Tiefseeastronomie: Quantengravitation gesucht, 2450 Meter unter dem Meer

Es gibt sie nicht, eine einheitliche Beschreibung der Welt des Allergrößten und des Allerkleinsten. Zwar haben Physikerinnen und Physiker im Lauf der Jahrzehnte zahlreiche Ansätze für eine derartige Theorie der Quantengravitation entwickelt, doch lassen sich die meisten dieser Lösungsvorschläge kaum experimentell überprüfen. Einen Hoffnungsträger gibt es: das Neutrino, das beinahe masselose und nach den Photonen häufigste Elementarteilchen im Universum. Forschende der KM3NeT-Kollaboration haben nun untersucht, ob Neutrinos Aufschlüsse über die Beschaffenheit der Raumzeit liefern könnten, und einige Modelle der Quantengravitation überprüft. Ihre Ergebnisse stellen sie im Fachmagazin »Journal of Cosmology and Astroparticle Physics« vor.
Das Neutrinoobservatorium KM3NeT wird derzeit noch an zwei Standorten im Mittelmeer aufgebaut, hat aber bereits seinen Betrieb aufgenommen. Mit einer typischen Beobachtungsstation für elektromagnetische Strahlung haben die Neutrinodetektoren von KM3NeT nicht viel gemeinsam. Anstatt aus Spiegeln oder Antennen bestehen sie aus am Meeresboden verankerten Detektorsträngen, an denen Kugeln mit optischen Sensoren angebracht sind. Als Detektormaterial dient das Meerwasser des Mittelmeeres. Neutrinos wechselwirken kaum mit Materie, und die meisten von ihnen durchqueren den Detektor und selbst die ganze Erde völlig ungestört. Aber kommt es doch einmal zu einer Wechselwirkung zwischen einem Neutrino und den Atomkernen des Meerwassers, entstehen dabei ultraschnelle geladene Teilchen, die wiederum die so genannte Tscherenkow-Strahlung erzeugen. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Richtung sowie die Energie des ursprünglichen Neutrinos gewinnen.
Während der ARCA-Neutrinodetektor von KM3NeT vor der Küste Siziliens auf die Entdeckung hochenergetischer Neutrinos ausgelegt ist – und kürzlich das bislang energiereichste je gemessene Neutrino nachgewiesen hat – ist der ORCA-Neutrinodetektor auf Neutrinos mit niedrigeren Energien spezialisiert. Er befindet sich rund 40 Kilometer vom französischen Toulon entfernt in einer Tiefe von 2450 Metern unter dem Meeresspiegel. Mit ORCA wollen Forschende vor allem Neutrinooszillationen untersuchen. Es ist dieses Phänomen, das Aufschlüsse darüber liefern kann, ob einige Theorien der Quantengravitation mit ihrer Beschreibung der Raumzeit und der Schwerkraft richtigliegen.
Denn: Neutrino ist nicht gleich Neutrino. Dieses Elementarteilchen kommt in drei unterschiedlichen »Geschmacksrichtungen« daher, als Elektron-Neutrino, Tau-Neutrino oder Muon-Neutrino. Es handelt sich dabei nicht um eine dauerhafte Eigenschaft wie zum Beispiel die elektrische Ladung eines Elementarteilchens, sondern um drei unterschiedliche Quantenzustände, zwischen denen ein Neutrino wechseln kann. Die Wahrscheinlichkeit, am Ende seiner Reise ein als Elektron-Neutrino erzeugtes Elementarteilchen als Tau-, Muon- oder Elektron-Neutrino anzutreffen, hängt dabei unter anderem von der Länge des zurückgelegten Wegs ab. Zusätzlich hängen die Periode und die Amplitude dieser Neutrinooszillationen von der Energie der Neutrinos sowie vom Ausbreitungsmedium ab. Deshalb können Forschende recht genau vorhersagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit der ORCA-Detektor die verschiedenen Neutrinotypen registrieren sollte.
Eine Abweichung von diesen Wahrscheinlichkeiten hingegen könnte ein Hinweis auf Dekohärenz der Neutrinos sein. Dieses Phänomen wird von einigen Theorien der Quantengravitation vorhergesagt, in denen die Raumzeit selbst den Gesetzen der Quantenphysik folgen soll. Während laut der allgemeinen Relativitätstheorie die Schwerkraft keine Kraft im eigentlichen Sinn ist, sondern als Krümmung der Raumzeit beschrieben wird, wäre sie laut diesen Theorien den gleichen quantenphysikalischen Fluktuationen ausgesetzt, wie die anderen drei Grundkräfte der Natur.
Da die Neutrinos mit den Quantenfluktuationen der Schwerkraft wechselwirken würden, wären sie als Quantensystem nicht mehr ungestört, sondern würden Informationen mit ihrer Umwelt austauschen. Die daraus resultierende Dekohärenz würde die Neutrinooszillationen reduzieren und so die Wahrscheinlichkeiten verändern, mit denen ein Neutrinodetektor wie der ORCA-Detektor von KM3NeT die verschiedenen Neutrinotypen registriert.
Für ihre Suche nach den Spuren dieser Dekohärenz verwendeten die Forschenden der KM3NeT-Kollaboration sechs Detektorstränge des ORCA-Detektors und suchten nach Neutrinos, die durch kosmische Strahlung in der Erdatmosphäre erzeugt werden und recht niedrige Energien von einigen Gigaelektronvolt bis zu 100 Gigaelektronvolt aufweisen. Um Störsignale zu reduzieren, beachteten sie dabei nur Ereignisse, die den Detektor von unten nach oben durchqueren, also von Neutrinos ausgelöst wurden, die auf der anderen Seite der Erde erzeugt worden waren und die Erde selbst durchquert hatten, bevor sie der Detektor registrierte. Im Zeitraum von Januar 2020 bis November 2021 kamen so 5828 Neutrino-Ereignisse zusammen, die in die Analyse einflossen.
Das Ergebnis: Die Forscherinnen und Forscher fanden keinerlei signifikante Abweichungen von den erwarteten Standard-Oszillationen. Die Neutrinos verhielten sich genauso wie erwartet und wiesen keine Anzeichen auf, dass die Schwerkraft quantenphysikalischen Schwankungen unterliegt. Völlig unerwartet ist dieses Ergebnis nicht, da es sich unter anderem mit Messungen des IceCube-Neutrinodetektors in der Antarktis deckt. Somit sind die Neutrinos zwar weiterhin verheißungsvolle Elementarteilchen, da sie eine experimentelle Überprüfung von Modellen der Quantengravitation ermöglichen. Gerade ihre Dekohärenz dürfte kaum durch etwas anderes erklärbar sein. Andererseits legt die nun erschienene Studie neue, strengere Grenzen für die Stärke fest, mit der eine solche mögliche Quantengravitation überhaupt mit Neutrinos wechselwirken könnte.
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