Grundlagen der Physik: Quantenkollektiv in ungekannter Größe
Wenige Konzepte in der Physik haben je unter führenden Wissenschaftlern solche Ablehnung erfahren wie die quantenmechanische Verschränkung. Albert Einstein nannte sie einst spöttisch "spukhafte Fernwirkung". Erwin Schrödinger, der die nach ihm benannte Wellengleichung der Quantenmechanik gefunden hatte, war sie ebenfalls suspekt – jedenfalls in der Interpretation, die Niels Bohr und Werner Heisenberg ihm nahezulegen suchten. Denn Bohr und Heisenberg hatten den von Schrödinger mitentwickelten Formalismus in ihrer Kopenhagener Interpretation so gedeutet, dass ein Quantensystem aus mehreren Teilchen etwas grundlegend anderes ist als die Summe dieser Teilchen.
Ein Beispiel: Bei einem verschränkten Quantensystem aus zwei Teilchen verhält es sich etwa so, dass das Gesamtsystem einen bestimmten Wert für den Drehimpuls beziehungsweise Spin oder für die Geschwindigkeit der Teilchen besitzt – jedes einzelne der beiden Teilchen aber ist in diesen Werten völlig unbestimmt. Erst durch den Akt und im Augenblick der Messung an einem der Teilchen steht der Wert für diese Messgröße fest. Für das andere Teilchen liegt dementsprechend ebenfalls erst in diesem Augenblick der entsprechende Wert fest. Ist etwa für das Gesamtsystem die Summe der Geschwindigkeiten null, so misst man beispielsweise das eine Teilchen mit fünf Metern pro Sekunde in die eine Richtung, das andere fliegt mit fünf Metern pro Sekunde genau in entgegengesetzter Richtung. Vor der Messung war die Geschwindigkeit der einzelnen Teilchen aber nicht festgelegt – sie ist laut der Kopenhagener Interpretation nicht einmal definierbar.
Bells Artikel zählen heute noch zu den meistzitierten Publikationen in seinem Fachgebiet
Das Überraschende ist, dass es keine Rolle spielt, wie weit die beiden Teilchen voneinander entfernt sind. Quantensysteme haben keine räumliche Obergrenze; sie können sich theoretisch über Lichtjahre erstrecken – deshalb auch Einsteins Spruch von der "spukhaften Fernwirkung". Eine besonders klare und eindeutige Unterart von Verschränkungsphänomenen sind die so genannten Bell-Korrelationen. Sie sind nach dem nordirischen Quantentheoretiker John Stewart Bell benannt, der in den 1960er Jahren bahnbrechende Arbeiten zum Zusammenhang von Quantensystemen geliefert hatte. Seine Artikel zählen heute noch zu den meistzitierten Publikationen in seinem Fachgebiet. Aus seiner Feder stammt auch die bellsche Ungleichung, die es erlaubt, zwischen "bellkorrelierten", also eng verschränkten Quantensystemen und klassischen Systemen zu unterscheiden, bei denen sich die Eigenschaften eines Gesamtsystems eben einfach aus der Summe der Eigenschaften seiner Bestandteile ergibt. Dank Bells Arbeiten ließ sich – allerdings erst lange nach Einsteins Tod – experimentell nachweisen, dass die Natur sich doch so verhält, wie Bohr und Heisenberg postuliert hatten. Einsteins sonst so bewundernswerte physikalische Intuition lag, nachdem was wir heute wissen, hier komplett falsch.
"Bell-Experimente" gibt es inzwischen mit unterschiedlichsten Teilchen: Atome, Ionen, Photonen, also Lichtteilchen, Elektronenspins in Festkörpern, sogar Quantenbits aus tiefgekühlten elektromagnetischen Schwingkreisen zeigen eine derartige Verschränkung. Bislang hat es sich allerdings als enorm schwierig erwiesen, bei mehr als nur einigen wenigen Teilchen eine solche Verschränkung nachzuweisen. Bei Ionen liegt der Rekord bei 14, bei Photonen bei vier, bei neutralen Atomen, Spins und Qantenbits bei jeweils zwei.
Forscher der Universität Basel haben nun gemeinsam mit Kollegen aus Singapur ein gänzlich neues Konzept vorgestellt, um Bell-Korrelationen unter sehr viel mehr Teilchen festzumachen. Sie bedienen sich hierzu des Quantenrauschens. "In unserem Experiment weisen wir die Bell-Korrelationen zwischen den Zuständen eines Bose-Einstein-Kondensats aus 480 ultrakalten Atomen nach", sagt Philipp Treutlein, Leiter des Labors für atomare Quantenoptik an der Universität Basel. Ein Bose-Einstein-Kondensat ist ein extrem tiefgekühlter Materiezustand, in dem alle Atome denselben Quantenzustand einnehmen. Die 480 Rubidiumatome im Kondensat wurden dann mit elektromagnetischen Feldern in einen Zustand gebracht, in dem ihre magnetische Ausrichtung zueinander zunächst nicht korreliert war. Durch wechselseitige Stöße verknüpften sich die Atome in ihrer magnetischen Ausrichtung nach kurzer Zeit aber miteinander. Dadurch verringerte sich das Quantenrauschen. Das konnten die Forscher messen und so die Bell-Korrelationen nachweisen.
