Quantengravitation: Woraus besteht die Raumzeit?
Wenn die theoretische Physikerin Natalie Paquette von der University of Washington in Seattle versucht, eine zusätzliche Dimension heraufzubeschwören, beginnt sie mit kleinen Kreisen. Sie sind überall in Raum und Zeit verstreut und führen mittels ihrer Krümmung immer wieder zurück zum Ausgangspunkt. Dann zieht Paquette die Schlaufen zunehmend enger, und es kommt zu einer merkwürdigen Verwandlung: Die Extradimension erscheint plötzlich nicht mehr winzig, sondern wird riesengroß. »Wir schrumpfen eine Raumrichtung«, erläutert Paquette. »Aber wenn wir versuchen, das über eine bestimmte Grenze hinaus zu tun, entsteht eine neue, ausgedehnte Dimension.«
Paquette ist beileibe nicht die Einzige, die über solche seltsamen Verwandlungen nachdenkt. In zahlreichen Fachbereichen drehen sich unterschiedliche theoretische Ansätze um die Annahme, dass der Raum und sogar die Zeit keine fundamentalen Erscheinungen sind. Stattdessen könnten sie »emergent« sein, das heißt sich aus der Struktur und dem Verhalten noch grundlegenderer Komponenten ergeben. Auf dieser tieferen Ebene der Realität gäbe es auf Fragen nach dem Wo und dem Wann vielleicht überhaupt keine sinnvollen Antworten mehr. »Vielen physikalischen Beobachtungen zufolge ist die Raumzeit, so wie wir sie heute verstehen, nicht der Weisheit letzter Schluss«, bekräftigt Paquette.
Solche radikal erscheinenden Vorstellungen sind die jüngste Fortsetzung der seit einem Jahrhundert laufenden Suche nach einer Theorie der Quantengravitation. Diese soll die beste verfügbare Beschreibung der Schwerkraft, Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, mit der Quantenphysik vereinen. Erstere beschreibt, wie Masse das Gefüge aus Raum und Zeit verzerrt, Letztere dreht sich um die Eigenarten von subatomaren Teilchen. Beide Konstrukte haben sich bei zahllosen zunehmend ausgefeilten Experimenten bewährt, die zu ihrer Überprüfung entwickelt wurden. Man könnte meinen, sie müssten lediglich zusammengeführt werden und schon hätte man eine »Theorie von allem«.
Aber für die beiden Konzepte findet sich partout kein gemeinsamer Rahmen. Bei der Relativitätstheorie ergeben sich Widersprüche und unphysikalische Unendlichkeiten, sofern man versucht, sie auf den Skalen der Quantenphysik anzuwenden. Irgendwie gelingt es der Natur trotzdem, beide zusammenzubringen, denn nichts anderes muss in den ersten Momenten des Urknalls geschehen sein, und es passiert weiterhin im Inneren der Schwarzen Löcher. Wir Menschen haben bloß noch nicht verstanden, wie der Trick funktioniert. Ein Teil des Problems betrifft die Art und Weise, wie die Theorien mit Raum und Zeit umgehen. Während beide in der Quantenphysik als unveränderlich gelten, lassen sie sich in der allgemeinen Relativitätstheorie nach Belieben verzerren.
Eine Theorie der Quantengravitation müsste die unterschiedlichen Vorstellungen irgendwie miteinander in Einklang bringen. Eine Möglichkeit dazu wäre, das Problem an seiner Wurzel zu packen, der Raumzeit selbst, indem man diese aus etwas Fundamentalerem entstehen lässt. Viel versprechende Ansätze und erste Erfolge bei Teilaspekten beleben seit einigen Jahren die Hoffnung auf einen Durchbruch. Wenn die Raumzeit emergent ist, dann könnte die Klärung der Frage, wie und woraus sie entsteht, der fehlende Schlüssel zu einer Theorie von allem sein.
Mathematische Brücken zwischen grundverschiedenen Welten
Die meisten Fachleute hängen heute der so genannten Stringtheorie an. Hierbei sind Vibrationen der namensgebenden Strings die Ursache jedweder Materie und Energie. Sie rufen die unzähligen subatomaren Partikel hervor, die in Teilchenbeschleunigern auf der ganzen Welt beobachtet werden können. Sie sind sogar für die Schwerkraft verantwortlich, da sie ein hypothetisches Teilchen erzeugen, das sie überträgt, das Graviton.
