Quantencomputer: Leistungsstärkster Quantenrechner der Welt?
Nur Insidern blieb nicht verborgen, dass in Boulder bei Denver ein Team von 100 Quantenphysikern seit vier Jahren an der Zukunftstechnik arbeitete – in aller Stille. Im März 2020 meldete sich das Unternehmen Honeywell, das vor allem für Steuerungssysteme und Klimageräte bekannt ist, dann mit einem »Durchbruch«. Ein firmeneigenes Forscherteam um Juan Pino stellte in einer Vorabveröffentlichung seinen ersten Quantenchip vor. Das Unternehmen verfüge über breites technisches Knowhow und sogar eigene Produktionsmittel für Mikrosysteme, wie man sie für Quantenrechner benötigt, begründet der Leiter von Honeywells Quantenteam Tony Uttley den Schritt. Und der Chip soll nur der Anfang sein. Bereits im Sommer 2020 will Honeywells Team den »leistungsstärksten Quantencomputer der Welt« vorstellen.
Was ist dran an der Story vom Newcomer, der etablierte Forscherteams von Universitäten und den Digitalkonzernen Google, IBM und Intel aus dem Stand vom Platz fegt? Bereits die etablierten Tech-Firmen überbieten sich ja mit echten und vermeintlichen Durchbrüchen auf dem umkämpften Gebiet. Jüngster Höhepunkt: Ein Quantenchip von Google löste im Jahr 2019 erstmals eine Aufgabe schneller, als es der stärkste Superrechner könnte. Zwar handelte es sich um ein Demo-Problem ohne praktische Relevanz, doch seither ist zumindest bewiesen: Quantenrechner rechnen nicht nur auf dem Papier schneller.
Und der Google-Konkurrent IBM hat es mit einem Quantenrechner sogar schon aus dem Labor geschafft: Das IT-Unternehmen bietet einen ersten kommerziellen Quantencomputer an. Das Gerät ist aber eher unter der Kategorie »Prestige-Objekt« zu verordnen als unter »echte Alternative für herkömmliche Rechner«. Daneben basteln vor allem in Nordamerika und Großbritannien Start-ups an Quantenrechnern. Und nun zählt zu den Teilnehmern des Quantencomputerwettlaufs also auch noch Honeywell.
Manche Probleme können nur Quantencomputer lösen
Traditionelle Rechner verarbeiten Daten stets Schritt für Schritt. Zwar wird das Tempo dabei immer schneller, so dass die Prozessoren immer größere Datenmengen bewältigen und Lösungen für immer komplexere Probleme finden wie bei der Erkennung von Mustern in Bilddaten mittels künstlicher Intelligenz. Doch es gibt hochkomplexe Aufgaben, für die schrittweises Rechnen, egal wie schnell, nicht ausreicht. Etwa wenn es zu viele Stellschrauben gibt, um das Zusammenspiel unzähliger Akteure zu regulieren. Ein Beispiel hierfür ist etwa die optimale Steuerung des Verkehrs in einer Metropole. Oder die Frage, wie eine Raummission mit begrenzten Ressourcen bestmöglich ausgerüstet werden soll. Die Anzahl der zu prüfenden Alternativen kann astronomische Dimensionen erreichen. Fachleute glauben, dass der Quantencomputer zumindest einen noch unbekannten Teil solcher Aufgaben lösen könnte. Denn unter bestimmten Bedingungen kann er zahlreiche Lösungswege gleichzeitig berechnen und somit in relativ kurzer Zeit zu Ergebnissen gelangen, für die selbst heutige Superrechner Jahrzehnte bräuchten.
Die Stärke der neuen Art von Rechner beruht auf den Gesetzen der Quantenphysik. Diese erlauben Elektronen, Atomen, Molekülen oder Lichtteilchen, gleichzeitig mehrere Zustände einzunehmen. Das kann etwa der Ort oder die Energie sein. Für einen Quantencomputer braucht man nun so genannte Zweizustandssysteme – etwa bestimmte Atomkern- oder Elektronenkonfigurationen, die gewissermaßen als Fundament zwei unterschiedliche Zustände zur Verfügung haben. Dem einen ordnet man nun die Zahl 1 und dem anderen die 0 zu; so erhält man ein »Quantenbit«, kurz »Qubit«. Der Clou ist nun, dass ein Quantenbit im Prinzip unendlich viele Zustände dazwischen einnehmen kann, Experten sprechen von Überlagerungszuständen. Die kleinste Informationseinheit klassischer Rechner hingegen, das Bit, kann sich jeweils nur in einem der zwei Zustände befinden. Die »speicherbaren« Werte sind also mit einem Qubit um ein Vielfaches größer. Mit wenigen hundert Qubits sind es schon mehr Zustände als Teilchen im Universum.
