Psychotherapie: Mit Fantasie aus der Depression
Vor dem inneren Auge der Patientin taucht immer wieder dieselbe Szene auf: wie ihr Vater kurz vor seinem Tod im Krankenhaus lag, sich kaum mehr rühren konnte. Das Bild weckt bei der 38-Jährigen Gefühle von Trauer, Schuld und Ohnmacht. Als ihr Vater starb, war sie nicht bei ihm, »nicht für ihn da«, wie sie meint.
Diese quälende Erinnerung einer Patientin schildern Psychologinnen und Psychologen der Universität Frankfurt als Beispiel für mentale Bilder bei Depressionen. Das Team um Regina Steil von der Frankfurter Verhaltenstherapieambulanz untersuchte in einer Längsschnittstudie unter anderem, wie häufig solche Bilder bei Menschen mit und ohne Depressionen auftreten. Auch die meisten Gesunden haben demnach schon einmal solche belastenden Bilder erlebt, manche nicht mehr als ein unscharfer Schnappschuss, andere wie ein Kurzfilm. Solche Erinnerungen können bewusst ins Gedächtnis gerufen werden oder, ähnlich einem nächtlichen Traum, von allein auftauchen und sich nur schwer kontrollieren lassen. Psychologen und Mediziner sprechen in letzterem Fall von Intrusionen. Traumatisierte Patienten können diese Erinnerungen so intensiv erleben, dass sich die Vergangenheit in der Gegenwart erneut zu ereignen scheint.
Typische Intrusionen bei Depressionen handeln von belastenden zwischenmenschlichen Erfahrungen wie der kränkenden Bemerkung eines Freundes oder einer Blamage vor Kollegen
Lange betrachtete man die quälenden Erinnerungsbilder deshalb vor allem als Indiz für eine Posttraumatische Belastungsstörung. Doch sie treten auch bei anderen psychischen Erkrankungen auf, darunter Depressionen. Im Mittel über mehrere Studien berichten ungefähr vier von fünf Menschen mit Depressionen von wiederkehrenden, belastenden Intrusionen. Häufig drehen sie sich um Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung in der Kindheit, wie die Intrusionen bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Es gibt aber auch Intrusionen, die besonders typisch für Depressionen sind. Sie handeln häufig von Tod, Krankheit oder Unfällen von Angehörigen oder aber von belastenden zwischenmenschlichen Erfahrungen, etwa in der Schule oder am Arbeitsplatz. Manche davon scheinen auf den ersten Blick unbedeutend, haben sich jedoch tief eingeprägt: die kränkende Bemerkung eines Freundes oder eine Blamage vor Kollegen beispielsweise.
Psychisch gesunde Menschen tragen solche Erinnerungen zwar ebenfalls im Gedächtnis, nur kommen sie ihnen seltener in den Sinn, erscheinen ihnen kontrollierbarer und weniger belastend. Wie Regina Steil und ihre Kollegen erklären, versuchen Menschen mit Depressionen eher, belastende Erinnerungen zu unterdrücken – was diese paradoxerweise verstärken könnte. Die Bilder können sich so immer tiefer ins Gedächtnis eingraben und immer wieder die Spirale aus negativen Gedanken und Gefühlen befeuern.
Die belastende Erinnerung wird in der Fantasie so abgewandelt, dass sie sich gut anfühlt. Sie entspricht dann zwar nicht den tatsächlichen Ereignissen, aber sie erfüllt die emotionalen Bedürfnisse besser
Um den depressiven Teufelskreis im Kopf zu unterbrechen, arbeiten Verhaltenstherapeuten traditionell mit einer Reihe bewährter Methoden: Sie motivieren zu Aktivitäten, die die Stimmung heben; sie hinterfragen Ansichten und automatische Gedanken; sie fördern eine innere akzeptierende und achtsame Haltung sich selbst und anderen gegenüber. Und seit einigen Jahren erproben viele ein weiteres Instrument: die menschliche Fantasie.
