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Psychotainment: Podium fürs Volk

Tipps, Tools und viel Raum für Seelennöte – das bieten heute zahllose Podcasts, Onlinekurse, ja sogar Bühnenshows. Was macht »Psychotainment« für so viele Menschen attraktiv?
Ein Mann steht auf einer Bühne vor einem dunklen Hintergrund und hält ein Mikrofon in der Hand. Er trägt ein helles Hemd über einem weißen T-Shirt und schaut zur Seite. Die Szene deutet auf eine Bühnen- oder Vortragsveranstaltung hin.
In seinem Element: der »Psychotainer« Leon Windscheid

»Seid ihr bereit für Psychologie live?«, schallt es durch den Saal. »Ich bin Leon Windscheid, ich bin Psychologe und ich mache Wissenschaft greifbar. Ich habe die Erkenntnisse der führenden Köpfe der Forschung zusammengetragen und daraus eine Show gemacht.« So wirbt der junge Mann mit dem gewinnenden Lächeln für sein Programm »Alles Perfekt«. Seit November 2024 tourt Windscheid durchs Land und füllt Saal um Saal – von Radolfzell bis Flensburg.

Die Show beginnt um 20 Uhr. Vor dem Kurhaus Baden-Baden, wo der prominente Psychologe heute gastiert, öffnen die Geschwister Michael (31) und Katharina (27) ihre Online-Tickets für den Einlass. »Hast du das Backstage-Add-on gebucht?«, fragt sie. Die Karten hat er ihr zum Geburtstag geschenkt. Im Alltag haben beide »nichts mit Psycho« zu tun – Michael arbeitet als Informatiker, Katharina im Büro. Er schüttelt den Kopf. »Nein, 20 Euro extra für ein Foto mit Leon und einen Blick hinter in die Kulissen? Brauchen wir nicht, oder?« Katharina nickt.

Die Website von Windscheids Firma »WeMynd« hat eine Menge zu bieten: neben den Tourdaten, TV-Sendungen und Podcasts auch Business Coachings und »Master Classes«. Dieser Name, abgeleitet vom Unterricht für Meisterschüler klassischer Musiker, steht für Onlinekurse zu Themen wie »Gelassen Stark«, »Gelungen Leben« oder »Ein neuer Blick«. Kostenpunkt für die mehrwöchigen Workshops: zirka 300 bis 400 Euro.

Ins Auge springt das ausgeprägte Denglisch, das den Trendcharakter unterstreicht: Nach dem Meet&Greet beim Warm-up bearbeitet man im Workbook den ersten Deep dive. Im Safe Space der Community gibt es keine Red flags. Auf den One-to-one call mit Leon folgt ein Wrap-up, und wer will, kann auch noch Club Member werden für 12,90 Euro im Monat.

Windscheid ist beileibe nicht der einzige Anbieter in diesem Segment. Eine ähnliche Nische besetzt der Psychologe Lukas Klaschinski mit Podcasts und Auftritten zu seinem Buch »Fühl dich ganz«. Der Berliner Ex-Werbegrafiker Michael Nast wurde 2016 bekannt mit »Generation Beziehungsunfähig«, das 46 Wochen lang auf der »Spiegel«-Bestsellerliste stand. Seine aktuelle Lesetour ist fast ausverkauft. Auch Autor und Coach Lars Amend (»Why not?«), der Journalist Bas Kast (»Kompass für die Seele«) oder die Psychotherapeutin Franca Cerutti mit ihrem Podcast »Psychologie to go« und viele andere schwimmen, bei allen Unterschieden, auf der gleichen Welle und ziehen ein mehrheitlich weibliches Publikum an.

Noch nie war es so leicht, Sympathie und Zuspruch zu monetarisieren

Doch sie alle stehen im Schatten der Grande Dame der Szene – der Trierer Psychotherapeutin Stefanie Stahl, von ihren Fans »die Steffi« genannt. Ihr Buch »Das Kind in dir muss Heimat finden« führte seit 2015 achtmal die Jahresbestsellerliste an; bis heute hat es sich rund 3,2 Millionen Mal allein im deutschsprachigen Raum verkauft. Es folgte das obligatorische Workbook und das Grundlagenwerk »Wer wir sind«. Stahl bespielt zwei Podcasts – davon einen mit Lukas Klaschinski, mit dem sie auch ein Bühnenprogramm bestritt – und führt eine eigene Akademie. Im Psychosegment kommt man an ihrem »inneren Kind« kaum vorbei. Dahinter steht die Idee, man könne sein überkritisches »Schattenkind«, das Ansprüche und Verletzungen aus der Kindheit verinnerlicht hat, durch Zugang zu den eigenen Gefühlen mit dem »Sonnenkind« versöhnen.