Doch die Stringtheorie ist schwer zu verstehen und bewegt sich auf einem komplizierten mathematischen Terrain, dessen Erkundung bislang schon Jahrzehnte gekostet hat. Und noch immer ist ein Großteil der Strukturen unerforscht. Die aktuellen Expeditionen in die weißen Flecken dieser Landkarte navigieren hauptsächlich mit Instrumenten, die sich Dualitäten nennen. Das sind Entsprechungen zwischen einer Art von System und einem anderen.
Ein Beispiel dafür ist die eingangs erwähnte Beziehung von kleinen und großen Dimensionen. Versucht man, eine Raumrichtung kompakt zusammenzupressen, so erhält man etwas, das identisch ist mit einer Welt, in der die Dimension stattdessen riesig ist. Der Stringtheorie zufolge sind beide Situationen austauschbar. Dann kann man rechnerisch hin- und herwechseln und Werkzeuge aus der einen Umgebung nutzen, um die andere besser zu verstehen.
Viele Ansätze zur Quantengravitation
Zahlreiche Modelle sollen Quantenmechanik und Gravitation zusammenführen. Einige der am häufigsten diskutierten stellen wir hier vor.
Für viele, die sich mit der Stringtheorie beschäftigen, ist eine spezielle Dualität ausgesprochen interessant. Sie legt nahe, dass der Raum selbst emergent ist. Die Idee entstand 1997, als Juan Maldacena vom Institute for Advanced Study in Princeton eine gut verstandene Quantentheorie namens konforme Feldtheorie (CFT) mit einer ungewöhnlichen Art von Raumzeit verknüpfte, dem Anti-de-Sitter-Raum, kurz AdS-Raum. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Modelle grundverschieden zu sein. Die CFT enthält keinerlei Schwerkraft, während im AdS-Raum die Relativitätstheorie gilt. Dennoch können beide Welten auf eine gemeinsame Weise beschrieben werden. Die Entdeckung der »AdS/CFT-Korrespondenz« verband eine Quantentheorie mit einem hypothetischen Universum mit Gravitation.
Der AdS-Raum besitzt in dieser Dualität eine Dimension mehr als die Quantenwelt der CFT. Doch die Diskrepanz ist kein Problem, sondern vielmehr ein Glücksfall. Das passt nämlich zu einer anderen Art von Korrespondenz, die einige Jahre zuvor von den Physikern Gerard ’t Hooft von der Universität Utrecht und Leonard Susskind von der Stanford University hergeleitet wurde und holografisches Prinzip heißt. Ausgehend von Überlegungen über Schwarze Löcher vermuteten ’t Hooft und Susskind, die Eigenschaften eines Raumgebiets ließen sich vollständig durch seine Grenzen beschreiben. Das heißt, die zweidimensionale Oberfläche eines Schwarzen Lochs enthält alle Informationen, die man braucht, um Aussagen über sein dreidimensionales Inneres zu treffen. »Viele Leute hielten uns vermutlich für verrückt«, erinnert sich Susskind. »Wir mussten wirken wie zwei gute Physiker auf Irrwegen.«
Wie bei dem holografischen Prinzip codiert die vierdimensionale CFT in der AdS/CFT-Korrespondenz jedwede Information über den mit ihr verknüpften fünfdimensionalen AdS-Raum. Dieser ganze Bereich geht aus den Wechselwirkungen zwischen den Bestandteilen des Quantensystems hervor. Maldacena vergleicht den Prozess mit dem Lesen eines Romans. »Wenn man eine Geschichte erzählt, konstruiert man handelnde Figuren«, sagt er. »Doch eigentlich gibt es nur Textzeilen. Aus diesen wird abgeleitet, was die Charaktere tun.« Laut Maldacena wären die Figuren im Buch so etwas wie die AdS-Theorie, während die CFT dem Text entspricht.
Die Welt steht und fällt mit quantenmechanischen Verbindungen
Aber woher kommt der Raum im AdS-Raum, und wenn er emergent ist, woraus entsteht er dann? Die Antwort verbirgt sich in einer seltsamen Art der quantenmechanischen Verknüpfung: der so genannten Verschränkung, durch die Eigenschaften von Objekten miteinander korreliert werden. Das geschieht auf eine Weise, die sich weder dem Zufall zurechnen noch mit klassischer Physik erklären lässt, was Einstein dazu bewogen hat, sie als »spukhafte Fernwirkung« zu bezeichnen.