Dieses Verhalten klingt auf den ersten Blick etwas seltsam, lässt sich im Prinzip aber recht einfach erklären: Denn Rauschen ist stets ein Hinweis auf Zufälligkeit. Ein Fernsehgerät oder die Telefonleitung lassen zum Beispiel ein Rauschen vernehmen, wenn die Geräte keinen ordentlichen Empfang haben und stattdessen willkürliche Signale auffangen und verstärken. Wenn die Quantenteilchen nun miteinander korreliert sind, besitzen sie als Kollektiv eine gewisse innere Ordnung und sind nicht mehr vollständig zufällig in ihren Eigenschaften. Die Bell-Korrelationen verringern das Maß der Zufälligkeit in diesem Quantenkollektiv. Ein Test des Rauschverhaltens ist also ein Indikator dafür, wie stark die Teilchen miteinander verschränkt sind: je weniger Rauschen, desto größer die Verschränkung.
Diese Idee, Bell-Korrelationen über das Quantenrauschen in Vielteilchensystemen auszulesen, ist erst wenige Jahre alt und von Nicolas Sangourd und seiner Arbeitsgruppe für Quantenoptik-Theorie an der Universität Basel weiter ausgearbeitet worden. Mit dem neuen Experiment hat diese Theorie sogleich einen erstaunlichen Rekordwert für bellverschränkte Quantensysteme geliefert.
"Bell-Korrelationen sind die stärksten Korrelationen zwischen Teilchen, die die Natur zulässt – und sie können mit klassischen Konzepten nicht erklärt werden", so Treutlein. "Man kann sich prinzipiell kein 'Rezept' ausdenken, mit dem sich solche Korrelationen simulieren oder vortäuschen ließen." Damit sind sie der eindeutigste Nachweis der Quantennatur.
Ronald Hanson von der TU Delft, der selbst an Bell-Experimenten arbeitet, an dieser Studie aber nicht beteiligt war, ist von der außergewöhnlichen Kontrolle eines so großen Quantensystems beeindruckt. "Die gemessenen Daten waren zwar auf der einen Seite zu erwarten, aber auf der anderen Seite sind sie auch ein Beispiel dafür, wie weit die Wissenschaft mittlerweile gekommen ist, wenn es darum geht, einen Vielteilchenquantenzustand zu kontrollieren und akkurat zu messen", so Hanson.
Verfahren prinzipiell auch für Quantentechnologien interessant
Neue Verfahren wie dieses sind prinzipiell auch für die Quantentechnologien interessant. So könnten große Quantenkollektive etwa zur Erzeugung echter Zufallszahlen für die Quantenkryptografie oder für Simulationsdaten interessant sein. Der Fokus der Forschung liegt jedoch gänzlich auf fundamentalen Fragen.
Man muss dabei allerdings eine Einschränkung machen: Die neuen Experimente sind streng genommen kein Bell-Test, der fundamentale Eigenschaften der Natur überprüft. Bei einem solchen Bell-Test macht man keine Annahmen über das zu untersuchende System – sie sind deshalb konzeptionell sehr anspruchsvoll. Bei dem vorliegenden Experiment und der dazugehörigen Theorie hingegen gingen die Forscher von den Quanteneigenschaften des Systems als Voraussetzung aus und konnten dann die Korrelationen unter den Teilchen nachweisen.
Die Forscher überlegen bereits, ihr Verfahren in Zukunft zu einem echten Vielteilchen-Bell-Test auszubauen. In einer Zusatzstudie erläutern sie, welche Richtung sie einschlagen möchten, um die Bedingungen solcher Tests zu erfüllen. So benötigt man räumlich getrennte Bose-Einstein-Kondensate, um den nichtlokalen Charakter der Vielteilchen-Bell-Korrelationen nachzuweisen. Bislang haben alle solchen Bell-Tests die Vorhersagen der Quantenmechanik in äußerster Präzision bestätigt. Die Wissenschaftler erwarten deshalb auch von Vielteilchenexperimenten keine Überraschungen. Dennoch ist es aus Sicht einer fundamentalen Überprüfung physikalischer Theorien wichtig, alle erdenklichen Grenzen zu testen – und eben auch in Hinblick auf große Quantensysteme.
Mit einem solchen Vielteilchen-Bell-Test kann man nun einerseits die Grundlagen der Physik angehen, wie etwa die Frage, ob es eine maximale Systemgröße für bestimmte Arten von Quantenkorrelationen gibt – beziehungsweise wie Quantensysteme strukturiert sein müssen, um diese Grenze möglichst weit nach oben zu schieben. Das ist andererseits nicht allein von technologischer Bedeutung, sondern weist auch auf die philosophische Rolle der schwierigen konzeptionellen Eigenheiten der Quantenphysik hin. Denn wenn sich die seltsamen Quantensysteme immer weiter direkt wahrnehmbaren Größenordnungen annähern, entsteht für philosophische Positionen, die mit einem traditionellen, klassisch-physikalisch orientierten Realitätsverständnis operieren, zunehmend Erklärungsbedarf.
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