All diese Werte lassen sich im Prinzip simultan verarbeiten, was aus einem Datenspeicher erst einen mächtigen Rechner macht. Dazu aber müssen Qubits gezielt manipuliert werden. Dafür gibt es je nach Art des Qubits unterschiedliche Herangehensweisen, in der Regel ist es jedoch stets eine sehr sensible und hochkomplexe Angelegenheit. Um aus den Qubits schließlich eine Rechenmaschine zu machen, ist es nötig, dass die Qubits miteinander wechselwirken, also verschaltet werden. Idealerweise sollten sogar zwei beliebig auswählbare Exemplare des Rechners verknüpft werden können. Auch diese Aufgabe ist alles andere als trivial, und daher ist die Anzahl der Recheneinheiten bei den derzeitigen Quantenrechnern noch sehr überschaubar. Sie bewegt sich üblicherweise im ein- bis zweistelligen Bereich.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Rechenschritte binnen Sekundenbruchteilen erledigt werden müssen. Denn Qubits verlieren schon durch kleinste Umwelteinflüsse, etwa den Zusammenstoß mit einem Luftmolekül, ihre Doppelexistenz und werden zu einem schnöden Bit. Um möglichst viel Information zu verarbeiten, braucht es folglich erstens möglichst stabile Qubits und zweitens ein Verfahren, diese miteinander zu verschalten. Ein Ansatz, die Kommunikation flexibel zu gestalten, sind bewegliche Qubits, die an einer Stelle mit Qubit A und an einer anderen mit Qubit B wechselwirken können.
Schon weiter als alle anderen?
Honeywells Team ist beiden Zielen näher gekommen: Als Qubits verwendete es elektrisch geladene Atome, auch Ionen genannt. Ionen-Qubits leben etwa eine halbe Sekunde und damit etwa 1000-mal länger als Qubits aus supraleitenden Materialien, wie sie Google und IBM nutzen. Honeywell hat dazu einen Mikrochip mit vielen winzigen Elektroden gefertigt. Diese erinnern ein wenig an eine Leiter. Die beiden Seitenstreben der Leiter, die Holme, erzeugen ein elektrisches Feld, das ein Ion an einem Ort festhalten kann. Die Sprossen der Leiter wiederum bestehen aus weiteren Elektroden. Werden sie nacheinander aktiviert, entsteht ein zusätzliches, wanderndes elektrisches Feld, das das Ion entlang der »Leiter« transportiert. Zwei sich entgegengesetzt bewegende Ionen können auch aneinander vorbei und so die Position tauschen. Somit haben die Forscher ein Gerät geschaffen, das ein Qubit nicht nur speichert, sondern einzelne davon gezielt von A nach B bringt.
Die »Leiter« für Ionen ermöglicht es demnach, einzelne Ionen mit allen anderen in Kontakt zu bringen und so zu verschalten. Dass das Prinzip funktioniert, haben die Forscher aus Boulder mit vier Ytterbium-Ionen demonstriert. Die Teilchen ordneten sie zunächst zu zwei Paaren an, deren Partner jeweils miteinander wechselwirkten. Dann führten sie eine Art atomaren Partnertausch aus. Dazu trennten sie die Paare, indem sie je einen der Partner wegführten. Die beiden Ausreißer wechselten die Position und verbanden sich mit dem neuen Gefährten. Das Manöver entsprach einem einfachen Algorithmus – und war der Nachweis, dass die Forscher einen kleinen Quantencomputer gebaut hatten.
Auch andere Wissenschaftler, etwa ein Team um Ferdinand Schmidt-Kaler an der Universität Mainz, entwickeln Ionen-Quantencomputer mit beweglichen Qubits. Doch ihr Chip enthalte darüber hinaus alle Komponenten, die ein solcher Quantenrechner benötige, schreiben die Forscher aus Boulder. Wie bei einem klassischen Computer haben sie eine Art Uhr eingebaut, die den Qubits wie ein Dirigent einen gemeinsamen Takt vorgibt. Auf diese Weise sollen mehrere Ionenketten synchron zusammenarbeiten.
Besonders heben die Physiker hervor, dass sie die Qubits sehr gezielt steuern können. Um zwei davon zu verknüpfen, bestrahlt man jedes mit einem Laser. Das eingestrahlte Licht kann auch benachbarte Qubits streifen. Das verursacht Rechenfehler. Nicht so bei Honeywells Chip: Indem sie die Ionen in einem relativ großen Abstand voneinander anordneten, konnten die Forscher diesen »Cross-Talk« unterdrücken.
