Radikale Ehrlichkeit: Ein Leben ohne Lügen
Früher vermied Anna Haas es, jemanden anzusprechen, den sie attraktiv fand, oder sich in einer Konferenz zu Wort zu melden. Es war »der Horror« für sie, vor einer Gruppe zu reden. Situationen, in denen sie rot werden könnte, wollte sie unbedingt vermeiden, sagt die 49-Jährige heute. »Niemand sollte meine Unsicherheit sehen.«
Dann stieß sie 2017 auf das Konzept der radikalen Ehrlichkeit des US-amerikanischen Psychotherapeuten Brad Blanton. Blanton machte es 1995 in seinem internationalen Bestseller »Radical Honesty« (auf Deutsch erschienen unter dem Titel »Radikal ehrlich«) bekannt. Inzwischen besitzt er ein ganzes Unternehmen, das Onlinekurse, Workshops und Retreats zum Thema für Interessierte auf der ganzen Welt anbietet, mit Blanton selbst oder mit zertifizierten Trainern. Der Kern der Idee: so oft wie möglich die Wahrheit auszusprechen – selbst wenn sie schmerzt.
Für Haas war es nach eigenen Aussagen der Weg zu innigeren Beziehungen und mehr Selbstakzeptanz. Es war aber auch ein Weg voller Konflikte und Unsicherheit. Ist radikale Ehrlichkeit also wirklich der Schlüssel zum Glück? Gibt es nicht vielleicht auch Situationen, in denen es besser ist, die Wahrheit zu verschweigen – oder zu einer kleinen Notlüge zu greifen? Zum eigenen Wohl und dem anderer?
Sagen, was man fühlt und sieht
Auf den ersten Blick scheint es so, als würde man im Leben mit Lügen leichter vorankommen: Hersteller von Autos manipulierten in großen Stil Abgasmessungen, um Grenzwerte einzuhalten und ihre Fahrzeuge als besonders »sauber« deklarieren zu können, und erzielten damit jahrelang hohe Gewinne. Donald Trump machte Berechnungen der »Washington Post« zufolge während seiner Präsidentschaft rund 30 000 falsche oder zumindest irreführende Aussagen und hat inzwischen trotzdem wieder gute Chancen auf eine weitere Amtszeit. Und selbst der bekannten Verhaltensforscherin Francesca Gino von der Harvard Business School in Boston wird vorgeworfen, Daten gefälscht zu haben – ausgerechnet in einer Studie, in der es um das Thema Ehrlichkeit geht.
Jemand lüge, wenn er »absichtlich die Unwahrheit sagt, um jemanden zu täuschen«, erklärt der Psychologe Philipp Gerlach von der Hochschule Fresenius, der sich hunderte Studien zu dem Thema angesehen hat. Dabei gäbe es jedoch verschiedene Graustufen: Ist zum Beispiel schon das Übertreiben in einem Vorstellungsgespräch eine Lüge? Oder noch zulässige Wahrheit? Das ist auch in der Wissenschaft nicht ganz einheitlich definiert.
Männer lügen im Durchschnitt etwas häufiger als Frauen, Jüngere öfter als Ältere
2019 wollte Gerlach gemeinsam mit zwei Kollegen herausfinden, wer am häufigsten lügt. Dazu schaute sich die Forschungsgruppe 565 Experimente zu unehrlichem Verhalten mit insgesamt 44 050 Teilnehmenden an. Bei den Versuchen bekamen die Probandinnen und Probanden zum Beispiel die Gelegenheit, über den Ausgang eines Münzwurfs zu lügen, um so ungerechtfertigterweise eine Belohnung zu erhalten. Die Ergebnisse der in der Fachzeitschrift »Psychological Bulletin« veröffentlichten Studie: Männer lügen im Durchschnitt etwas häufiger als Frauen, Jüngere öfter als Ältere. Und wir täuschen vermutlich mehr, je größer die Belohnung für dieses Verhalten ist.