»Bilder haben einen mächtigeren Einfluss auf negative Gefühle als verbales Verarbeiten«, erläutert der Psychologe Arnoud Arntz von der Universität Amsterdam. Seit rund 20 Jahren untersucht er, wie man sich allein per Vorstellungskraft von belastenden Erinnerungen befreien kann. Die Methode heißt in der Fachsprache Imagery Rescripting, im Deutschen »mentales Umschreiben« oder »imaginatives Neuschreiben« von bildhaften Vorstellungen. Es geht darum, die belastende Erinnerung in der Fantasie so abzuwandeln, dass sie sich gut anfühlt. Beispielsweise würden sich Menschen mit sexuellen Traumata vorstellen, wie sie sich erfolgreich gegen den einstigen Angreifer wehren oder dass ihnen jemand beisteht, erklärt Arnoud Arntz. Den Betroffenen sei durchaus bewusst, dass diese Vorstellung nicht den wahren Ereignissen entspreche. »Aber sie erfüllt ihre emotionalen Bedürfnisse besser.«
Wege aus der Not
Wenn Sie Hilfe brauchen, verzweifelt sind oder Ihnen Ihre Situation ausweglos erscheint, dann wenden Sie sich bitte an Menschen, die dafür ausgebildet sind. Dazu zählen zum Beispiel Ihr Hausarzt, Psychotherapeuten und Psychiater sowie Notfallambulanzen von Kliniken. Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr anonym und kostenfrei unter den Nummern 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail oder im Chat unter https://online.telefonseelsorge.de.
Die Wirksamkeit der Methode belegte der Psychologe 2017 in einer Metaanalyse von 19 experimentellen Therapiestudien an Trauma- und Angstpatienten. Im Schnitt genügten vier bis fünf Sitzungen, um eine hohe Effektstärke (die statistische Maßeinheit für den Wirkungsgrad) zu erzielen. Und obwohl die Therapien nicht explizit darauf ausgelegt waren, minderten sich neben den belastenden Erinnerungen auch begleitende depressive Beschwerden.
Das Vorgehen sei weniger stressreich als die übliche Traumatherapie, die Exposition »in sensu«, erklärt Arntz. Hierbei sollen sich die Betroffenen immer wieder in Gedanken mit dem traumatischen Ereignis konfrontieren und es so intensiv wie möglich erneut durchleben – bis die hochgradig belastende emotionale Reaktion schließlich nachlässt. Habituation heißt der Wirkmechanismus in der Fachsprache.
Auch bei chronischen Albträumen kann Imagery Rescripting das unangenehme Prozedere einer klassischen Exposition ersparen. Die Betroffenen ändern das Traumgeschehen nach dem ersten Erzählen oder Aufschreiben so ab, dass es für sie ein gutes Ende nimmt. Das sei ebenso wirksam wie das wiederholte gedankliche Durchspielen des wahren Traumgeschehens, lautete 2017 das Ergebnis einer deutsch-niederländischen Forschungsgruppe um Arntz.
Wie bei der klassischen Exposition war das Imagery Rescripting umso erfolgreicher, je länger die Konfrontation andauerte, wie Regina Steil und ihre Kollegen feststellten. Ein Hinweis darauf, dass Imagery Rescripting Ängste und Albträume auch nur deshalb mindert, weil es zu einer Habituation an die gefürchtete Situation kommt?
Dagegen spricht, dass die Methode ebenso Menschen mit anderen psychischen Leiden hilft. Forscher vermuten deshalb, dass sie noch auf andere Weise wirkt: indem sie kognitive Schemata verändert, das heißt bewusste oder unbewusste Grundannahmen, die vor allem die eigene Person betreffen. Diese Theorie formulierten der deutsche Psychologe Mervin Smucker und seine Kollegen schon 1995 in einem der ersten Artikel über Imagery Rescripting in der Traumatherapie. Der Prozess des Neuschreibens könnte pathologische Schemata verändern, die mit der Interpretation der traumatischen Ereignisse zusammenhängen, so vermuteten sie.
