Grundlagen der Quantenphysik: Quantenteilchen auf bohmschen Bahnen
Seit der Entstehung der Quantenmechanik herrscht Streit unter Physikern und Philosophen, wie diese eigenartige Theorie denn nun zu verstehen sei. Der Zufall regiert, Quantensprünge bringen Brüche von Ort und Zeit in die Natur, die Anschauung geht verloren – und dann führten Niels Bohr und Werner Heisenberg auch noch neue Definitionen der Begriffe "Messung" und "Beobachter" ein. Die Messung eines quantenmechanischen Vorgangs sollte demnach nicht unabhängig von dessen Beobachter möglich sein. Diese Sichtweise, nach ihrem Entstehungsort Kopenhagener Deutung oder Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik genannt, wurde sogleich von Albert Einstein und anderen angegriffen. Sie wollten in den Grundlagen der Physik nur objektive, physikalisch definierbare Begriffe wissen. Der Bezug auf einen Beobachter als physikalische Größe erschien ihnen falsch weil zu subjektiv.
In der berühmten Bohr-Einstein-Debatte konnte Bohr allerdings die ausgeklügelten Attacken Einsteins immer wieder abwehren und die Kopenhagener Deutung setzte sich durch. Heute ist sie das Standard-Arbeitsinstrument der Quantenphysiker.
David Bohm, ein US-amerikanischer Quantenphysiker, der unter anderem in Princeton, Haifa und London forschte, wollte wie Einstein nur "realistische" Begriffe im Sinn physikalisch objektiver Größen in der Theorie sehen. Und er schaffte es in den 1950er Jahren, die Quantenmechanik umzuformulieren. Indem er neue Gleichungen in die Theorie einführte, gelang es ihm, das Kopenhagener Postulat des Beobachters zu vermeiden und damit eine realistische Interpretation der Quantenmechanik zu entwerfen. Während die Kopenhagener noch einen begrifflichen Schnitt zwischen symbolisch beschriebenen Quantenobjekten und makroskopischen Messgeräten ziehen müssen, erlaubt es die bohmsche Theorie zumindest prinzipiell, die Dynamik des gesamten Universums anhand der Quantengesetze zu verstehen.
"Verglichen mit der Kopenhagener Deutung mag ich an der bohmschen Theorie, dass sie ein einheitliches Bild der Physik liefert", sagt der Quantentheoretiker Howard Wiseman von der Griffith University im australischen Brisbane. "Alles vom Innern eines Atomkerns bis hin zum gesamten Universum lässt sich auf dieselbe Weise beschreiben."
Der berühmt-berüchtigte Doppelspalt
Der Unterschied zwischen der Kopenhagener und der bohmschen Sichtweise lässt sich am besten anhand des Doppelspaltexperiments veranschaulichen. Ein Lichtteilchen oder Photon fliegt auf einen Doppelspalt zu und trifft dahinter auf einen Schirm, wo es nachgewiesen wird. Die Eigenheiten der Quantenphysik bewirken, dass die Photonen dabei nicht gehäuft hinter den beiden Spalten auftreffen, sondern ein Interferenzmuster erzeugen, wie man es eigentlich von Wellen erwartet – wie bei Schall- oder Wasserwellen, die durch beide Spalte treten können. Und doch erzeugt jedes Photon nur einen einzigen wohllokalisierten Punkt.
"Das Teilchen bewegt sich wie ein winziger Tischtennisball, der nur durch einen Spalt gehen kann und nie durch zwei gleichzeitig"
Laut der Kopenhagener Sichtweise ist der Weg des Photons durch die Apparatur überhaupt nicht definiert. Erst die Messung am Schirm ergibt eine reale Ortsbestimmung, wobei die Wahrscheinlichkeit dafür von der Wellenfunktion vorgegeben ist. Mehr als diese Wahrscheinlichkeit lässt sich nicht angeben. Das Photon besitzt also Wellen- und Teilcheneigenschaften; man spricht deshalb von der Wellen-Teilchen-Dualität. Es ist aber weder das eine noch das andere, sondern ein Quantenobjekt. Und seine Eigenschaften können wir laut den Kopenhagenern nur mit Hilfe makroskopischer Messapparate ermitteln, deren klassisches Funktionieren wir für die Messung voraussetzen müssen – diese Messgeräte befinden sich etwa immer in einem bestimmten Zustand und nicht in einer Überlagerung von Zuständen, wie es bei Quantenobjekten gang und gäbe ist.