Überhaupt, die Gefühle! Ob »Besser fühlen« (Windscheid), »Fühl dich ganz« (Klaschinski), »Fühlen lernen« (Welding) oder »Wer stärker fühlt, hat mehr vom Leben« (Sohst): Ohne Gefühle geht im populären Ratgeberfach fast nichts. Viele Empfehlungen laufen darauf hinaus, dass man seine echten, unverstellten Emotionen erkennen und zulassen sollte, denn sie zeigten unsere wahren Bedürfnisse an.

Mit ein paar Klicks ein Riesenpublikum erreichen

Der gegenwärtige Psychologie-Hype ist auch ein Produkt der Digitalisierung: Noch nie war es so leicht, Sympathie und Zuspruch zu monetarisieren. Über soziale Netzwerke sowie Podcasts erzielt man mit nicht viel mehr als einem Handy und ein paar Klicks enorme Reichweiten. So meldete sich 2024 auch die Influencerin Bianca Heinicke, deren Instagram-Kanal »BibisBeautyPalace« einst Millionen Follower hatte, nach einer Schaffenspause mit dem Bezahl-Podcast »SinnSafari« zurück. Hier geht es viel um Alltagsnöte und Awareness, um Auseinandersetzung mit sich und seinen Gefühlen sowie um den oft hinderlichen Wunsch, es allen recht zu machen.

Laut Stahl sind Empathie mit der eigenen Person und Selbstreflexion essenziell für ein gelingendes Leben. »Reflektierte Menschen sind glücklicher«, so ihre Botschaft.

Eine Frau in einem weißen Hemd sitzt lächelnd auf einem Stuhl in einem Studio mit einem Publikum im Hintergrund. Die Umgebung ist mit bunten Lichtern beleuchtet, was auf eine Fernsehsendung oder ein Event hindeutet.
Grande Dame der Psychobranche | Die Therapeutin, Autorin und Podcasterin Stefanie Stahl
»Reflektierte Menschen sind glücklicher«Stefanie Stahl, Psychotherapeutin und Bestsellerautorin

Der Persönlichkeitspsychologe Marcus Roth von der Universität Duisburg-Essen hält dagegen: »Selbstbeschäftigung dämpft im Allgemeinen das Wohlbefinden. Das ist ein stabiler, lang etablierter Befund.« Glücklich ist demnach, wer gerade nicht darüber nachdenkt, wie es ihm geht. »Wenn ich anfange, nach den Gründen zu forschen, warum ich so bin, wie ich bin, und ob ich das, was ich tue, wirklich will, wenn ich mich mit Unsicherheit und Fehlschlägen beschäftige, macht mich das kaum froher«, erklärt Roth. »Über sich zu reflektieren, fühlt sich selten schön an.«

Es gibt allerdings einen einfachen Ausweg aus dem Dilemma: Man reflektiert nur scheinbar und versucht vielmehr, sich selbst in möglichst mildem Licht zu betrachten. Oder die Verantwortung für die großen und kleinen Übel im Leben an andere zu delegieren. So transportiert Psychotainment laut Roth fast immer die Botschaft: »Sorge dich nicht, du kannst nichts dafür.«

Seelenstriptease inklusive

Hinzu kommt eine gute Portion Seelenstriptease. Fast alle Vertreter des Genres schöpfen ihre Erkenntnisse aus persönlichen Krisen. Klaschinski hatte nach einem Absturz beim Kitesurfen eine Nahtoderfahrung, die ihm vor Augen führte, was im Leben wirklich zählt. Kast überwand ein gesundheitliches Tief dank der besten »Tools« für die Seele. Windscheid brach an einer Verkehrsampel plötzlich in Tränen aus, weil ihn das Schicksal eines Menschen, den er kurz zuvor getroffen hatte, so berührte. Und bei Nast reiht sich ein Beziehungs-Aus an das nächste.

