Teilchenphysik: Rätsel um OPERAs Neutrinomessungen gelöst
Mit großem Medienrummel und einer Pressekonferenz am CERN enthüllten Wissenschaftler des OPERA-Experiments am 23. September 2011 Messungen, die angeblich zeigten, dass sich Neutrinos schneller als das Licht bewegten. Jeder Physiker musste hier sofort hellhörig werden, widersprach ein solches Ergebnis doch einem der Grundpostulate der Speziellen Relativitätstheorie. Und nicht nur das, auch andere frühere Experimente ließen nicht mit der Behauptung der "überlichtschnellen Neutrinos" vereinen. Doch das vom folgenden Medienrummel hochgespielte Ergebnis ist nach neuesten Ergebnissen genau das, was der allergrößte Teil der weltweiten Forschergemeinde sofort vermutete: ein Messfehler. Das unabhängige ICARUS-Experiment schien dies zu bestätigen, dort verhielten sich die Neutrinos wie erwartet. Vor wenigen Wochen berichteten Medien dann von einem "lockeren Kabel", das den scheinbar zu schnellen Flug der Elementarteilchen verursachte. Doch zwischen dieser Vermutung und ihrem Beweis liegt ein gutes Stück wissenschaftlicher Ermittlungsarbeit, welche die Forscher nun erbrachten. Matt Strassler, Teilchenphysiker und Professor an der Rutgers University (New Jersey, USA), hat die Ereignisse nun in seinem Blog zusammengetragen und dokumentiert.
Das OPERA-Experiment befindet sich im italienischen Gran-Sasso-Labor, gut 730 Kilometer vom CERN in Genf entfernt. Es ist also kein CERN-Experiment (wie oft und falsch wiederholt); der Teilchenbeschleuniger erzeugt lediglich die Neutrinos. Diese flitzen ungehindert durch die Erde, bevor sie vom OPERA-Detektor registriert werden. Die Entfernung zwischen Start- und Endpunkt der Messung ist sehr exakt bekannt, die erwartete Flugzeit lässt sich also berechnen. Gestoppt wurde die Flugzeit durch synchronisierte Uhren am CERN und bei OPERA. Das erste Ergebnis schien eindeutig: rund 61 Nanosekunden schneller als das Licht schienen die Neutrinos die 730 Kilometer zu überwinden. Ein nach der Pressekonferenz wiederholtes Experiment mit höherer Genauigkeit schien die Sensation zu bestätigen: Erneut waren die Neutrinos rund 62 Nanosekunden zu schnell.
Wer hat an der Uhr gedreht?
Entscheidend bei diesen Messungen ist die Synchronisation der beteiligten Uhren. Stimmt diese nicht, ist auch die Geschwindigkeitsmessung falsch. Zur Abstimmung der Uhren untereinander werden die Signale des GPS-Systems benutzt, die exakte Zeitstempel enthalten. Dies ist ein erprobtes und verlässliches Verfahren. Doch das im Inneren des Gran-Sasso-Massivs befindliche OPERA-Experiment muss hier eine weitere Schwierigkeit überwinden: Durch 1,4 Kilometer Fels lässt sich das GPS-Satellitensignal nicht direkt empfangen. Daher werden die GPS-Zeitsignale oberirdisch erfasst und als Laserpuls über ein Lichtleiterkabel ins Labor geschickt. Dieses Signal wird dort wieder in Zeitmarken umgesetzt und stellt damit die Laboruhren. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer: Das Lichtleiterkabel war nicht ordnungsgemäß in die Apparaturen eingeschraubt. Dadurch gelangt der Laserpuls leicht abgeschwächt an sein Ziel und die Laboruhr wird mit leichter Verzögerung gestellt. Die Hauptuhr des OPERA-Experiments ging dadurch ständig leicht nach. Der Unterschied beläuft sich auf rund 73 Nanosekunden, könnte also leicht den scheinbaren Vorsprung der Neutrinos erklären. Neben der falschen Uhrensynchronisation gab es jedoch noch ein weiteres Problem: Die Laboruhr lief mit der falschen Geschwindigkeit, und hätte die Neutrinos langsamer als Licht erscheinen lassen. Dieser Gangfehler hatte jedoch wenig Gewicht, da er sich nicht langfristig aufsummieren konnte. Die Neutrinomessungen wurden in kurzen Abschnitten von 0,6 Sekunden vorgenommen, nach denen die Uhr erneut synchronisiert wurde. Aus technischen Gründen erfolgte die Ankunft der Neutrinos stets zum Beginn des Messabschnitts und so spielte der Gangfehler nur eine untergeordnete Rolle. Die OPERA-Forscher konstruierten nun ein Modell, dass beide Effekte – die fehlerhafte Uhrensynchronisation und den Gangfehler – berücksichtigte und die beobachtete Anomalie erklären konnte.