So unheimlich sie erscheinen mag, ist die Verschränkung doch ein zentrales Merkmal der Quantenphysik. Wenn zwei quantenmechanische Objekte miteinander interagieren, bleibt ihre Verschränkung bestehen, solange sie gut genug vom Rest der Welt abgeschirmt bleiben – egal, wie weit sie sich unterdessen voneinander entfernen. Mittlerweile haben Physiker bei Experimenten die Verschränkung zwischen Teilchen aufrechterhalten, die einen Abstand von mehr als 1000 Kilometern zueinander hatten, und sogar zwischen solchen, bei denen sich eines auf dem Erdboden und das andere in einem Satelliten in einer Erdumlaufbahn befunden hat. Zumindest prinzipiell könnten zwei Teilchen quer durch die Galaxie oder sogar das Universum verbunden bleiben. Distanzen scheinen für den Effekt keine besondere Rolle zu spielen.
Falls der Raum jedoch emergent ist, wäre die Eigenart der Verschränkung, über große Entfernungen hinweg konserviert zu bleiben, vielleicht gar nicht so mysteriös – schließlich wären Abstände dann lediglich ein Konstrukt. 2006 legten die Theoretiker Shinsei Ryū von der Princeton University und Tadashi Takayanagi von der Universität Kyoto im Rahmen einer gemeinsamen Veröffentlichung nahe, dass es überhaupt erst die Verschränkung ist, die Entfernungen im AdS-Raum hervorruft. Eng beieinanderliegende Bereiche auf der AdS-Seite der Dualität entsprechen dann stark korrelierten Komponenten der CFT.
Möglicherweise gilt so eine Beziehung nicht nur für das AdS-Modelluniversum, sondern auch für unseren Kosmos. »Was hält den Raum zusammen und unterbindet seinen Zerfall in einzelne Unterregionen?«, fragt Susskind und vermutet: »Verschränkungen zwischen seinen Teilen.« Quantenmechanische Verknüpfungen könnten also erst für die geordnete Geometrie um uns herum sorgen. »Zerstörte man sie irgendwie, fiele der Raum auseinander«, fährt Susskind fort. »Wir würden quasi das Gegenteil von emergentem Verhalten beobachten.«
Sollte dem so sein, legt das eine einfachere Lösung des Rätsels der Quantengravitation nahe: Die Raumkrümmungen müssten dann nicht mehr auf die Quantenebene heruntergebrochen werden, weil der Raum selbst aus einem grundlegenden Quantenphänomen hervorgeht. Susskind vermutet, das ist der Grund, warum es so schwierig war, eine Theorie der Quantengravitation zu finden. »Das hat nicht gut funktioniert, weil man von zwei verschiedenen Dingen ausgegangen ist, der allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenmechanik, und versucht hat, beide zusammenzubringen«, führt er aus. »Dabei sind beide viel zu eng miteinander verbunden, um sie schadlos erst voneinander zu trennen und dann wieder zusammenzufügen. Es gibt keine Gravitation ohne Quantenmechanik.«
Doch der Raum ist nur die halbe Miete. Da er und die Zeit in der Relativitätstheorie eng miteinander zur Raumzeit verbunden sind, muss jede Erklärung beide berücksichtigen. »Zeit muss auch irgendwie emergent sein«, meint Mark Van Raamsdonk von der University of British Columbia in Vancouver. Er gehört zu den Vordenkern einer Bewegung, die Raumzeit mit Hilfe von Verschränkungen konstruieren will. »Aber das ist noch nicht gut verstanden und ein aktives Forschungsgebiet.«
Zu den Objekten, die auf die Art näher untersucht werden, gehören auch die aus der Sciencefiction bekannten Wurmlöcher, hypothetische Verbindungen zwischen weit entfernten Regionen der Raumzeit. Früher hielten es viele Fachleute für ausgeschlossen, Objekte durch solche Abkürzungen hindurchzuschicken, und sei es nur in Gedankenspielen. Doch in den letzten Jahren wurden auf Basis der AdS/CFT-Korrespondenz und ähnlichen Modellen denkbare Wege aufgezeigt, Wurmlöcher zu konstruieren. »Wir wissen nicht, ob wir das in unserem Universum tun könnten«, räumt Van Raamsdonk mit Blick auf den Modellcharakter des AdS-Raums ein. »Aber immerhin erscheinen bestimmte Arten von tatsächlich durchquerbaren Wurmlöchern nun theoretisch möglich.« Für die Raumfahrt wären die Wurmlöcher trotzdem nicht nützlich. Susskind ist Autor mehrerer einflussreicher Untersuchungen auf dem Gebiet. Wie er betont, könne man sie »nicht schneller durchqueren, als das Licht für den langen Weg drum herum braucht«.
