Psychotherapie: Therapeuten sind ein bisschen wählerisch
Ärmere Menschen sind öfter von psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depression oder Schizophrenie betroffen. Zugleich suchen sie seltener professionelle Unterstützung. Deshalb bräuchten gerade sie eigentlich einen leichten Zugang zu einer Psychotherapie. Allerdings ist in Deutschland das Gegenteil der Fall, wie Psychologinnen der Freien Universität Berlin in einer Studie berichten: Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status werden von Therapeuten und Therapeutinnen eher abgelehnt.
Helen Niemeyer und Christine Knaevelsrud rekrutierten für ihre Onlinestudie 504 ambulant arbeitende Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Diese lasen eine Reihe von fiktiven Anfragen über ein Online-Kontaktformular. Nach jeder Nachricht sollten sie angeben, wie wahrscheinlich sie demjenigen eine Behandlung anbieten würden. Dabei wurde der gesellschaftliche Status der Hilfesuchenden manipuliert: In Texten, die ein höheres Gehalts- und Bildungsniveau signalisieren sollten, stellten sich die Anfragenden als Ingenieur, Apotheker oder Chirurg vor; in den anderen arbeiteten sie dagegen als Kassierer, Florist oder Reinigungskraft. Für den niedrigen sozioökonomischen Status wurden in den Nachrichten zudem kürzere Sätze, einfachere Wörter sowie Sprichwörter verwendet statt komplexerer Formulierungen.
Menschen, deren Beruf und Sprache auf einen weniger gebildeten Hintergrund schließen ließen, hatten in der Studie eine um vier Prozent geringere Wahrscheinlichkeit, einen Therapieplatz zu erhalten, als solche mit mittlerem bis hohem gesellschaftlichem Status. Dabei spielte auch das Störungsbild eine Rolle. Bei Bulimie etwa hatte die Schichtzugehörigkeit einen größeren Effekt als bei Depression oder sozialer Phobie. Psychoanalytiker waren wählerischer als psychodynamisch oder verhaltenstherapeutisch arbeitende Kollegen. Das Stadtviertel, in dem die Praxen der Teilnehmer lagen, wirkte sich ebenfalls aus: Therapeuten, die in sozial benachteiligten Bezirken praktizieren, interessieren sich offenbar weniger für den Hintergrund der Anfragenden.
Der Unterschied in der Ablehnungsrate mag klein erscheinen. Die Voreingenommenheit von Therapeuten gegenüber manchen Klienten könne aber bereits bestehende Nachteile für ärmere Menschen verschlimmern, mahnen Niemeyer und Knaevelsrud. So falle der Effekt mit einer ohnehin geringer ausgeprägten »Health Literacy« bildungsferner Personen zusammen, also einem geringeren Wissen über psychische Störungen. Dies alles geschehe vor dem Hintergrund einer akuten Knappheit an Therapieplätzen. Ein Bewusstsein für die eigenen Selektionsmechanismen könne Therapeuten helfen, ihre Auswahlpraxis zu überdenken.
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