Das Muster: Authentizität ist Pflicht! So wird man in diesem Genre auch meistens geduzt. Lars Amend etwa eröffnet sein Buch »Imagine« mit einem kumpelhaften: »Hey du, schön, dass mein Buch seinen Weg zu dir gefunden hat.« Und die Steffi spricht ihre Leserinnen ohnehin wie eine beste Freundin an.

»Glücklich ist, wer gerade nicht darüber nachdenkt, wie es ihm geht«Marcus Roth, Universität Duisburg-Essen

Empathie als Geschäftsmodell ist das eine, nur woher kommt die enorme, kaum zu sättigende Nachfrage? Warum dürsten so viele Zeitgenossen nach Anteilnahme und How-to-do-it-Anleitungen? Die Schweizer Journalistin Rebecca Wyss schreibt: »Psychologie ist zum Konsumgut geworden. Die Beschäftigung mit dem Selbst, der Glaube an das Individuum ist der Kern unseres Zeitgeistes.« Griffige Formeln zu Selbstoptimierung, Personality und Emotionen ergeben eine unwiderstehliche Mischung.

Wissenschaftliche Konzepte und Studien beglaubigen dabei die Qualifikation der Anbieter, auch wenn deren Einsichten mitunter holzschnittartig oder fragwürdig erscheinen. Bas Kast etwa schildert in einer Podcast-Episode, wie er ausgerechnet bei einem Amphetamin-Selbstexperiment erkannte, dass Depressionen, anders als er lange glaubte, keine Frage der Hirnchemie, sondern des Mindsets, also der gedanklichen Einstellung seien.

Zu viel Hü und Hott verdirbt die Message

Unsichere Evidenz, divergierende Meinungen? Meistens Fehlanzeige! Zu viel Hü und Hott verdirbt wohl die Message. Und wenn eine Behauptung über jeden Zweifel erhaben zu sein scheint, handelt es sich oft um eine Binsenweisheit. So zieht der Züricher Psychoanalytiker Daniel Strassberg über Stahls Bücher das Fazit: »Sie sind von einer erschreckenden Banalität.«

Erschreckend für den Therapeuten vielleicht – doch nicht unbedingt für diejenigen, die sich nach einem harten Arbeitstag das Gefühl wünschen, noch etwas über sich zu lernen und mit ihren Selbstzweifeln ernst und angenommen zu werden. Für sie schlüpft Stahl in die Rolle der Ersatzmutter, wenn sie etwa in ihrer Show einer Frau die Hand auf die Schulter legt und sagt: »Es ist nicht deine Schuld, dass deine Eltern nicht für dich da waren.«

Gegen Trost und Anteilnahme ist sicher nichts einzuwenden. Wenn man jedoch Probleme größer redet, als sie sind, oder Menschen in ihrem Leiden bestärkt, wird es kritisch, betont die Medizinerin Diana Pflichthofer in ihrem Buch »Die Psychoindustrie«. Sie illustriert diesen Punkt an einem Beispiel aus Stahls »Wer wir sind«. Dort heißt es, die frühe Bindungserfahrung des Säuglings präge die Psyche ein Leben lang. Unsicherheit und geringes Selbstwertgefühl rührten meist daher, dass die Eltern abwesend oder zu gestresst waren, um auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen. Pflichthofer zitiert den Jenaer klinischen Psychologen Bernhard Strauß, der dazu anmerkt: »Dass die Bindungserfahrungen der ersten zwei Lebensjahre über das restliche Leben entscheiden, ist eine veraltete Auffassung, die sich so nicht halten lässt.«

Solche pauschalen Aussagen könnten Menschen glauben machen, sie hätten die Last ihrer Kindheit für immer zu schultern – oder könnten umgekehrt durch ihr eigenes elterliches Fehlverhalten unheilbare Traumata auslösen.

Doch ist es nicht beckmesserisch, jede Behauptung von Psychotainern auf die Goldwaage zu legen? Natürlich geht es hier nicht in erster Linie um wissenschaftliche Exaktheit, sondern um Aha-Erlebnisse, um das Gefühl, etwas für die eigene Selbsterkenntnis zu tun. Erstaunlich ist, dass seelische Nöte überhaupt so tief in die Unterhaltungsbranche vorgedrungen sind, scheinen sie doch auf den ersten Blick kaum als Spaßfaktor zu taugen. Allerdings ist es für viele Menschen entlastend, zu ihren »Macken« stehen zu dürfen und solche auch bei anderen zu entdecken.