Die Frage, wie wir etwas jenseits von Raum und Zeit begreifen sollen, grenzt an Philosophie
Sollte die Stringtheorie richtig liegen, dann bestehen der Raum und eventuell auch die Zeit aus Quantenverschränkungen. Doch was genau soll das wiederum bedeuten? Wenn der Raum aus der Verschränkung zwischen Objekten gemacht ist, müssen diese dann nicht selbst irgendwo existieren? Und wie können sie miteinander verschränkt werden, sofern sie nicht prinzipiell Veränderung und somit Zeit erfahren? Wie sollen wir ihr Vorhandensein überhaupt begreifen, wenn die betrachteten Dinge weder Raum noch Zeit bevölkern?
Solche Fragen grenzen an Philosophie, und in der Tat beschäftigt sich dieses Fachgebiet intensiv damit. So betont Eleanor Knox, eine Philosophin der Physik am King’s College London, eine emergente Raumzeit sei zwar unintuitiv. Aber das wäre kein Problem, denn »unsere Intuition liegt manchmal schrecklich daneben«. Sie habe sich »in der afrikanischen Savanne entwickelt, wo unsere Vorfahren mit makroskopischen Objekten, Flüssigkeiten und Tieren interagierten«. Das ließe sich nicht auf die Welt der Quantenmechanik übertragen. Wenn es um die Quantengravitation gehe, seien Fragen danach, wo sich etwas befinde, schlicht nicht zielführend.
Sicherlich nehmen Objekte im Alltag bestimmte Orte ein. Wie Knox und andere jedoch betonen, müssten Raum und Zeit deswegen noch lange nicht fundamental sein, sondern nur auf zuverlässige Weise aus dem entstehen, was eigentlich die Basis von allem ist. Der Wissenschaftsphilosoph Christian Wüthrich von der Universität Genf bemüht als Analogie eine Flüssigkeit. »Letztlich geht sie zurück auf Elementarteilchen wie Elektronen, Protonen und Neutronen oder, noch fundamentaler, Quarks und Leptonen. Haben Quarks und Leptonen flüssige Eigenschaften? Das ergibt doch keinen Sinn, oder? Aber wenn die Teilchen in ausreichender Zahl zusammenkommen und kollektiv auf eine bestimmte Weise auftreten, dann verhalten sie sich wie eine Flüssigkeit.« Analog mögen Raum und Zeit in der Stringtheorie und anderen Theorien der Quantengravitation zu Stande kommen. Insbesondere könnte sich die Raumzeit auf emergente Art aus den Dingen bilden, von denen wir normalerweise behaupten würden, sie bevölkerten das Universum, nämlich Materie und Energie selbst. »Es ist ja nicht so, dass wir ausgehend von Raum und Zeit diesen anschließend etwas Materie hinzufügen müssten«, erläutert Wüthrich. »Vielmehr kann etwas Materielles eine notwendige Bedingung für die Existenz von Raum und Zeit sein. Dann ist die Verbindung immer noch sehr eng, aber genau andersherum als ursprünglich gedacht.«
Es gibt allerdings auch andere Interpretationen der Erkenntnisse aus der AdS/CFT-Korrespondenz. Diese gilt zwar oft als Beispiel dafür, wie die Raumzeit aus einem Quantensystem hervorgehen könnte. Aber die Philosophin Alyssa Ney von der University of California in Davis hält den umgekehrten Fall für ebenso gerechtfertigt. »AdS/CFT dient als Übersetzungsanleitung zwischen Wissen über die Raumzeit und über die Quantentheorie«, resümiert Ney. Dazu passe die Behauptung, Erstere sei emergent und Letztere fundamental – in der gegensätzlichen Richtung sei das jedoch genauso möglich. Die Korrespondenz könnte also gleichermaßen darauf hinweisen, dass die Quantentheorie emergent und die Raumzeit fundamental ist, oder sogar darauf, dass das für keine der beiden gilt und es eine noch grundlegendere Theorie gibt. Emergenz sei eine starke Behauptung, und Ney gibt sich offen dafür. »Aber wenn ich mir nur AdS/CFT anschaue, reicht mir das noch nicht als überzeugendes Argument.«
Passt das Modell zur realen Welt?