Als Haas das erste Mal von dem Konzept der radikalen Ehrlichkeit hörte, hatte sie zunächst Angst, alles aussprechen zu müssen. Die gebürtige Berlinerin erkannte allerdings bald, dass es weniger darum geht, jemandem brutal seine Meinung zu sagen, als vielmehr darum, seine Gefühle und Beobachtungen nach außen zu tragen. Zu beschreiben, was man sieht, hört oder fühlt – also zwischen Wahrnehmung und Interpretation zu unterscheiden. Zum Beispiel zu sagen: »Ich sehe, du hast Augenringe, und stelle mir vor, dass du überarbeitet bist. Ist das so?« statt zu fragen: »Warum bist du denn so gestresst?«
Dafür musste Haas sich allerdings erst einmal selbst besser kennen lernen. Sie besuchte Workshops zur radikalen Ehrlichkeit, probierte Meditation aus und merkte immer mehr, wann ihr Körper angespannt war. Am Ende des Tages fragte sie sich, in welchen Momenten sie sich unwohl gefühlt hatte. Es waren oft jene, in denen sie etwas anders hatte sagen oder machen wollen.
Ehrlichkeit im Job
Haas wollte tiefer in die radikale Ehrlichkeit einsteigen, sich einlesen, vielleicht auch anderen Menschen mit ihren Erkenntnissen helfen. Doch es gab ein Problem: Sie hatte einen Job an der Uni, neben dem sie keine zeitintensive Ausbildung zum Coach für radikale Ehrlichkeit machen konnte. Haas brauchte Wochen, um das Thema bei ihrer Vorgesetzten anzusprechen und zu fragen, ob sie ihren Job auf einen Tag pro Woche reduzieren könnte. Andere hätten vielleicht gelogen und zum Beispiel behauptet, dass sie jemanden pflegen müssen, in der Hoffnung, dass diese Erklärung leichter auf Verständnis stoßen würde. Doch Haas blieb bei der Wahrheit. Beim Gespräch war sie zunächst aufgeregt, aber als sie erklärte, warum ihr die Ausbildung am Herzen liegt, wurde sie ruhiger. Am Ende stimmte ihre Vorgesetzte dem Vorschlag zu.
Gerade im Job, sollte man meinen, zahlt sich Offenheit nicht immer aus. So empfehlen beispielsweise Bewerbungshandbücher, im Vorstellungsgespräch »Reizwörter« wie »psychische Probleme«, »Trennungskrise« oder »Selbstfindung« lieber zu vermeiden, um eine Lücke im Lebenslauf zu erklären. Zudem solle man bei der Frage, ob man drei Stärken und drei Schwächen nennen könne, nur eine Schwäche aufzählen. Notfalls müsse der potenzielle Arbeitgeber eben noch einmal nachfragen.
Ein Team um Joshua Bourdage der University of Calgary schaute sich im Fachmagazin »Personnel Psychology« fünf Studien zur Selbstdarstellung in Bewerbungsgesprächen genauer an. Darin wurden Bewerber etwa dazu befragt, ob sie das Gefühl hatten, bei der Schilderung von Verantwortungen in früheren Jobs manchmal übertrieben zu haben. Eines der Ergebnisse von Bourdage und seinen Kollegen war, dass unehrliches Verhalten zwar oft zu einem guten Abschneiden im Bewerbungsgespräch führte. Meist schieden die entsprechenden Personen dann aber später im Bewerbungsprozess dennoch aus. Ehrliches Verhalten hingegen führte eher dazu, dass Bewerber einen Job später auch angeboten bekamen – aus Sicht der Forschungsgruppe ein ermutigendes Ergebnis.
Mit einer Lüge oder einer Übertreibung kann man sich im Berufsleben kurzfristig einen Vorteil verschaffen
Es gab allerdings auch Situationen, in denen sich Unehrlichkeit auszahlte. Etwa dann, wenn potenzielle Arbeitgeber ihre Entscheidung bereits nach dem ersten Bewerbungsgespräch trafen – was in der Realität gar nicht so selten vorkommt. Gerlach bestätigt, dass man sich mit einer Lüge oder einer Übertreibung im Berufsleben kurzfristig einen Vorteil verschaffen kann. Langfristig könne es dann jedoch zu Problemen kommen. Zum Beispiel, wenn man vorgibt, eine Programmiersprache zu beherrschen, von der man eigentlich gar keine Ahnung hat. Zudem trägt man mit »Notlügen« in Bewerbungsgesprächen dazu bei, die Stigmatisierung bestimmter Gruppen in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, etwa von Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Wie ehrlich man selbst ist, wirkt sich aber auch darauf aus, wie man seine Arbeit erledigt: Eine Studie im »Journal of Psychology: Interdisciplinary and Applied« fand Hinweise darauf, dass sich eher unehrliche und egoistische Menschen stärker durch Unsicherheit im Job beeinflussen lassen. Sie tendieren dann vermehrt dazu, gegen die Interessen der Firma zu handeln, etwa indem sie Aufgaben schleifen lassen.