Zumal wenn praktische Tipps als Gegenmittel winken, etwa für mehr Gelassenheit, mehr Souveränität, mehr Erfüllung, weniger Stress und Sorgen. Damit sie vom Publikum gewürdigt werden, müssen Psychotainer zugewandt und erfahren rüberkommen. Kompetenzsignale auszusenden, ist daher unverzichtbar.

In seiner Show betont Windscheid immer wieder, was ihn als Psychologen brennend interessiert: hinter die Kulissen der Psyche zu blicken, auf das, was im Menschen wirklich vor sich geht. Der Experte mit dem Röntgenblick – ein beliebtes Rollenklischee, weiß Marcus Roth: »In der Öffentlichkeit dominiert das tiefenpsychologische Bild des Seelenkundlers. Er soll sagen, was im Unbewussten rumort. Das ist nur oft sehr spekulativ und hat mit empirisch-psychologischer Forschung wenig zu tun.«

Im Kern besteht Wissenschaft nicht darin, großartige Theorien aufzustellen, sondern Hypothesen kritisch zu prüfen und laufend zu revidieren. Und nicht mehr zu behaupten, als sich belegen lässt. Solche »epistemische Bescheidenheit« ist auf Bühnen allerdings rar. Hier macht man lieber mit hochtrabenden Begriffen und Wow-Effekt Eindruck.

Sind nur gute Eigenschaften authentisch?

Viele Empfehlungen zielen darauf ab, das Verborgene und Verdrängte, die wahren Wünsche, geheimen Potenziale oder das authentische Ich ans Licht zu bringen. Dabei halten Menschen laut Studien fast nur positive Eigenschaften für authentisch: Mitgefühl, Klugheit, Treue, Sympathie. Kaum jemand würde von sich behaupten, er sei besonders authentisch, wenn er seinen bohrenden Ehrgeiz, seinen Neid oder seine Neigung zur Besserwisserei auslebt. Wer das von vornherein ausschließt, verhindert echte Selbsterkenntnis womöglich eher, als dass er sie erlangt.

Eine andere Gefahr birgt das Pathologisieren alltäglicher Nöte. Roth und seine Kollegin Gisela Steins weisen in einem Fachartikel von 2024 auf die große Zahl von »Anpassungsstörungen« unter den von Psychotherapeuten diagnostizierten Beschwerden hin. Das seien häufig keine krankheitswertigen Leiden, sondern Probleme, die von allein vergehen. »Eine Krise auf Grund eines Todesfalls in der Familie, einer Trennung oder beruflichen Niederlage ist keine psychische Störung. Das klingt in der Regel ohne Behandlung wieder ab.« Folglich brauche die Solidargemeinschaft dafür nicht aufzukommen. »Auch eine Massage tut gut, ist aber nicht unbedingt eine medizinische Heilbehandlung.«

Zudem hat Psychotherapie potenziell auch Nebenwirkungen, kann das Wohlbefinden beispielsweise verschlechtern oder von dauerhafter Unterstützung abhängig machen, wie etwa die Jenaer Forschungsgruppe um Bernhard Strauß herausfand.

Ein recht junges, vor allem im Internet verbreitetes Phänomen ist das Selbst-Labeling – die Tendenz, sich bestimmte Symptome zuzuschreiben und als Teil seiner Identität zu verstehen. Menschen outen sich etwa mit ADHS-artigen, autistischen oder anderen quasipathologischen Zügen, allerdings nicht im Sinne eines zu behebenden Problems, sondern eines festen Charakterzugs, der Anerkennung verdient. Damit einher geht laut Roth der zunehmende Ruf nach »Nachteilsausgleich«: Auf die persönliche Eigenart sei bei der Leistungsbeurteilung in Schule oder Studium Rücksicht zu nehmen.