Und noch ein weiteres Problem will Honeywell mit seinem Chip gelöst haben. Bislang gelingt es nicht, einen Quantenrechner mit deutlich mehr als etwa 50 Qubits zu bauen, ohne dass dabei zu viele Rechenfehler passieren. Ein oft genannter Lösungsvorschlag: Statt eines großen Quantenprozessors solle man lieber einzelne Module mit jeweils wenigen Qubits entwickeln und diese dann wie Legosteine zu einem großen Rechner zusammenfügen. Experten nennen das »Skalierung«. Dafür müssen die einzelnen Bausteine allerdings eine sehr geringe Fehlerrate aufweisen. Das sei bei ihrem Chip der Fall, meinen die Forscher von Honeywell. Ihr Cross-Talk erlaube es, viele Operationen fehlerfrei auszuführen, schreiben sie.
Wie schätzen Experten Honeywell ein?
Von einem Quantenrechner à la Lego jedoch ist auch Honeywell offenbar noch weit entfernt. Die Steuerung durch Laser etwa ist noch nicht in den Chip integriert. Einer der führenden Experten auf dem Gebiet ist ebenfalls skeptisch: »Ob die hohe Qualität von Honeywells Qubits bei einer Skalierung erhalten bleibt, muss sich erst noch zeigen«, sagt Scott Aaronson von der University of Texas in Austin, USA. Der Informatiker kritisiert Honeywells Ankündigung, bald den weltweit stärksten Quantenrechner zu haben. Sein Eindruck sei, dass das Unternehmen eine eigene Messlatte für die Leistungsstärke gewählt habe, anhand derer es schnell in Führung gehen könne. Aber dieser Maßstab sei mangelhaft.
Bislang galt meistens die Anzahl der Qubits als Skala für den Fortschritt. Dass dies in die Irre führt, demonstrierte jüngst Google. Der Quantenchip, der den Superrechner schlug, hatte 53 Qubits, fast 20 weniger als ein nicht so leistungsstarker Vorgänger. Der Konkurrent IBM hatte zuvor schon eine Messlatte namens »Quantenvolumen« eingeführt, die nun auch Honeywell nutzte. Dieses wächst zwar mit der Anzahl der Qubits, aber nur, wenn diese gut vernetzt sind und lange leben. Ein Weniger an Qubits kann ausgeglichen werden durch ein Mehr an Rechenschritten. So gelang es Honeywell, mit vier Qubits das gleiche Rechenvolumen zu erreichen wie IBM mit 20.
»Anhand des Quantenvolumens lässt sich nicht beurteilen, ob der Rechner etwas Nützliches tun kann«
Scott Aaronson, Informatiker an der University of Texas in Austin, USA
Jetzt strebt Honeywell ein Quantenvolumen von 64 an, was Rekord wäre, mithin also der »weltstärkste« Quantenrechner. Aaronson hält das für irreführend. Denn ein konventioneller Rechner könnte dieses Quantenvolumen leicht simulieren. Allerdings hat Googles Maschine ja schon etwas berechnet, was kein klassischer Computer nachvollziehen kann. Daher gilt: »Anhand des Quantenvolumens lässt sich nicht beurteilen, ob der Rechner etwas Nützliches tun kann«, sagt Aaronson.
Das Quantenvolumen als Leistungskriterium sei in der Forscherszene nicht etabliert, bestätigt auch Andreas Wallraff von der ETH Zürich. Nur wenige verwenden es. »Welcher Maßstab am besten taugt, um die Leistung eines Quantenrechners zu beurteilen, ist Teil der Forschung«, sagt der Physiker. Das Quantenvolumen sei aber ein durchaus anspruchsvolles Kriterium. Honeywell habe daher einen viel versprechenden Anfang gemacht.
Auch Philipp Schindler von der Universität Innsbruck nennt den Chip aus Boulder einen »eindrucksvollen technologischen Schritt«. Honeywells Team verfolge offenbar nicht so sehr die baldige Anwendbarkeit seiner Technologie, glaubt der Physiker. Also anders als Google und andere Firmen, die sich auf »kleinere Maschinen« konzentrieren, die schon in wenigen Jahren Gewinnbringendes tun sollen, etwa chemische Reaktionen simulieren. Im Gegensatz dazu ziele Honeywells Ansatz eher auf die Skalierbarkeit hin zu großen Quantencomputern, sagt Schindler. Experten erwarten solche Geräte allerdings frühestens in einem Jahrzehnt. Sie könnten das volle Potenzial von dann bereits existierenden Quantenrechnern ausschöpfen. Die tatsächliche Entwicklung lässt sich aber letztlich einfach noch nicht abschätzen.
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