Die wohl größere Schwierigkeit für solche stringtheoretischen Interpretationen steckt im Namen der AdS/CFT-Korrespondenz selbst. »Wir leben nicht in einem Anti-de-Sitter-Raum«, betont Susskind, »sondern in etwas, was viel eher einem De-Sitter-Raum entspricht.« Der De-Sitter-Raum beschreibt ein beschleunigt expandierendes Universum wie unseres. »Wir haben keinerlei Vorstellung davon, wie sich das holografische Prinzip darauf übertragen ließe«, räumt Susskind ein. Deswegen ist es eine der drängendsten Aufgaben für die Stringtheorie, herauszufinden, ob eine ähnliche Korrespondenz für einen Raum gilt, der dem tatsächlichen Weltall näher kommt. »Wir werden einen besseren Zugang zu einer kosmologischen Version davon finden«, gibt sich Van Raamsdonk optimistisch.
Unterdessen hat sich noch bei keinem Experiment an Teilchenbeschleunigern irgendein Beweis für so genannte supersymmetrische Teilchen gefunden, auf die viele Versionen der Stringtheorie setzen. Laut der Supersymmetrie haben alle bekannten Teilchen ihren eigenen »Superpartner«. Dadurch würde sich die Anzahl der fundamentalen Teilchen verdoppeln. Am Large Hadron Collider des CERN bei Genf, auf den sich die Hoffnungen bei der Suche nach Superpartnern lange konzentrierten, gab es keine Anzeichen dafür. »Supersymmetrische Theorien bilden den Rahmen für alle präzise ausgearbeiteten Versionen der emergenten Raumzeit«, erklärt Susskind. »Gibt man die Supersymmetrie auf, verpufft jede mathematische Nachvollziehbarkeit der Gleichungen.«
Die Stringtheorie ist allerdings nicht der einzige Ansatz für eine emergente Raumzeit. Laut Abhay Ashtekar von der Pennsylvania State University in University Park hat sie »ihr Versprechen, Gravitation und Quantenmechanik zu vereinen, nicht eingelöst. Die Stärke der Stringtheorie liegt nun in ihrem extrem reichhaltigen Instrumentarium, das im gesamten Spektrum der Physik breite Anwendung findet.« Ashtekar ist einer der Begründer der populärsten Alternative zur Stringtheorie, der so genannten Schleifenquantengravitation. Dort sind Raum und Zeit nicht glatt und kontinuierlich wie in der allgemeinen Relativitätstheorie, sondern bestehen aus diskreten Komponenten. Ashtekar nennt sie »Stückchen oder Atome der Raumzeit«.
Diese sind zu einem Netzwerk verbunden und spannen mittels ein- und zweidimensionaler Fäden und Bänder einen so genannten Spin-Schaum auf. Der Schaum ist zwar auf zwei Dimensionen beschränkt, dennoch ergibt sich daraus unsere vierdimensionale Welt. Ashtekar veranschaulicht die Situation mit einem Kleidungsstück: »Wenn Sie Ihr Hemd betrachten, wirkt es wie eine zweidimensionale Oberfläche. Unter einem Vergrößerungsglas sieht man, dass es aus eindimensionalen Fäden besteht. Aber weil sie so dicht gepackt sind, ist das Hemd für alle praktischen Zwecke zweidimensional. Entsprechend erscheint uns der Raum als ein dreidimensionales Kontinuum, das in Wirklichkeit von den Atomen der Raumzeit gewoben wird.«
Obwohl sowohl in der Stringtheorie als auch in der Schleifenquantengravitation die Raumzeit emergent sein soll, unterscheidet sich die Art der Emergenz bei beiden Theorien. Laut der Stringtheorie entsteht die Raumzeit oder zumindest der Raum aus dem Verhalten eines davon anscheinend völlig losgelösten Systems aus Verschränkungen, ein wenig so, wie Straßenverkehr mit gelegentlichen Staus aus den kollektiven Entscheidungen einzelner Autofahrer hervorgeht. Die Autos sind nicht aus Verkehr gemacht, sie rufen ihn selbst erst hervor. In der Schleifenquantengravitation hingegen ist die Raumzeit eher mit einer Dünenlandschaft vergleichbar, die von der gemeinsamen Bewegung der Sandkörner im Wind geformt wird. Die Dünen sind aus dem gleichen Stoff, wenngleich sie weder so aussehen noch sich so verhalten wie die winzigen Körner.