100 000 Psychologie-Studierende in Deutschland

Zugleich boomt die Psychotherapie wie nie zuvor. Die Zahl der Praxen in Deutschland hat sich seit 2006, in knapp 20 Jahren, mehr als verdoppelt: von 16 000 auf fast 40 000. Die der seelischen Behandlungsfälle in Deutschland stieg auf knapp 1,2 Millionen – pro Quartal. Diese Entwicklung dürfte sich in Zukunft fortsetzen, wenn man auf die Studierendenzahl im Fach Psychologie blickt: Vom Wintersemester 2015/16 bis 2019/20, also binnen vier Jahren, stieg sie um knapp ein Drittel auf 91 000. Die vielen Bachelorangebote privater Fachhochschulen eingerechnet, bereiten sich inzwischen mehr als 100 000 junge Menschen hier zu Lande auf eine psychologische Tätigkeit vor – viele im therapeutischen oder im Coaching-Bereich.

Dies ist laut Soziologen wie Uffa Jensen von der Freien Universität Berlin Ausdruck einer wachsenden Therapeutisierung der Gesellschaft. Anders als noch im Psychoboom der 1970er Jahre ist dabei der politisch-emanzipatorische Anspruch nahezu verschwunden. Es geht heute weniger darum, durch die Befreiung des Individuums von äußeren Zwängen eine bessere, gerechtere Welt zu schaffen, als vielmehr »resilient« zu werden.

Die Entstigmatisierung seelischer Leiden führt einerseits dazu, dass sich Betroffene ernst genommen fühlen und eher Hilfe suchen. Andererseits werden dadurch jedoch auch immer mehr milde Beschwerden behandelt, so dass gravierend Betroffene noch schwerer zum Zuge kommen. Diagnostische Kategorien wie »hypersensibel« oder »autistisch« weichen laut Roth zunehmend auf, so dass darunter Dinge subsumiert werden, die vor nicht allzu langer Zeit als gewöhnliches Unbehagen oder als Spleen galten. Gleiches gelte für populäre Neuschöpfungen wie »neurodivers«.

Cécile Loetz, Psychoanalytikerin und Podcasterin in Heidelberg, findet die neue Diagnosefreudigkeit nicht grundsätzlich schlecht: »Man muss anerkennen, dass sich viele durch so ein Label zum ersten Mal in ihrem Leben ernst genommen fühlen: Trauma, hochsensibel, ADHS.« Doch dabei dürfe man nicht stehen bleiben. »Ein Etikett wie ›hochsensibel‹ kann auch dazu dienen, eine Auseinandersetzung mit sich selbst abzuwehren.« Dafür spricht, dass Hochsensibilität kein in der Wissenschaft gebräuchlicher Begriff ist; die meisten Persönlichkeitspsychologen halten dies einfach für eine positiv klingende Bezeichnung für Neurotizismus, also psychische Labilität.

Ob Psychotainment die Nachfrage nach psychologischen Angeboten eher stimuliert, weil es Hemmschwellen abbaut, oder in Gegenteil dämpft, weil darüber zu reden selbst schon Linderung bringt, ist schwer zu ermessen. Vermutlich ist beides der Fall. Was die Psychobranche allerdings sicher fördert, ist die Idealisierung des Bewusstmachens.

Lukas Klaschinski ist dafür ein gutes Beispiel. Der Ex-Radiomoderator mit einem Psychologie-Master der Universität Potsdam machte sich als Podcast-Produzent selbstständig und hostet unter anderem Stahls erfolgreiches Format »So bin ich eben«. Der verbal aufgeschlossene Lockenschopf setzt auf ein Mittel, das in der Therapieszene seit Jahren gehypt wird: Mindfulness. Er empfiehlt »Trancen« genannte Übungen, die der Achtsamkeits- und Commitment-basierten Therapie (ACT) entliehen sind.

Sei gefühlsbereit!

In seinem eigenen Bestseller »Fühl dich ganz« hebt Klaschinski den Nutzen negativer Emotionen wie Scham, Trauer oder Einsamkeit hervor und plädiert für mehr Gefühlsbereitschaft: »Gefühle geben uns eine Richtung vor. Wenn wir anfangen, sie wahrzunehmen, können wir unsere Bedürfnisse besser erkennen, nach ihnen handeln und dadurch besser leben.« Viele Probleme wurzeln demnach darin, dass Menschen den Zugang zu den eigenen Gefühlen verloren oder nie richtig erlernt haben.