Der Schlüssel zu tiefen Beziehungen
Während ihrer Ausbildungen wagte sich Anna Haas immer weiter ins Gebiet der bewussten Ehrlichkeit vor. Auch in ihrem Privatleben begann sie mit dem Konzept zu experimentieren. Wie wäre es, wenn sie bei einem Date offen über Körperscham zum Beispiel wegen ihre Cellulite spricht, anstatt sie umständlich zu verbergen? Wie wäre es, einfach auszusprechen, dass sie gerade rot geworden ist?
Einmal hatte Haas einen Freund, der ziemlich tollpatschig war. Ständig stolperte er oder ließ etwas fallen, was Haas zunehmend nervös machte. Statt ihr Unbehagen herunterzuschlucken, suchte sie das Gespräch. Dabei kam heraus, dass er schon häufiger gehört hatte, dass er ungeschickt sei. Er wurde aber auch genervt und entgegnete: »Und was soll ich jetzt machen?« Haas merkte, dass sie ihn verletzt hatte, trotzdem sei die Beziehung dadurch »weicher« geworden, sagt sie. Das Thema spielte im Anschluss keine Rolle mehr für sie, im Gegenteil: Sie konnte fast liebevoll auf die Eigenschaft schauen, die sie anfangs gestört hatte. Inwiefern das Gespräch ihren Freund noch weiter beschäftigt hat, weiß sie allerdings nicht.
Ehrlich in einer Beziehung zu sein bedeutet nicht, dass man direkt alles aussprechen muss, was einem in den Kopf kommt
Einer Studie im Fachmagazin »Communication Studies« zufolge lügen Menschen in einer Partnerschaft weniger aus rein egoistischen Gründen, sondern eher, um die Beziehung zu erhalten oder um die Kontrolle zu bewahren. Vor allem während des Kennenlernens wird die Wahrheit gerne mal ein wenig beschönigt. Das zeigt zum Beispiel eine Untersuchung, für die ein Team von der University of Oregon und der Stanford University Nachrichten aus Dating-Apps von 109 Teilnehmenden analysierte und die Absender dazu befragte, wie ehrlich sie in den Unterhaltungen gewesen waren. In sieben Prozent der Mitteilungen hatten sich die Versuchspersonen mit kleinen Täuschungen beholfen und beispielsweise vorgegeben, die gleichen Interessen wie ihr Gegenüber zu haben, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Für die psychologische Psychotherapeutin Vivian Jückstock, die auch im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung sitzt, ist Ehrlichkeit das Fundament einer guten Beziehung. Dabei sei es wichtig, nicht erst dann ehrlich zu sein, wenn die Partnerschaft bereits stabil ist. Sondern umgekehrt: Die innere Wahrheit auszusprechen führe überhaupt erst zu einer festeren Beziehung.
Ehrlich in einer Beziehung zu sein bedeute aber nicht, dass man direkt alles aussprechen müsse, was einem in den Kopf kommt, schränkt die Psychotherapeutin ein. Denn manche Dinge, mit denen Menschen hadern, hätten nicht so sehr mit dem Partner oder der Partnerin zu tun als »vor allem mit einem selbst«. So können enge Bindungen etwa Angst erzeugen und zu der Frage führen, ob der andere wirklich der Richtige ist. Ausgesprochen lösen solche Gedanken beim Gegenüber im schlimmsten Fall unnötige Sorgen aus. Deshalb sei es in solchen Situationen ratsam, seine Ängste erst einmal selbst zu analysieren.