An dieser Idee setzte jüngst ein Forscherduo von der Universität Rom an. Die Methode wirke auf das Selbstbild auf »metaemotionaler« Ebene, meinen Alessandra und Francesco Mancini. Genauer gesagt: Sie mindere die Neigung, eigene negative Gefühle als Problem anzusehen. Ein derartiges »Sekundärproblem« tritt bei vielen psychischen Störungen auf, beispielsweise in Form von Angst vor der Angst. Die sekundäre Angst kann die ursprüngliche Angst verstärken und erweitern, etwa wenn sich die Furcht vor einer weiteren Panikattacke zu einer Phobie vor bestimmten Orten ausweitet.
Der Vater setzte sie zum Reiten auf einen Esel, aber sie hatte furchtbare Angst und schrie. Als er sie wieder herunterhob, schimpfte er sie ein »dummes kleines Mädchen«
Wie das mentale Umschreiben solcher Schemata in der Depressionstherapie abläuft, schilderte ein Team um den britischen Psychologen Jon Wheatley vom University College London am Beispiel der 30-jährigen Patientin Kate. Eine der Szenen, die Kate nicht vergessen kann, spielt in ihrer Kindheit. Sie war sechs Jahre alt und mit ihrem Vater im Urlaub, nachdem sich ihre Eltern hatten scheiden lassen; er setzte sie zum Reiten auf einen Esel, aber sie hatte furchtbare Angst und schrie. Als er sie wieder herunterhob, schimpfte er sie ein »dummes kleines Mädchen«.
Auf solche autobiografischen Erinnerungen stützen sich kognitive Schemata, wie die Überzeugung von Kate, hilflos und wertlos zu sein, erläutern die britischen Autoren. Und über solche Glaubenssätze sind Erinnerungen an vergangene Erfahrungen mit heutigen Problemen verbunden, fördern beispielsweise das depressive Erleben und Verhalten. Kognitive Therapeuten leiten deshalb in einem sokratischen Dialog dazu an, problematische Grundannahmen argumentativ zu entkräften. Beim Imagery Rescripting geschieht dies auf andere Weise: mit etwas Fantasie und der Bereitschaft, alte Überzeugungen von ihrem autobiografischen Sockel zu stürzen.
Die neue Geschichte muss der alten ähnlich genug sein, um ihr Konkurrenz zu machen, und zugleich so weit anders, um die Gefühle und Gedanken auf neue Bahnen zu lenken
Dazu genügten im Schnitt acht Sitzungen, stellten Jon Wheatley und seine Kollegen fest. Den Ablauf präsentierten er und seine Kollegin Ann Hackman von der University of Oxford in einem praktischen Leitfaden. In der ersten Sitzung werde das therapeutische Vorgehen erläutert, dann eine besonders belastende wiederkehrende Erinnerung ausgewählt und ins Gedächtnis zurückgerufen: Was sahen, hörten, rochen, fühlten die Patienten in dem Moment? Was ging ihnen damals durch den Kopf? Und was bedeuten die Ereignisse heute für sie? Was haben sie daraus für sich geschlossen?
Als Nächstes sollen die Patienten das Geschehen so verändern, dass es für sie ein angenehmes Ende nimmt. Bei der Suche nach einer neuen Version können die Therapeuten mit Fragen nachhelfen: Was müsste in der Geschichte passieren, damit die Erinnerungen weniger belastend wären? Gibt es etwas, was sie als Erwachsene in der Situation gerne tun würden? Die beste Variante ist jene, bei der sich die Patienten so fühlen, wie es ihren Bedürfnissen entspricht. Oft gehe es darum, Kontrolle zurückzugewinnen und sich sicher zu fühlen, sich zu wehren oder von einer dritten Person beschützt zu werden. Kann sich der Patient keine reale Person vorstellen, hilft eine Fantasiegestalt.