Ein Mann mit lockigem Haar und Bart lächelt leicht und trägt eine Jeansjacke. Der Hintergrund ist unscharf, was den Fokus auf sein Gesicht lenkt.
Lukas Klaschinski | Seines Zeichens Psychologe, Podcast-Produzent und Buchautor
»Wenn wir anfangen, Gefühle wahrzunehmen, können wir unsere Bedürfnisse besser erkennen«Lukas Klaschinski, Psychologe und Podcaster

Über weite Strecken seines Buchs beschreibt Klaschinski persönliche Krisen, die bei aller Dramatik stets in ein Happy End, einen Neuanfang, ein gesteigertes Bewusstsein münden. So attestiert er selbst dem Gefühl der Ohnmacht eine Kraft, »Veränderungs- und Wachstumsprozesse anzustoßen«. Wie das genau vonstattengeht, außer dass Reden eine gewisse Linderung verschafft, bleibt offen. Sei's drum: Zulassen, in Kontakt kommen, bewusst machen – das ist der Schlüssel.

Wenn Achtsamkeit kontraproduktiv ist

Laut Studien können Achtsamkeitstrainings hingegen durchaus kontraproduktiv sein. So beobachtete eine Arbeitsgruppe um die Psychologin Lucy Foulkes von der University of Oxford bei 10 bis 15 Prozent der Schüler, die an Sensibilisierungskampagnen zum Thema »mental health« teilnahmen, mehr Unaufmerksamkeit oder Niedergeschlagenheit als bei Altersgenossen ohne Training. Mehr Aufmerksamkeit für das subjektive Befinden sei ein zweischneidiges Schwert, so Foulkes: Es kann Leid lindern – aber auch antreiben.

In einem Artikel von 2024 schreibt die Forscherin, es sei inzwischen gut belegt, dass »Personen, denen man hilft, ihre unangenehmen Zustände zu bemerken und zu benennen, diese umso stärker empfinden«. Hier komme eine selbsterfüllende Prophezeiung zum Tragen: Der Glaube, die eigene Gefühlslage sei mindestens zum Teil pathologisch, verschiebe diese eher ins Pathologische. Das habe nichts mit Simulantentum zu tun, sondern sei Folge einer automatischen Reaktion, die als Nocebo-Effekt (lateinisch für »Ich werde schaden«) bekannt ist. Um ihr vorzubeugen, müsse man sich emotional distanzieren: Ich bin nicht meine Gedanken, sie kommen und gehen einfach. Dies wiederum von Gleichgültigkeit abzugrenzen, wie Klaschinski eindringlich empfiehlt, ist ein Balanceakt.

Wie eine Gruppe australischer Psychologen um Beth Robins berichtete, wirken Health-Formate im Internet zwar oft positiv: Eine Auswertung von 38 Studien zum Thema hatte ergeben, dass Menschen, die wöchentlich bis zu zwei Stunden Podcasts zu Gesundheitsthemen hörten, sich besser informiert und für den Alltag gewappnet fühlten. Hinsichtlich sportlicher Aktivität und gesunder Ernährung kam es auch durchaus zu entsprechenden Verhaltensänderungen; in Sachen Depressionen und Ängste dagegen war kein nachhaltiger Effekt zu verzeichnen.

Um psychische Störungen anzugehen, ist Aufklärung und Bewusstmachen nötig. Doch dieser Prozess ist selbst mit therapeutischer Begleitung oft schwierig, weil er schmerzhafte Einsichten und Anpassungen erfordert. Dass es alltägliche Tiefs und Nöte dennoch häufig zu verkraften hilft, wenn man sich ablenkt, sich manche Dinge schönredet oder darüber hinweglacht, kommt in Ratgebern kaum vor.

Ein Mann mit blonden Haaren und Bart steht in einem dunklen Raum mit einem großen Fenster im Hintergrund. Er trägt ein schwarzes Hemd und einen dunklen Blazer. Der Raum ist schwach beleuchtet, was eine gemütliche Atmosphäre schafft.
»Mister Beziehungsunfähig«: Der Ex-Werbegrafiker Michael Nast

Das Angebot stimuliert die Nachfrage

Eine Ausnahme bildet das Buch »Leben geht nur vorwärts« der Psychotherapeutin Gitta Jacob. Sie erläutert darin, welche Mechanismen dazu führen, dass mehr Angebote zur Seelenhilfe die Nachfrage eher noch steigern, statt sie zu befriedigen. »Das Sprechen über psychische Probleme, negative Gefühle und die eigene Verletzlichkeit wird sozial belohnt und damit verstärkt«, erklärt Jacob.