In der Sichtweise der bohmschen Mechanik sieht das Doppelspaltexperiment ganz anders aus: Hier ist das Photon ein punktförmiges Teilchen und keine quantenmäßig verschmierte Welle. Dieses Teilchen bewegt sich auf wohldefinierten Bahnen – wie ein winziger Tischtennisball, der nur durch einen Spalt gehen kann und nie durch zwei gleichzeitig. Wie aber kommt dann die Interferenz zu Stande? Laut Bohm stammt diese von einer "Führungswelle", die wie die Kopenhagener Welle durch beide Spalte geht und dabei das Photon so führt, dass schließlich exakt dieselben Messergebnisse zu Stande kommen wie bei den Kopenhagenern. Diese Führungswelle kommt aber ohne die bis zur Messung verborgene Wahrscheinlichkeitsverteilung der Kopenhagener Welle aus. Stattdessen ist sie deterministisch. Jedoch kann man die Anfangsbedingungen für die Entwicklung der Führungswelle nie so genau kennen, dass sich exakt festlegen lässt, wo das Photon am Ende gemessen wird. Die heisenbergsche Unschärferelation bleibt so auch bei Bohm erhalten. Deshalb konnte bislang kein Experiment zwischen diesen Interpretationen unterscheiden.
Das ESSW-Experiment soll Bohms Mechanik widerlegen
Im Jahr 1992 entwarfen die Physiker Berthold-Georg Englert, Marian Scully, Georg Süssmann und Herbert Walther das nach ihren Initialen benannte ESSW-Experiment, mit dem sie hofften, die bohmsche Mechanik widerlegen zu können. Es handelt sich hierbei um eine Variante des Doppelspaltexperiments, bei dem man zwei verschränkte Photonen erzeugt. Eines der beiden fliegt durch den Doppelspalt, das andere in einen Polarisationsmessapparat, der die Schwingungsebene der dem Photon entsprechenden elektromagnetischen Welle bestimmt. Die Polarisationen der beiden Photonen sind gekoppelt.
Das Experiment ist nun so angelegt, dass abhängig von der Polarisation jenes Photon, das durch den Doppelspalt tritt, entweder auf der oberen oder der unteren Hälfte des Schirms auftrifft – je nachdem, welchen Spalt es passiert hat. Diese Korrelation lässt sich durch die Messung der auftreffenden Photonen am Schirm und die gleichzeitige Bestimmung der Polarisation der verschränkten Photonen untersuchen. Laut den Autoren des ESSW-Experiments sollten dabei "surreale" Photonenbahnen zu Stande kommen, die der Annahme Bohms widersprechen, mit seiner Mechanik reale Bahnen beschreiben zu können.
Kanadischen Forschern um Aephraim Steinberg ist es nun in Zusammenarbeit mit dem theoretischen Physiker Howard Wiseman gelungen, das ESSW-Experiment durchzuführen. Die Forscher konnten, entgegen der Erwartung seiner geistigen Schöpfer, die Bahnen der Photonen tatsächlich nachweisen und so die bohmsche Interpretation stärken.
Da Quantensysteme durch Messungen gestört werden, mussten die Physiker tief in die Trickkiste greifen: Sie ließen viele Photonen durch die Apparatur fliegen und machten nur sehr schwache Messungen, die das Ergebnis möglichst wenig verfälschten. So konnten sie nicht nur die so genannten Trajektorien der Photonen sichtbar machen. Der Abgleich mit den verschränkten Photonen und der Polarisationsmessung ergab: Diese surrealen Bahnen waren durchaus im Einklang mit der bohmschen Theorie.
Damit steht fest: Das ESSW-Experiment ist kein "experimentum crucis", das die bohmsche Mechanik widerlegen könnte. Es spricht aber auch nicht gegen die Kopenhagener oder andere Deutungen wie etwa die Vielwelten-Interpretation. "Die Resultate des Experiments sind mit all diesen Interpretationen der Quantenmechanik verträglich", so Wiseman. "Die Ergebnisse des Experiments illustrieren aber die bohmsche Mechanik besonders gut."
Philosophische Aspekte der Quantenphysik
Ein entscheidender Unterschied zwischen der Kopenhagener Deutung und der bohmschen Formulierung der Quantenmechanik besteht in der Einordnung der Wellenfunktion: Bei den Kopenhagenern spiegelt die Wellenfunktion keine reale Entität wider, sondern lediglich das Wissen des Beobachters über mögliche Messergebnisse. Erwin Schrödinger hat für diese symbolisch verstandene Wellenfunktion deshalb auch den schönen Begriff "Erwartungskatalog" geprägt.
Die bohmsche Mechanik hingegen interpretiert ihre Wellenfunktion, die Führungswelle, realistisch; sie ist also eine real existierende physikalische Entität – analog zu bekannten physikalischen Feldern wie Magnet- oder Gravitationsfeldern. Und ähnlich wie diese Felder führt die Wellenfunktion die Quantenteilchen entlang ihrer Bahnen.
Die philosophische Einordnung der bohmschen Mechanik ist schwierig: Zwar erlaubt sie einerseits, klassische Bahnen von Teilchen darzustellen – zugleich besitzen die Bahnen aber merkwürdige Eigenschaften, wie wir sie bei klassischen Teilchen natürlich nicht erwarten würden. Die bohmsche Mechanik eröffnet damit nun eine neue Möglichkeit, sich Quantenphänomene bildlich vorzustellen – etwas, was die Kopenhagener Interpretation streng genommen ausdrücklich verbietet, beziehungsweise nur näherungsweise als zulässig erachtet.
