Quantenphysik: Reelle Zahlen sind nicht genug
Schon der Name lässt erkennen, was der französische Gelehrte René Descartes von den Wurzeln aus negativen Zahlen hielt: »Imaginäre Zahlen« seien ebenso raffiniert wie nutzlos, äußerte sein Kollege Girolamo Cardano zuvor im 16. Jahrhundert, denn niemand konnte sich damals etwas darunter vorstellen. Inzwischen sind sie fest in die Mathematik und den Naturwissenschaften verankert, manche lernen sie sogar in der Schule kennen.
Denn entgegen Cardanos Auffassung erweisen sich komplexe Zahlen, die sich aus den reellen und den imaginären zusammensetzen, als äußerst nützlich. Viele Zusammenhänge lassen sich damit wesentlich einfacher ausdrücken, etwa die Theorie des Elektromagnetismus. Deshalb betrachten sie die meisten Fachleute als hilfreiches Werkzeug, das mühselige Berechnungen vereinfacht.
Die Quantenmechanik hebt sich jedoch von den anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen ab: Möchte man die nicht intuitiven Vorgänge im Mikrokosmos beschreiben, kommt man nur schwer ohne Wurzeln aus negativen Zahlen aus. Aber sind komplexe Zahlen für die Theorie unverzichtbar? ZweiExperimente, deren Ergebnisse im Dezember 2021 veröffentlicht wurden, legen genau das nahe.
Gegen jede Intuition
Die Prozesse der Quantenmechanik unterscheiden sich stark von dem, was Menschen in ihrem Alltag erleben: Teilchen nehmen bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie gemessen werden, keinen festen Zustand an, sondern lassen sich nur als Überlagerung beschreiben. Demnach kann sich ein Elektron etwa an zwei oder mehr Orten gleichzeitig befinden. Möchte man den Ausgang einer Messung vorhersagen, die den Zustand eines Objekts eindeutig festlegt, so lassen sich nur Wahrscheinlichkeiten angeben, die man mit komplexen Zahlen berechnet.
Theoretische Physikerinnen und Physiker hat es dennoch interessiert, ob eine reelle Beschreibung prinzipiell möglich wäre. Dafür wandten sie sich zunächst einfachen Systemen zu, die aus einem einzigen Teilchen bestehen. In einem solchen Fall lässt sich eine mathematische Formulierung finden, die nur auf reellen Werten basiert, man braucht allerdings doppelt so viele Dimensionen wie in der komplexen Version. Das überrascht nicht wirklich: Eine komplexe Zahl z lässt sich nämlich immer als Summe z = a + ib darstellen, wobei a und b reell sind und i der Wurzel aus –1 entspricht. Insofern kann man z als zweidimensionalen reellen Vektor (a, b) ansehen, der ganz bestimmten Rechenregeln folgt.
Somit lassen sich einfache Quantensysteme aus einzelnen Teilchen problemlos mit reellen Zahlen beschreiben. Sobald man sich aber Vorgängen mit mehreren Objekten zuwendet, wird es schwieriger. Denn neben der Überlagerung gibt es weitere ungewöhnliche quantenmechanische Phänomene, die insbesondere bei Vielteilchensystemen zum Ausdruck kommen. Dazu gehört etwa die Verschränkung: Zwei oder mehrere Teilchen können so miteinander verbunden sein, dass die Messung des einen unmittelbar auch den Zustand des anderen beeinflusst – unabhängig davon, wie weit sie voneinander entfernt sind. Um diese starke Verbindung darzustellen, braucht man eine mathematische Operation, ein Tensorprodukt. Eine analoge Verknüpfung lässt sich für den reellen Fall finden. Damit wird es möglich, beliebig viele verschränkte Teilchen, die aus einer Quelle stammen und unabhängig voneinander gemessen werden, zu beschreiben.
Ein Experiment soll Klarheit schaffen
Damit schien es, als seien komplexe Zahlen auch in der Quantenmechanik nur ein erfolgreiches Hilfsmittel, das lange Berechnungen vereinfacht – auf das man aber notfalls verzichten könnte. Doch im Januar 2021 haben Physikerinnen und Physiker um Marc-Olivier Renou vom Institut für Photonenwissenschaften (ICFO) in Barcelona ein Experiment mit mehreren Teilchenquellen und Beobachtern vorgeschlagen, das ein für alle Mal den Zahlenraum der Quantenmechanik festlegen sollte. Wie sie herausfanden, unterscheiden sich in diesem Fall die Vorhersagen der reellen und der komplexen Formulierungen.
Der Versuch besteht aus drei Beobachtern, Alice, Bob und Charlie, die mit ihren Messapparaturen eine Reihe bilden. Zwischen Alice und Bob sowie zwischen Bob und Charlie befindet sich jeweils eine Quelle, die verschränkte Teilchen aussendet. Damit erhalten Alice und Bob zeitgleich die Partikel A und B1, zudem treffen in diesem Moment bei Charlie C und bei Bob B2 ein. Alice und Charlie können eine bestimmte Messung ihrer Wahl an A beziehungsweise C vornehmen. Bob hingegen manipuliert B1 und B2 derart, dass diese danach miteinander verschränkt sind. Das hat zur Folge, dass auch A und C verschränkt sind, da diese ja zuvor mit B1 beziehungsweise B2 verschränkt waren.
Der Ausgang des Experiments lässt sich mit komplexen Zahlen vorhersagen. Verwendet man den reellen Formalismus, ergeben sich unterschiedliche Ergebnisse. Da der Versuch mit aktuellen technischen Möglichkeiten umsetzbar ist, ergriffen gleich zwei Arbeitsgruppen 2021 die Gelegenheit, es zu realisieren. Die Gruppe um Jian-Wei Pan an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften verwendete dafür supraleitende Qubits, während die Forscherinnen und Forscher um Jingyun Fan von der Southern University of Science and Technology in Shenzhen den Versuch mit verschränkten Photonen durchführten. Beide Teams konnten jeweils eine bestimmte Kenngröße messen, die aussagt, ob die reelle oder die komplexe Formulierung richtig ist – und beide Experimente bestätigten die komplexe Variante.
Eine rein reelle Beschreibung der Quantenmechanik ist jedoch nicht vollständig ausgeräumt. Es gibt zwar keine passende Version, etwa in noch mehr Dimensionen, bei denen die komplexen und die reellen Vorhersagen des vorgeschlagenen Experiments übereinstimmen. Wenn man aber die arithmetischen Operationen, wie das Tensorprodukt, und damit die Rechenregeln der Quantenphysik grundlegend ändert, könnte man womöglich auf die gleichen Ergebnisse kommen. Das wäre allerdings überaus kompliziert und unübersichtlich, weshalb dieser Ansatz nicht besonders populär ist. Zudem würde er in anderen Szenarien weitere Fragen aufwerfen. Damit scheint die Theorie des Mikrokosmos auf komplexen Zahlen zu fußen – wodurch der Zahlenraum wohl tiefer in der Natur verankert ist, als man bisher angenommen hatte.
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