Wie zeigten die Wissenschaftler nun, dass ihr Modell korrekt ist? Ein ebenfalls im Gran-Sasso-Labor befindliches Experiment mit dem Namen LVD kam zur Hilfe: Die Forscher ermittelten die Ankunftszeit natürlich vorkommender Myonen, die als Folge kosmischer Strahlung entstehen. Unter den richtigen geometrischen Umständen durchlaufen diese Teilchen erst den OPERA- und dann den LVD-Detektor. Deren Abstand und die Geschwindigkeit der Myonen sind präzise bekannt, so dass sich der zeitliche Abstand zwischen den Detektorpassagen berechnen lässt. Durch Messung dieser Laufzeit kann die relative Zeitdifferenz zwischen den Uhren der beiden Experimente unabhängig überprüft werden. Sind beide korrekt auf GPS synchronisiert, sollte kein Unterschied messbar sein. Doch die vermuteten Uhrenfehler bei OPERA sollten eine klare Handschrift hinterlassen. Die Auswertung von insgesamt 300 Myonen der vergangenen fünf Jahre zeigte genau den beschriebenen Effekt: die OPERA-Hauptuhr ist um rund 73 Nanosekunden relativ zum GPS-Standard verzögert, dazu kommt ein Gangfehler der verwendeten Uhr. Da die Myonen anders als die Neutrinos gleichmäßig verteilt innerhalb der 0,6 Sekunden langen Messintervalle auftraten, lässt sich der Gangfehler eindeutig bestimmen.
Einstein hatte Recht
Generell sind derartige Uhrenfehler kein Problem. Sind sie bekannt, so können die Forscher sie berücksichtigen und ihre Ergebnisse entsprechend korrigieren. Die nun erfolgte sorgfältige Arbeit der Forscher zeigt dies klar. Nach vorläufigen Berechnungen, so Matt Strassler in seinem Blog, kommen die OPERA-Wissenschaftler auf einen Unterschied von -1,7 ± 3,7 Nanosekunden zwischen beobachteten und (bei lichtschneller Ausbreitung) erwarteten Neutrino-Ankunftszeiten. Dieses Ergebnis ist konsistent mit der Ausbreitung mit Lichtgeschwindigkeit und steht in keinerlei Widerspruch zur Relativitätstheorie. Die Wissenschaftler des OPERA-Experiments werden weitere Tests durchführen, um ihr Verständnis der Messungen zu vervollständigen, bevor sie revidierte Ergebnisse präsentieren können.
Ein schaler Nachgeschmack
Im Rückblick wirft das Vorgehen der Wissenschaftler jedoch einige Fragen auf: Warum wurden die Ergebnisse öffentlich auf einer großen Pressekonferenz präsentiert, bevor alle möglichen Fehlerquellen des komplexen Experiments überprüft worden waren? Warum wurde die Pressekonferenz am CERN abgehalten, obwohl das Experiment nicht dort läuft? Das gewählte Vorgehen riskiert nicht nur die eigene Glaubwürdigkeit, sondern auch diejenige anderer Forscher und Experimente. Zwei führende OPERA-Wissenschaftler haben persönliche Konsequenzen gezogen und sind am 30. März 2012 zurückgetreten.
Die Episode lehrt auch wieder einmal, wie Wissenschaftler ihre Ergebnisse kommunizieren sollten: Sie müssen ihre Ergebnisse klar darstellen und unnötige Spekulationen unterlassen. Das Primärergebnis war eine Anomalie der Neutrino-Ankunftszeiten, nicht mehr und nicht weniger. Diese kann viele mögliche Ursachen haben, die meisten davon verschiedene Fehler im Experiment. Nur wenige Erklärungen sind Anzeichen neuer, unverstandener Physik. Dennoch zeigte das Medienecho, dass vor allem dieser Aspekt aufgegriffen wurde. Den Medien ist nicht zu verdenken, dass sie sich besonders interessante Aspekte herauspicken; doch die Wissenschaftler müssen dafür Sorge tragen, dass sie die harten Fakten klar abgegrenzt von möglichen Spekulationen darstellen.
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