Sie sieht darin ein zentrales Paradox ihrer Branche: Man empfiehlt Strategien der Fokussierung, die zwar gravierendes Leid beheben helfen, für alltägliche Belastungen aber Risiken bergen. Mancher realisiert erst in Zuge des Bewusstmachens, wie sehr er sich selbst im Weg stand oder wie er andere vor den Kopf stieß. Das kann die Neigung zu Trübsal und Negativität fördern. Und wenn das Versenken ins Ich keine Linderung bringt, hat man wohl wieder etwas falsch gemacht.

Dass der Blick ins eigene Innenleben immer nur Klarheit und nie Verwirrung stiftet, dass er den Eindruck eigenen Unvermögens und innerer Leere nicht mitunter auch fördert, ist ein Mythos. Ökonomisch allerdings ein lukrativer: Denn wer trotz der guten Tipps noch immer nicht besser drauf ist, greift schnell zum nächsten Ratgeber.

Die Pointe der populären Psychologie: Du ahnst nicht, was dich im Innersten bewegt!

Ein Merkmal von Psychotainment ist zudem die hohe Dichte an Metaphern, die wenig Konkretes beinhalten: Körper und Geist in Einklang bringen, Energieströme harmonisieren, Blockaden lösen – das alles ist bestimmt nicht schlecht. Nur was heißt es? Geht es hier darum, Erkenntnis zu vermitteln, oder nur darum, ein Gefühl von Verständnis und Anteilnahme zu erzeugen?

Das bildhafte Sprechen bietet zwei Vorteile: Es lässt sich schwer entkräften, denn wer sich wolkig ausdrückt, sagt zumindest nichts offenkundig Falsches. Und es ist häufig besonders einprägsam. Schon der Altmeister des Psychotainments, der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud (1856–1939), kleidete seine Theorie des Unbewussten in die Sprache der damals in Mode kommenden Elektrotechnik: Triebenergie wird aufgestaut, ein unmoralischer Impuls verdrängt, ein Affekt abreagiert.

Freud prägte auch die bis heute attraktive Pointe der populären Psychologie: Du ahnst ja nicht, was dich im Innersten bewegt! Ohne Kontakt zu deinem Unbewussten wirst du nie erfahren, was dich antreibt und wieso du immer dieselben Fehler machst. Doch es gibt Abhilfe: Mit Psychologie erkennst du dein wahres Ich, handelst klüger, lebst glücklicher.

Serie: Guten Rat geben, guten Rat finden

Rat geben ist eine Kunst – Rat suchen und annehmen ebenfalls. Was guten Rat ausmacht und wann er auch beherzigt wird, lesen Sie in dieser dreiteiligen Serie auf »Spektrum.de«.

So das Versprechen. Und die Realität? Die Psychologie gibt es nicht, sie umfasst vielmehr eine Fülle oft widersprüchlicher Modelle und Studienresultate. Nur leider ist das keine gut verkäufliche Botschaft. Ebenso wenig wie das Faktum, dass man sich psychische Widerstandskraft nicht anlesen oder »an-hören« kann; Resilienz erwächst nicht aus bloßem Wissen, sondern aus dem aktiven Überwinden von Krisen. Man muss diese deshalb nicht suchen, doch wer sie partout meidet, kann auch nicht daran wachsen.

Michael und Katharina sind mit Leons Performance vollauf zufrieden. »Die Show war super«, sagt er mit glänzenden Augen. »Wir haben schon sein vorheriges Programm gesehen. Da hat er viele Witze gemacht, das gefiel uns nicht so. Jetzt ist mehr Wissenschaft drin – sehr cool.«

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  • Quellen

Foulkes, L.: The problem with mental health awareness. British Journal of Psychiatry 225, 2024

Jacob, G.: Leben geht nur vorwärts. Wann es Zeit ist, das innere Kind in Ruhe zu lassen und durchzustarten. Beltz, 2024

Pflichthofer, D.: Die Psychoindustrie. Wie das Geschäft mit unserer Psyche funktioniert und was es so gefährlich macht. Goldegg, 2024

Robins, B. et al.: Podcasts as a tool for promoting health-related behaviours: A scoping review. Digital Health 10, 2024

Roth, M., Steins, G.: Anmerkungen zur Problematik fehlender Therapieplätze. Psychologische Rundschau 75, 2024

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