Trotz solcher Unterschiede entsteht die Raumzeit sowohl bei der Schleifenquantengravitation als auch bei der Stringtheorie aus grundlegenderen Komponenten. Andere Modelle einer Quantengravitation weisen ebenfalls in diese Richtung, etwa die »Kausalen Mengen« (siehe »Viele Ansätze zur Quantengravitation«). »Es ist wirklich auffällig, dass die meisten plausiblen Theorien heute in gewisser Weise die Aussage enthalten, die Raumzeit aus der allgemeinen Relativitätstheorie sei auf fundamentaler Ebene gar nicht mehr vorhanden«, merkt Knox an. »Zumindest in einer Sache scheinen die verschiedenen Herangehensweisen also übereinzustimmen. Bereits dieser Gedanke ist aufregend.«
Mangelnde experimentelle Daten erschweren die Suche nach einer Quantengravitation
Die moderne Physik ist zum Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Sowohl die Quantenphysik als auch die allgemeine Relativitätstheorie machen in ihrem jeweiligen Geltungsbereich phänomenal präzise zutreffende Vorhersagen. Deswegen ist die Quantengravitation als Beschreibung nur in Extremsituationen vonnöten, bei denen enorme Massen auf unvorstellbar winzige Raumbereiche zusammengepresst werden. In der Natur kommen solche Bedingungen bloß an wenigen Orten vor, etwa im Zentrum eines Schwarzen Lochs. Insbesondere begegnet man ihnen nicht in Physiklabors, nicht einmal in den größten und leistungsfähigsten. Dieser Mangel an direkten experimentellen Daten ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Suche nach einer Theorie der Quantengravitation schon so lange andauert.
Angesichts dessen setzen viele ihre Hoffnungen auf einen Blick in den Himmel. Während seiner allerersten Augenblicke war das gesamte Universum unvorstellbar klein und dicht. Die Situation lässt sich nur mit Hilfe der Quantengravitation beschreiben, und Nachwirkungen davon könnten noch immer zu sehen sein. »Unsere besten Chancen liegen in der Kosmologie«, hofft Maldacena. »Vielleicht gibt es dort etwas, für das wir heute noch keine Vorhersagen treffen können, das sich aber auf Grundlage eines besseren theoretischen Verständnisses erschließen lässt.«
Zumindest indirekt könnten sich Laborexperimente trotzdem als nützlich erweisen. Beispielsweise will eine Arbeitsgruppe um Monika Schleier-Smith von der Stanford University Aspekte der AdS/CFT-Korrespondenz mittels Atomen in hochgradig verschränkten Quantensystemen untersuchen. Vielleicht erinnern Teile des Versuchsaufbaus in ihrem Verhalten dann an die Raumzeit. Solche Experimente könnten »einige, aber womöglich nicht alle Merkmale der Gravitation aufweisen«, meint Maldacena. »Das hängt auch davon ab, was genau man eigentlich als Gravitation bezeichnet.«
Werden wir jemals die wahre Natur von Raum und Zeit in Erfahrung bringen? Geeignete kosmologische Beobachtungsdaten werden vielleicht noch lange auf sich warten lassen. Laborversuche könnten weiterhin nichts ergeben. Und wie Philosophen nur zu gut wissen, sind die Fragen nach dem Charakter von Raum und Zeit schon sehr alt. Vor 2500 Jahren hat Parmenides das Seiende als unteilbar und unveränderbar begriffen. Ihm zufolge ist der Wandel eine Illusion. Sein Schüler Zenon schuf berühmte Paradoxien, um den Standpunkt seines Lehrers zu beweisen und die Widersprüchlichkeiten aufzuzeigen, die Bewegungen innewohnen sollten. Solche Arbeiten warfen die Frage auf, ob Zeit und Raum nur Einbildung sind, und haben diese beunruhigende Perspektive der westlichen Philosophie aufgeprägt. »Die Tatsache, dass die alten Griechen Fragen nach Raum, Zeit und Veränderung stellten und dass wir das auch heute noch tun, heißt doch, dass es die richtigen waren«, sagt Christian Wüthrich. »Das Nachdenken darüber hat uns viel über die Physik gelehrt.«
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