Die neue Geschichte muss der alten ähnlich genug sein, um ihr Konkurrenz zu machen, und zugleich anders genug, um die Gefühle und Gedanken auf neue Bahnen zu lenken. Um sicherzustellen, dass das gelingt, werden Überzeugungen und Gefühle erneut bewertet und die Ereignisse gegebenenfalls weiter verändert. Manchmal kommen im Zuge der Therapie neue Erinnerungen hoch, manche davon mit einem neuen Thema. Dann beginnt der Prozess von vorne. Die Patienten durchlaufen oft mehrere Gefühlsstadien: Wut, Trauer und Mitgefühl mit dem Kind, das der Situation nicht gewachsen war. Das Mitgefühl mindert Scham und Schuldgefühle; die wiedererlangte Kontrolle wirkt Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht entgegen.
Um diese Gefühle geht es auch in Kates Erinnerungen: mächtigeren Menschen ausgeliefert zu sein, den Boden unter den Füßen zu verlieren, beschämt zu werden. Das erlebte sie nicht nur mit sechs Jahren auf dem Rücken eines Esels, sondern erneut mit zehn Jahren, als ältere Mädchen sie eine Treppe hinunterschubsten. Mit Anfang 20 wachte sie einmal während einer Operation auf, der sie sich im Zusammenhang mit einer Abtreibung unterziehen musste. Sie geriet in Panik, da sie ihre Beine nicht bewegen konnte. Die kalte Miene des Arztes deutete sie als Verachtung.
In ihrer Fantasie lässt sie die Erfahrung auf dem Operationstisch heute anders ablaufen. Sie drückt einen Notfallknopf, und ein zweiter Arzt kommt hinzu, der den ersten für sein Verhalten rügt. Um sich vor den schubsenden älteren Kindern und dem unsensiblen Vater zu schützen, zaubert sie einen Engel herbei. Aber letztlich befreit sie sich selbst, mit der Kraft der Fantasie, aus den Fängen der Vergangenheit.
Imagery Rescripting in Eigenregie: Ein Selbsthilfeprogramm bei Depressionen
Wer sich für eine gedankliche Konfrontation mit seiner Vergangenheit stabil genug fühlt, aber nicht mit einem Therapeuten darüber sprechen möchte, findet beim Uniklinikum Hamburg-Eppendorf einen Online-Leitfaden zur Selbsthilfe. Wissenschaftler um Steffen Moritz und Lena Jelinek haben den Leitfaden kürzlich getestet. Zur Teilnahme luden sie knapp 130 Patientinnen und Patienten ein, bei denen am dortigen Klinikum eine Depression diagnostiziert worden war, die aber weder unter Suizidgedanken noch unter einer Psychose litten. Per Zufall wurden sie drei Gruppen zugeteilt: Die erste absolvierte eine lange Version des Leitfadens, die zweite eine kurze, und die dritte diente als Wartekontrollgruppe. Rund die Hälfte jeder Gruppe wurde außerdem psychotherapeutisch und/oder medikamentös behandelt.
Im Schnitt besserte sich das Befinden in allen Gruppen, auch zusätzlich zu den weiteren Therapiemaßnahmen. Aber während sich die Depressionswerte bei der Wartegruppe nur um rund drei Punkte senkten, fielen sie bei jenen, die das lange Manual absolvierten, um zirka acht Punkte und damit von einer mittelschweren auf eine leichte Depression. Die Wirkung der Kurzversion lag dazwischen. Die Autoren geben selbst zu bedenken, dass noch wenig über mögliche Nebenwirkungen der Methode bekannt sei. Das erneute Durchleben von belastenden Erinnerungen weckt starke Gefühle und kann depressive Symptome verstärken, somit auch das Suizidrisiko. Bei schweren Depressionen und Suizidgedanken ist deshalb unbedingt professionelle Hilfe angeraten.
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