiedenen Auswertungsmethoden durchzurechnen. "Dabei hat sich herausgestellt, dass man sowohl Belege dafür finden kann, dass Gewalt in Computerspielen aggressiv macht, als auch dafür, dass sie keinen Effekt hat oder sogar eher friedlich macht – nur indem man verschiedene Berechnungsmethoden anwendet." Sein Fazit: "Man muss mit vorschnellen Verallgemeinerungen zum Thema Videospiele und Aggression vorsichtig sein, die ansonsten auf wackligen Füßen stehen."
Wenn Probanden sich die Realität zurechtbiegen
Doch es kommt noch besser: Warum aufwändig im Labor Verhalten unter die Lupe nehmen, wenn man es auch einfacher haben kann? Man stellt Probanden einfach Fragen, und statt Situationen aus dem echten Leben nachzustellen, sollen Versuchspersonen ihre Fantasie spielen lassen und sich in eine hypothetische Situation versetzen. Doch derartige Ergebnisse können irreführend sein, wie ein noch unveröffentlichtes Experiment des Göttinger Psychologen Stefan Schulz-Hardt zeigt. In einem der Versuche sitzt ein Proband in einem Raum an der Universität und füllt einen Fragebogen aus. Plötzlich steht ein zweiter Studienteilnehmer auf, der in Wahrheit zum Forscherteam gehört. Er schnappt sich einen im Zimmer herrenlos herumliegenden USB-Stick und fragt: "Ist das Ihrer? Nicht? Dann ist es jetzt meiner!"
Auf dem Papier – in einer Befragung – wollte mehr als die Hälfte in solch einer Situation Zivilcourage an den Tag legen und eingreifen. In Wirklichkeit tat das nur rund jeder siebte. Ein ähnliches Bild zeigte sich auch in anderen Versuchen der Wissenschaftler. "Wir vermuten, dass bei der Zivilcourage hohe soziale Kosten im Spiel sind", sagt Stefan Schulz-Hardt. "Man muss mit anderen auf sehr unangenehme Art und Weise umgehen, entweder sich beispielsweise direkt mit dem Täter auseinandersetzen oder im Fall eines Verbrechens bei der Polizei oder vor Gericht aussagen." In der Theorie glauben Menschen, sie könnten dennoch zivilcouragiert sein; in der Praxis stellt diese unangenehme soziale Situation aber offenbar eine zu große Hürde für sie dar.
"Wenn ich wissen will, was der Proband tun würde, dann komme ich eben im Normalfall um eines nicht herum: echtes Verhalten zu untersuchen"Stefan Schulz-Hardt
Dieser Unterschied zwischen grauer Theorie und lebendiger Praxis wiegt umso schwerer, wenn bei einem Forschungsthema Befragungen die Regel und nicht die Ausnahme sind. "Die Erkenntnisse zur Zivilcourage beruhen bislang hauptsächlich auf Befragungen und selten auf der Untersuchung von tatsächlichem Verhalten", erläutert Schulz-Hardt. Und aus den Ergebnissen habe man teilweise recht weitreichende Schlussfolgerungen gezogen. "Man hat behauptet, man könne die Zivilcourage in der Bevölkerung durch bestimmte Zivilcouragetrainings steigern und hat den Erfolg dieser Maßnahmen dann zum Beispiel daran festgemacht, dass die Teilnehmer hinterher öfter angeben als vorher, eingreifen zu wollen."
Befragungen versagen, wenn es um das eigene Verhalten geht
Befragungen haben ohne Zweifel auch Vorzüge. Mit vergleichsweise geringem zeitlichem und finanziellem Aufwand können Forscher viele Daten sammeln. Diese Methode eignet sich aber nicht für jede Fragestellung und jedes Thema. Befragungen mit hypothetischen Situationen zielen letztlich auf die subjektiven Theorien von Menschen ab, wonach sie zu handeln glauben. "Das funktioniert in manchen Bereichen ganz gut", sagt Schulz-Hardt. Wenn man zum Beispiel wissen möchte, wie Probanden bestimmte Verhaltensweisen bei anderen Menschen beurteilen würden, dann könne man auch mit hypothetischen Situationen arbeiten. "Aber wenn ich wissen will, was der Proband selbst in der Situation tun würde, dann komme ich eben im Normalfall um eines nicht herum: echtes Verhalten zu untersuchen."
Das ist offensichtlich auch beim Thema Liebe eine gute Idee. Wie es das Klischee will, möchte Mann vor allem eine schöne Partnerin, während Frau viel Wert auf den finanziellen Status legt. Ein Berg von psychologischen Studien untermauert dieses Klischee. Allerdings hat die Sache einen Haken: Die Vorlieben der Geschlechter stammen fast ausschließlich aus Befragungen. Doch was, wenn sich zwei Menschen wie im realen Leben plötzlich Aug in Aug gegenübersitzen und Konversation betreiben, etwa bei einem Speeddating? Psychologen um Dylan Selterman von der University of Maryland haben genau das auf die Probe gestellt. Und sie fanden keine Unterschiede in den Partnerpräferenzen zwischen den Geschlechtern. Für Männlein wie Weiblein war in der Tendenz ein attraktives Äußeres und der finanzielle Status wichtig. Und andere Untersuchungen per Speeddating zeigen auch: Entgegen aller Theorie fanden sich Menschen auch dann vom anderen angezogen, wenn er so gar nicht den zuvor geäußerten Vorlieben entsprach – etwa wenn ein Mann eine arme Kirchenmaus war, obwohl Frau sich doch eigentlich einen gut situierten Mann erträumte. Offensichtlich bewerten Menschen in ihren "theoretischen" Vorlieben einzelne Aspekte anders als in der Praxis.
All das bedeutet nun natürlich nicht, dass psychologische Laborstudien und Befragungen generell nichts taugen. Doch Meldungen wie "Videospiele machen aggressiv" oder "Männer und Frauen haben unterschiedliche Partnerpräferenzen" sollten uns aufhorchen und fragen lassen, wie die Ergebnisse überhaupt zu Stande kamen.
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