"Bohms Theorie war Einstein bekannt, aber nicht radikal genug"
Bei genauerer Betrachtung wird die Sache noch deutlich komplizierter. Zwar soll die Wellenfunktion nach der bohmschen Mechanik eine Art real existierendes Feld sein, doch unterscheidet sich dieses Feld von anderen bekannten Feldern wie etwa Magnetfeldern. Denn im Prinzip kann auch nach dem bohmschen Prinzip trotzdem ein beliebig weit entferntes Ereignis auf irgendein anderes im Universum eine reale Wirkung ausüben, die berühmte "spukhafte Fernwirkung" nach Einstein. Das verstößt gegen den Geist der Relativitätstheorie, der zufolge keine physikalische Wirkung schneller als das Licht sein kann. Man bezeichnet dies auch als relativistisches Lokalitätsprinzip. Der Grund, warum sich so wenige Physiker als Anhänger der bohmschen Mechanik bezeichnen, liegt wohl auch an diesen sonderbaren Eigenschaften, die die Wellenfunktion mit sich bringt.
Da die Relativitätstheorie – auch wenn sie als Theorie von Raum und Zeit nicht die Eigenschaften von Materie zu bestimmen vermag – sich bislang bei jeder Überprüfung ihrer Prinzipien bewährt hat, schmeckt diese Verletzung des Lokalitätsprinzips den meisten Physikern nicht. Wie auch das nun durchgeführte ESSW-Experiment zeigt, ist eine solche Fernwirkung ein unentrinnbarer Bestandteil der bohmschen Mechanik.
Das Problem mit der Lokalität
Zwar bringen einige Kritiker der Kopenhagener Deutung ein, auch diese besäße ja nichtlokale Eigenschaften. Doch sticht dieses Argument nicht wirklich: Denn den Kopenhagenern zufolge ist die Wellenfunktion eben keine reale physikalische Größe. Der Wissenschaftstheoretiker Abner Shimony hat diesen Zusammenhang – in Anlehnung an die Situation der westlichen und östlichen Machtblöcke im Kalten Krieg – als friedliche Koexistenz zwischen Kopenhagener Deutung und Relativitätstheorie bezeichnet. Dies kann die Kopenhagener Deutung aber nur deshalb für sich in Anspruch nehmen, weil sie die Wellenfunktion nur als mathematisches Hilfskonstrukt sieht, das die Statistik künftiger Messergebnisse zu ermitteln erlaubt. Dank der Einführung der Begriffe "Messung" und "Beobachter" als physikalische Entitäten, entgeht die Kopenhagener Deutung diesem Dilemma. Die Anhänger der bohmschen Mechanik hingegen bevorzugen dieses Dilemma gegenüber der Einführung eines Kopenhagener Verständnisses von "Messung" und "Beobachter" in die Grundlagen einer physikalischen Theorie.
Bislang ist die Beschäftigung mit den Grundlagen der Quantenphysik ein Spartenthema, auf dem weltweit nur wenige eingefleischte Experten arbeiten. Dank der großen Fortschritte in der Experimentaltechnik in den letzten Jahren ist es nun endlich möglich geworden, viele der auf den ersten Blick skurrilen Gedankenexperimente, die zum Teil auf die Schöpfer der Quantenmechanik zurückgehen, live im Labor nachzuvollziehen. Einstein und Bohr wären sicherlich verzückt, wenn sie wüssten, was nicht einmal 100 Jahre nach Aufstellung dieser Theorie so alles auf dem Labortisch möglich ist.
Eine experimentelle Entscheidung ist aber nicht so schnell zu erwarten. Wie dieses und viele andere Experimente zeigen, sind die bekannten Interpretationen der Quantenphysik solide genug formuliert, um die Ergebnisse von Experimenten in bester Übereinstimmung vorherzusagen. Der Vorzug für die eine oder andere Sichtweise bleibt auch nach den neuen experimentellen Ergebnissen eine Sache der Philosophie oder auch der Psychologie jedes Einzelnen. Die Wissenschaft hat bislang von einer gewissen Pluralität der weltanschaulichen Überzeugungen von Forschern stets profitiert.
Wie wirkungsmächtig solche philosophischen Haltungen sein können, sehen wir deutlich am Beispiel von Albert Einstein: In der zweiten Hälfte seines Forscherlebens, als die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie bereits anerkannt waren, arbeitete er in zunehmender wissenschaftlicher Isolation an einer allgemeinen Feldtheorie der Materie, die die Quantenmechanik ersetzen sollte. Bohms Theorie war ihm bekannt, aber nicht radikal genug. Kaum jemand konnte Einstein auf seinen abstrakten Gedankengängen folgen. Erst lange nach seinem Tod stellte sich bei Quantenexperimenten heraus, dass Einstein von nicht tragbaren Annahmen ausgegangen war. Das Geschehen im Mikrokosmos zeigt dem menschlichen Verstand seine Grenzen auf.
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