In anderen Fällen kann es in einer Beziehung ebenfalls hilfreich sein, nicht alles offen anzusprechen, woran man gerade denkt. Sexuelle Fantasien dürfen zum Beispiel gerne im eigenen Kopf bleiben, wenn man sie nicht in die Tat umsetzten möchte, sagen Experten. So läuft man nicht Gefahr, den Partner durch etwas zu verunsichern oder unter Druck zu setzen, das eigentlich bloß Kopfkino bleiben soll.
Haas hat inzwischen ihren eigenen Ansatz zur Ehrlichkeit entwickelt und gibt ihre Erkenntnisse hauptberuflich als Coach an andere Menschen weiter. Ihrer Erfahrung nach haben viele Menschen Angst vor den Folgen der eigenen Ehrlichkeit. Oft hätten Paare verlernt oder nie angefangen, wirklich miteinander zu reden. Haas versucht, sie dabei zu begleiten und im Zweifelsfall zu vermitteln und zu übersetzen. Es geht ihr nicht darum, alle Menschen zur Ehrlichkeit zu überreden. Es gäbe keine Garantie dafür, dass mit der Wahrheit alles besser wird. Häufig überschätze man jedoch, was alles Schlimmes passieren könne, wenn man ehrlich ist, sagt sie.
Diese Ansicht teilt auch Jückstock. Oft hielten Menschen mit schlimmen Ereignissen aus ihrer Vergangenheit wie einem erlebten sexuellen Übergriff hinter dem Zaun, weil sie befürchteten, der oder die andere könne sie dann mit anderen Augen sehen. Wenn man schweige, vergebe man aber vielleicht die Chance, sich weniger einsam zu fühlen, erklärt die Psychologin. »Oder mitzubekommen, dass man trotz allem, was man mitbringt, geliebt werden kann.«
Für Haas war der Weg zur Ehrlichkeit eine Erfolgsgeschichte. Seit sie angefangen habe, ihre Gedanken häufiger offen auszusprechen, sei sie glücklicher, selbstbewusster, fühle sich mehr mit anderen Menschen verbunden, berichtet sie. Wissenschaftliche Studien lassen allerdings keinen Zweifel daran, dass das Verschweigen manchmal auch Vorteile bieten kann. Bleibt am Ende die Frage: Wie ehrlich möchte man selbst im Leben sein?
Drei Tipps für mehr Ehrlichkeit in Paarbeziehungen
Wer sich mehr Offenheit in der Partnerschaft wünscht, dem rät die Psychotherapeutin Vivian Jückstock Folgendes:
Stecken Sie frühzeitig ab, wo Grenzen für Sie liegen und wie ehrlich Sie miteinander sein wollen. Wie exklusiv möchten Sie füreinander sein? Wenn einer untreu war, würde der andere Partner oder die Partnerin das wissen wollen? Besprechen Sie solche Fragen regelmäßig neu.
Hören Sie aktiv zu. Um Missverständnissen vorzubeugen, kann es hilfreich sein, in Gesprächen zunächst wiederzugeben, was von dem Gesagten bei Ihnen angekommen ist. Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Ihr Partner kommt nach Hause und beschwert sich, dass die Küche unordentlich ist. Anstatt sich zu rechtfertigen und möglicherweise einen Streit auszulösen, könnten Sie entgegnen: »Die Küche stört dich. Habe ich richtig gehört, dass du dir wünschst, dass ich sie aufräume?« Vielleicht wollte Ihr Gegenüber bloß eine Aussage zum Zustand der Küche machen oder Sie zu einer gemeinsamen Putzaktion aufrufen. Üben Sie aktives Zuhören zunächst in weniger erhitzten Situationen, zum Beispiel, wenn Sie sich gegenseitig von Ihrem Tag erzählen.
Überlegen Sie sich, wie viel Ehrlichkeit Sie sich selbst von Ihrem Gegenüber wünschen, und orientieren Sie sich daran. Generell gilt, dass es sinnvoll ist, bei Dingen ehrlich zu sein, die die Zukunft der Beziehung betreffen – also zum Beispiel bei einem möglichen Kinderwunsch, bei Plänen zur Festigung der Beziehung, finanziellen Probleme oder schwere Erkrankungen.
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